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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.10.2018

Ernüchterung: Ganz unterhaltsam, aber es fehlt an Tiefe

Blutrausch - Er muss töten (Ein Hunter-und-Garcia-Thriller 9)
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Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Es ist trotz ihrer jahrelangen Erfahrung ein Schock für Hunter und seinen Partner Garcia, die beide auf UV-Morde, ultra gewalttätige Verbrechen, spezialisiert sind, als ...

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Es ist trotz ihrer jahrelangen Erfahrung ein Schock für Hunter und seinen Partner Garcia, die beide auf UV-Morde, ultra gewalttätige Verbrechen, spezialisiert sind, als sie den Tatort ihres neuesten Falles zum ersten Mal sehen. Ein junges Model wurde brutal getötet, ihre Leiche ist in einem schockierenden Zustand. Der Täter hat den Schauplatz nach seinen Wünschen umgestaltet und hinterlässt den ErmittlerInnen eine rätselhafte lateinische Nachricht. Offensichtlich sieht er sich als Künstler. Und gerade arbeitet er daran, seine persönliche Galerie des Grauens zusammenzustellen.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 einer Reihe
Verlag: Ullstein Taschenbuch Verlag
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus zahlreichen männlichen und weiblichen Perspektiven, auch aus der Perspektive des Mörders
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: - Wie so oft in Thrillern muss leider auch hier wieder eine Katze sterben (sie erfriert), um zu verdeutlichen, wie grausam der Killer ist. Das bin ehrlich gesagt langsam ein bisschen leid. Gut gefallen hat mir jedoch, wie empört die verschiedenen Figuren auf den Tod der Katze reagiert und dass sie viel Mitgefühl gezeigt haben. Wichtig ist mir, an dieser Stelle zu betonen, dass Katzen unbedingt immer mindestens zu zweit gehalten werden müssen, da sie KEINE Einzelgänger sind. Kleine Kätzchen und reine Wohnungskatzen alleine zu halten ist besonders grausam, da der Mensch einen Katzenfreund niemals ersetzen kann. Auf Dauer werden aufgrund von Einsamkeit dann oftmals Depressionen und Verhaltensstörungen wie Aggressivität und exzessives Kratzen an Möbeln entwickelt. Wer also seine Katze liebt, schenkt ihr einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Langsam habe ich es mich ja fast nicht mehr zuzugeben getraut, dass ich bisher noch keinen einzigen Carter gelesen hatte. Der Autor ist unter Thrillerfans sehr beliebt und es gibt einen regelrechten Hype um seine Bücher. Mit meiner „Bildungslücke“ in diesem Bereich, mit diesem dunklen, dunklen Geheimnis, wollte ich nun nicht mehr länger leben, daher habe ich mit dem neunten Band den Einstieg in die Reihe gewagt.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg ist mir sehr leicht gefallen. Bereits das erste Kapitel endet herrlich unheimlich und verursacht Gänsehaut. Danach begegnen wir Hunter, der vor einer Gruppe Studierender einen Vortrag über sein Berufsfeld hält, aber durch einen wichtigen Anruf unterbrochen wird und sich sofort zum Tatort aufmachen muss. Die ersten Seiten haben mich so neugierig gemacht, dass ich unbedingt weiterlesen wollte. Obwohl dieser Band meinen Reiheneinstieg darstellte, hatte ich keinerlei Verständnisschwierigkeiten. Es gibt zwar manchmal Anspielungen auf frühere Bände, jedoch hatte ich nie das Gefühl, dass mir wichtiges Vorwissen fehlt. Wer also auch überlegt, ob er in der Mitte der Reihe einsteigen kann, kann sich ganz beruhigt an seinen ersten Carter wagen.

Linda ist gerade dabei die Face-Swap-App an ihrem Kater auszuprobieren:
„Gleich darauf erschien ein erster roter Kreis um ihr Gesicht. Der zweite folgte wenig später – und als sie ihn sah, war ihre Brust auf einmal wie zugeschnürt, als hätte jemand einen Druckverband um ihr Herz festgezogen.
Die App hatte nicht Mr Boingos Gesicht markiert, sondern etwas im dunklen Türrahmen hinter ihr.“ Seite 9

Schreibstil (+/-)

Dem Schreibstil stehe ich zwiegespalten gegenüber. Chris Carter schreibt zwar sehr routiniert, flüssig, anschaulich und angenehm lesbar, jedoch kratzt er mir viel zu oft nur an der Oberfläche. Hier hätte ich mir detailliertere Schilderungen der Gefühle und Gedanken der Figuren gewünscht und generell mehr Tiefe. Mir ist auch nach den ersten Seiten aufgefallen, dass das Buch sehr dialoglastig ist, was zwar einerseits dazu führt, dass man es sehr schnell lesen kann, andererseits geht das leider auch zulasten der Tiefe. Gerätselt habe ich, warum man das halb übersetzte Wort „Promkönigin“ gewählt hat und nicht einfach das deutsche „Ballkönigin“. Hier sollte bedacht werden, dass viele Menschen nicht gut Englisch sprechen und dass solche Ausdrücke dann zu Frustration führen könnten.

„Seine Augenlider zuckten nicht einmal. Sie senkten sich nur wie schwere Jalousien, die am Ende eines sehr, sehr langen Tages heruntergelassen wurden.“ Seite 296

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Der Autor hat sich für dieses Buch einen interessanten Plot mit vielen Wendungen ausgedacht, der eine klassische Thrillerstruktur aufweist und zwar nicht mit Innovationen begeistert, mich aber insgesamt dennoch gut unterhalten konnte. So besonders und ungewöhnlich wie der Fall dargestellt wurde, fand ich (als erfahrene Thrillerleserin) ihn allerdings nicht. Sehr gut gefallen hat mir jedoch, dass vom Autor immer wieder interessante Fakten und Einblicke in die Ermittlungsarbeit eingewebt wurden. Der Showdown kurz vor dem Ende war sehr spannend und beinhaltete einige unerwartete Momente, bei denen ich gar nicht wusste, wie mir geschieht. Manche Aspekte am Ende waren erstaunlich unaufgeregt abgehandelt (hier hätte ich mir mehr erwartet), und natürlich ist der Schluss so geschrieben, dass die Neugier auf den Folgeband geweckt wird.

Besonders neugierig war ich, wie blutig Chri Carter tatsächlich schreibt, da ich von allen Seiten vorgewarnt wurde. Da ich gerne Horrorfilme ansehe, kann mich zwar nichts so schnell erschüttern, aber ich war natürlich trotzdem gespannt. Das Ergebnis: Ja, es gibt blutige, grausig geschilderte Stellen (der erste Schauplatz ist mit Sicherheit die größte Bewährungsprobe für sensible LeserInnen und empfindliche Mägen), aber diese halten sich doch weitgehend in Grenzen. Ich fand beispielsweise Karin Slaughters Schilderungen weitaus schockierender.

Leider fehlte mir auch bei der Behandlung der (wenigen) Themen wieder Tiefe. Viele Aspekte, die man sehr gut noch ausbauen hätte können, werden leider nur ganz kurz angeschnitten und dann nicht weiter ausgeführt. Ein guter Thriller muss aber meiner Meinung nach beides vereinen können: Spannung und Tiefe. Daher lässt mich dieser Aspekt ernüchtert zurück.

Dialoge (-)

Enttäuschend fand ich oft die Dialoge. Hier gab es mir zu viele Wiederholungen und zu viele sinnlose Fragen wie „Wie meinen Sie das?“, die das Buch künstlich strecken und den Spannungsaufbau hemmen. Auch die ständigen Sticheleien zwischen den Ermittelnden haben mich zunehmend genervt. Absolut unglaubwürdig fand ich die langsamen Schlussfolgerungen und Ermittlungserfolge der Polizisten und FBI-Agenten. Sehr oft verstand ich als Leserin schon lange vorher Zusammenhänge, die dann pathetisch und mit vielen Cliffhangern offenbart wurden. Daher klappt es natürlich oft auch nicht mit dem Überraschungseffekt und dem AHA-Moment. Ich verstehe zwar, dass man niemanden überfordern, sondern sicherstellen will, dass die LeserInnen folgen können, aber die Darstellung der Ermittelnden hat für mich einfach viel ruiniert. Auf mich wirkten sie sehr inkompetent und unglaubwürdig – und wenn das wirklich schon das Beste ist, was Polizei und sogar FBI zu bieten haben, dann gute Nacht!

Protagonist & Figuren (-)

Auch der Protagonist und die meisten anderen Figuren (Timothy ist hierbei beispielsweise eine Ausnahme) konnten mich nicht vollkommen überzeugen. Hunter fand ich zwar nett, und ich mochte seine ruhige, besonnene Art und seine schlauen Schlussfolgerungen, aber ich konnte absolut keine Bindung zu ihm und zu den meisten anderen Personen aufbauen, obwohl ich mich sehr bemüht habe. Dazu fehlte mir einfach Tiefe in Bezug auf die Gefühls- und Gedankenwelt. Die Figuren erschienen mir blass, eindimensional und austauschbar. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass die Geschichte aus so vielen verschiedenen Perspektiven erzählt wurde (was mich aber eigentlich überhaupt nicht gestört hat, weil es sehr gut gemacht war) oder daran, dass der Großteil der Charakterarbeit (die Hauptfigur betreffend) schon in den vorherigen Bänden steckt.

Manche Figuren waren mir leider auch unsympathisch, zum Beispiel fand ich die Zankereien zwischen der bissigen Agent Fisher und dem kindischen und provokanten Partner Garcia einfach nur nervig. Auch gab es kaum Charakterentwicklung, was mich ebenfalls enttäuscht hat. Wer von der Charakterzeichnung in diesem Buch ebenfalls nicht begeistert war und Lust auf einen Thriller hat, der atemlose Spannung mit großen Emotionen und liebevollster Figurenzeichnung kombiniert, dem kann ich nur die Thrillerreihe von Daniel Cole empfehlen, besonders „Hangman“.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Auch in diesem Bereich gab es Aspekte, die mich überzeugen konnten und Dinge, die mich enttäuscht zurückgelassen haben. Zuerst zum Positiven: Ich fand das Buch niemals langweilig, meine Neugier war eigentlich konstant hoch, ich wollte immer und durchgehend wissen wie es weitergeht. Ein Pageturner war es trotzdem nicht, weil die Spannung, (vermutlich auch durch die langwierigen Dialoge) immer wieder einbricht. Es gibt zwar schon einige absolut unerwartete Wendungen, die mich wirklich unvorbereitet trafen, und gekonnt platzierte Cliffhanger, jedoch hat der Autor es meiner Meinung nach bei Letzteren teilweise übertrieben. Beinahe jedes Kapitel endet mit solch einem Cliffhanger, manchmal wirken sie gewollt, fast parodistisch (als würde der Autor das Genre satirisieren) und erinnerten an Clickbait im Internet. Hier wäre also weniger meiner Meinung nach manchmal doch mehr gewesen.

„Die Fotos von Kristine Rivers hatten Hunter, Garcia und Captain Blake vielleicht überrascht – die Bilder des zweiten Opfers jedoch versetzten ihnen regelrecht einen Schock.“ Seite 145

„‘Was ist denn das?‘
Trotzdem schnitt er weiter, bis er den Brustkorb des Toten komplett geöffnet hatte.
Er traute seinen Augen nicht.
‚Das ist doch … unmöglich.‘“ Seite 254

Geschlechterrollen (♥)

Auch wenn im Verhältnis der Geschlechter etwas mehr Männer im Buch vorkommen als Frauen, finde ich den Umgang des Autors mit modernen Frauenrollen (bis auf einen kleine Szene in einem Restaurant, in dem bei der Toilettenbeschilderung angedeutet wird, dass Frauen starke Getränke nicht vertragen würden) wunderbar. Es gibt im Buch ein selbstbewusstes, erfolgreiches Model, eine starke, mutige FBI-Agentin, die sich nichts gefallen lässt (gut, hier hat der Autor ein bisschen übertrieben) und zahlreiche Frauen in hohen Führungspositionen. Sie sind Leiterinnen verschiedener polizeilicher oder rechtsmedizinischer Abteilungen, Hochschuldozentinnen, intelligent, kompetent und stark. Dafür ein großes Lob!

Mein Fazit

Insgesamt habe ich mir vom berühmten, gefeierten Chris Carter doch etwas mehr versprochen. „Blutrausch – Er muss töten“ konnte mich zwar insgesamt gut unterhalten, aber leider nicht ganz überzeugen. Das lag vor allem an der Oberflächlichkeit und der mangelnden Tiefe bei der Behandlung der Themen, bei den Figuren, beim Protagonisten und beim Schreibstil. Ein detaillierterer Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt der manchmal leider auch unsympathischen Charaktere hätte es mir sicher leichter gemacht, eine emotionale Bindung zu ihnen aufzubauen. Leider waren auch die langwierigen Dialoge (voller Sticheleien und banalem Geplänkel) oft anstrengend zu lesen. Die Leistungen der angeblich besten Ermittler der Polizei und des FBI fand ich dürftig, enttäuschend und unglaubwürdig, die Personen wirkten auf mich teilweise sehr inkompetent (wenn man als Laie schneller Schlussfolgerungen treffen kann, ist das besorgniserregend!). Obwohl ich den Hype also nicht nachvollziehen kann, fand ich meinen ersten Carter insgesamt durchaus interessant und unterhaltsam und habe auch viele gute Ansätze gesehen. Deshalb werde ich dem Autor mit Sicherheit noch eine Chance geben und nun am besten mit dem ersten Teil beginnen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Worldbuilding: 2,5 Sterne
Ausführung: 3 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Dialoge: 2,5 Sterne
Protagonist: 2,5 Sterne
(Neben)Figuren: 2 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Ende: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2 Sterne
Geschlechterrollen: ♥

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3 knappe, ernüchterte Lilien!

Veröffentlicht am 13.08.2018

Spannungsarmer, verstörender Endzeitroman, der mich insgesamt leider enttäuscht hat

Anna
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Spoilerfreie Rezension

Inhalt

In der Welt der 13-jährigen Anna und ihres Bruders Astor gibt es keine Erwachsenen. Eine aggressive Seuche hat vor vier Jahren alle Menschen ab der Pubertät ausgelöscht ...

Spoilerfreie Rezension

Inhalt

In der Welt der 13-jährigen Anna und ihres Bruders Astor gibt es keine Erwachsenen. Eine aggressive Seuche hat vor vier Jahren alle Menschen ab der Pubertät ausgelöscht – und sie wütet noch immer. Auf Sizilien herrscht Anarchie, die Kinder sind auf sich gestellt, Krankheit und Tod stehen an der Tagesordnung. Die Heldin tut alles in ihrer Macht Stehende, um ihren Bruder zu beschützen und auf die Zukunft vorzubereiten, denn Anna weiß, dass auch ihre Zeit bald gekommen ist. Oder stimmen etwa die Gerüchte, dass es irgendwo noch „Große“ gibt, die ein Heilmittel gefunden haben?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Eisele
Seitenzahl: 336
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich aus weiblicher Perspektive, selten auch aus männlicher
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: -! Dieses Buch ist für empathische Menschen und Tierliebhaber nur sehr schwer zu ertragen – mehr dazu im Abschnitt „Inhalt“.

Warum dieses Buch?

Für dystopische Geschichten bin ich immer zu haben, denn die Themen, die in Endzeitwerken typischerweise besprochen werden, finde ich sehr interessant. Zudem hat mich das enthusiastische Lob verlockt, das das Buch, welches in Italien monatelang auf der Bestsellerliste stand und von der Financial Times zu einem der besten Bücher des Jahres gewählt wurde, bereits erhalten hatte.

Meine Meinung

Einstieg (+/-)

Den Prolog fand ich sehr atmosphärisch beschrieben, er hat mich sofort neugierig gemacht. Die ersten Seiten des ersten Kapitels jedoch fand ich dann jedoch zäh, auch wegen der Gewalt gegen Tiere. Die Geschichte kommt nur sehr langsam in Schwung und ich habe lange gebraucht, bis ich wirklich in der Geschichte angekommen war.

„Sie kämpften, doch irgendwann kapierten ausnahmslos alle, dass es vorbei war, als hätte der Tod persönlich es ihnen ins Ohr geflüstert.“ E-Book, Position 759

Schreibstil (+/-)

Das lag zu einem großen Teil wohl auch am Schreibstil. Niccolò Ammaniti präsentiert den LeserInnen oft lange Rückblenden, erzählt die Vergangenheit seiner Figuren oft in einem detaillierten „ab ovo“-Stil. Man erfährt Dinge, die weit in der Vergangenheit liegen, wie das Kennenlernen der Eltern und die Herkunftsgeschichte des Hundes. Immer wieder haben mich diese Rückblenden aus dem Lesefluss gerissen, in den ich ohnehin das ganze Buch über nur schwer hineinfand. Das lag mit Sicherheit auch daran, dass das Buch nur sehr wenige Dialoge enthält und sich meist auf lange Alltags- und Umgebungsbeschreibungen und Annas einsame Wanderungen zur Essenbeschaffung konzentriert.

Dem Schreibstil an sich stehe ich sehr zwiegespalten gegenüber. Einerseits ist er in seinen glänzenden Momenten anschaulich, angenehm, flüssig, emotional und sogar poetisch zu lesen, andererseits zeichnet er sich auch immer wieder durch wenig Tempo und Emotion und eine irgendwie schwer zu beschreibende Sperrigkeit/Holprigkeit aus, die es mir schwer gemacht hat, mitzufiebern und schnell voranzukommen. Obwohl keine schwierigen Worte verwendet wurden und die Sprache an sich nicht wirklich anspruchsvoll ist (einmal davon abgesehen, dass meiner Meinung mehr italienische Begriffe übersetzt oder erklärt werden hätten müssen, da man damit als Nichtsprecherin der Sprache nur wenig anfangen kann und Google bemühen muss), musste ich häufig ganze Absätze erneut lesen, weil ich immer wieder gedanklich ausgestiegen bin und mich nicht konzentrieren konnte.

„So viel Zeit war vergangen, doch wenn Anna daran dachte, war ihre Sehnsucht so stark, dass es ihr vorkam, als fiele sie in ein Loch und käme nicht wieder hinaus.“ E-Book, Position 605

„Anna konnte die Gedanken schier sehen, die dem Pechvogel mit dem Mantel durch den Kopf gingen. Schnurgerade einer nach dem anderen, wie die Waggons eines langsamen, ratternden Zugs.“ E-Book, Position 1606

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Dem Guardian kann ich leider nicht zustimmen, wenn er über dieses Buch schreibt: „Ammaniti setzt neue Maßstäbe in post-apokalyptischer Literatur.“ Im Gegenteil, ich hatte eher das Gefühl, dass es sich hier um eine Geschichte handelt, die wie ein Puzzle aus vielen (mir schon) bekannten Endzeitaspekten zusammengesetzt wurde. Innovativ fand ich den Plot also nicht, da typische Themen wie Essensbeschaffung, Einsamkeit, Überleben und moralische Aspekte im Mittelpunkt stehen. Jedoch bringt der Autor durchaus auch einige eigene, interessante Ideen ein, beschreibt eindrucksvoll den moralischen Verfall in einer Welt ohne Erwachsene und Regeln, in der der Stärkere siegt. Dennoch gibt es auch Hoffnungsschimmer am Horizont, wie etwa Momente der Lebensfreude, das Aufblitzen von Hoffnung, wenn etwas Schwieriges geschafft wurde, und Szenen voller Empathie, Liebe und Freundschaft. Das Ende fand ich, wenn auch etwas traurig (obwohl ich es schon erwartet hatte), sehr gelungen. Trotz der jungen Protagonistin handelt es sich hier für mich übrigens eindeutig um kein Jugendbuch.

In seinen Schilderungen beschönigt der Autor nichts, egal ob es um die Beschreibungen der Zustände in den Häusern oder der Leichen geht. In diesem in drei Teile geteilten Buch wird wie im echten Leben ohne pompöse Heldenmomente still und leise gestorben, und Ammaniti hält wie ein grausamer Kameramann immer ganz genau drauf, wenn es richtig hässlich wird. Aus diesem Grund ist das Buch eine schwer zu verdauende Lektüre. Mancher Moment brennt sich ins Gedächtnis und liegt einem noch Stunden oder Tage schwer im Magen, weil man immer noch damit hadert. Für diese Leistung ist der Autor ohne Frage zu loben, denn das schafft nicht jede/r. Besonders schwer zu ertragen fand ich die ausufernde Gewalt gegen Tiere, die Tierquälereien und das Töten. Oft handelt es sich um Verteidigungskämpfe gegen wilde Tiere oder es wird für Nahrung getötet. Dennoch waren diese Beschreibungen für mich unerträglich. Besonders wütend gemacht hat mich der leicht humorvolle Ton bei der Beschreibung davon, wie ein Kampfhund auf grausame Weise „ausgebildet“ wird. Dieses Thema ist meiner Meinung nach überhaupt nicht witzig, und am liebsten hätte ich alleine aufgrund des Tier(schutz)aspektes das Buch mehrmals abgebrochen. Der Autor hat es meiner Meinung nach einfach übertrieben mit seiner Darstellung vom tierischen Leid.

„Ihr Leben war dasselbe wie das einer Kakerlake, die nicht anders kann, als sich auf zwei Beinen weiterzuschleppen, wenn jemand auf sie tritt. Dasselbe, das eine Schlange dazu veranlasst, unter den Schlägen einer Hacke davonzukriechen, ihre Eingeweide hinter sich herziehend. […] Wir müssen weitermachen, ohne zurückzublicken, weil wir die Energie, die uns durchdringt, nicht beherrschen können, und selbst verzweifelt, verstümmelt und blind ernähren wir uns weiter, schlafen und schwimmen gegen den Strudel an, der uns nach unten zieht.“ E-Book, Position 1935

Figuren (+/-)

Vielleicht lag es auch am stellenweise nüchternen Schreibstil, der mir stellenweise zu wenig vom Gefühlsleben und der Gedankenwelt der Figuren preisgibt, aber es gelang mir über weite Teile des Buches nicht, wirklich eine Verbindung zu den Figuren aufzubauen. Sie blieben weit von mir entfernt, die Distanz zu ihnen konnte erst im letzten Fünftel ein wenig überbrückt werden. Prinzipiell mochte ich Anna aber, die sich stets bemüht, ihren Bruder zu beschützen, und die gleichzeitig mit typisch pubertären Stimmungsschwankungen und Gefühlsausbrüchen zu kämpfen hat. Mir hat gefallen, dass die Heldin des Buches, Anna, eine Figur mit Fehlern, Ecken und Kanten ist.

Wenn man so wenige Gefühle für die Figuren entwickelt, dass sie einem eigentlich egal sind, ist es natürlich schwer, ihrer Geschichte voller Interesse zu folgen und mitzufiebern. Obwohl es durchaus gute Ansätze und starke Momente gibt und obwohl der Autor sich bemüht, seinen Figuren eigene Persönlichkeiten zu geben, so hat die Figurenzeichnung bei mir nicht so funktioniert, wie sich das Niccolò Ammaniti wahrscheinlich gewünscht hätte. Meine Lieblingsfigur – und die einzige, für die ich wirklich durchgehend gehofft und gebangt habe – war interessanterweise Coccolone (wer das genau ist, möchte ich hier nicht verraten, um nicht zu spoilern). Bin ich da eigentlich die Einzige, oder ist es noch jemandem so ergangen?

„Sie war mit ihrem Bruder aufgewachsen, wie ein Baum um einen Stacheldraht wächst, die beiden waren miteinander verschmolzen und eins.“ E-Book, Position 2248

Spannung & Atmosphäre (-)

Es gab durchaus atmosphärische Momente, in denen Endzeitstimmung und eine sehr unheilvolle Stimmung aufkamen, jedoch zeichnete sich das Buch für mich hauptsächlich durch seinen ausgeprägten Spannungsmangel aus. Ich habe mich wirklich über weite Teile durch die Seiten gequält und überlegt, ob ich das Buch abbrechen soll. Bis etwa zum letzten Fünftel kam ich wirklich nur sehr langsam und zäh voran. Der dünne Plot ist mit Sicherheit auch daran schuld. Manchmal schien es mir eher, als wolle der Autor den Alltag von Anna und Astor beschreiben, anstatt eine richtige Geschichte mit Handlung, Anfang und Ende zu erzählen. Dennoch gibt es zwischendurch auch unerwartete Wendungen und sehr spannende, geradezu nervenzerreißende Momente, in denen man ängstlich weiterliest – vor allem weil man schnell merkt, dass der Autor keinerlei Hemmungen hat, auch liebevoll erschaffene Figuren gnadenlos zu töten. Im Nachhinein bereue ich es jedoch auch nicht, durchgehalten zu haben (es ist eines dieser Bücher, die einem im Nachhinein besser gefallen als während des Lesens).

Geschlechterrollen (+/-)

Anna ist eine sehr selbstbewusste junge Frau, die sich nichts gefallen lässt. Sie kämpft wie eine Löwin für Astors und ihr Leben, ist mutig und stark. Manche Szenen fand ich etwas unglaubwürdig und seltsam, besonders in Bezug darauf, dass die Geschichte von einem Mann geschrieben wurde. Da dachte ich mir dann: Das würde doch im echten Leben nicht passieren. Traurig fand ich auch den sexuellen Übergriff, auch wenn ich denke, dass dies in einer derart gefährlichen Welt durchaus passieren kann. Gestört hat mich, dass Anna, als eine andere Person zur Gruppe stößt, sofort das Saubermachen und Kochen übernimmt, vermutlich einfach, weil sie eine Frau ist. Hier hätte ich mir ein stärkeres Hinterfragen von stereotypen Rollenmustern gewünscht, vor allem, da diese in Annas Welt so ja eigentlich nicht mehr existieren. Auch in einzelnen Rückblenden sind Geschlechterstereotypen vorhanden, eine Verwendung des Wortes Schla*** gibt es auch. Insgesamt sind diese Dinge aber großteils zu verschmerzen, weil der Autor eine so starke weibliche Figur ins Zentrum seiner Geschichte gesetzt hat.

Mein Fazit

„Anna“ ist ein schwer zu verdauender Endzeitroman, von dem ich mir aufgrund des Lobes viel erwartet habe, der mich aber leider insgesamt enttäuscht hat. Die Geschichte behandelt die üblichen Themen wie Essenbeschaffung, Moral und Überleben und bietet nur wenig Neues. Auch wenn „Anna“ durchaus seine poetischen, emotionalen, tristen, nervenzerreißenden und spannenden Momente hat, wurde ich sowohl mit dem sperrigen Schreibstil, der nichts beschönigt und uns Annas Welt in ihrer ganzen Grausamkeit zeigt, als auch mit den Figuren leider nur schwer oder gar nicht warm. Sehr gestört haben mich zudem die ausufernde Gewalt gegen Tiere und der Mangel an Spannung, was beides dazu führte, dass ich mehrmals überlegt habe, das Buch abzubrechen. Im Nachhinein bereue ich jedoch nicht, durchgehalten zu haben, auch wenn mir so manche Szene noch länger schwer im Magen liegen wird. Dafür gibt es an dieser Stelle noch ein Lob, denn das schafft bei mir (einer schon relativ abgehärteten Walking-Dead-Liebhaberin) nicht jede/r Autor/in.

Ob ich noch etwas vom Autor lesen werde, ist noch nicht entschieden.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Worldbuilding: 3,5 Sterne
Ausführung: 3 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Ende: 5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2,5 Sterne
Geschlechterrollen: +/-

Insgesamt:

❀❀❀

Dieses Buch bekommt von mir 3 insgesamt leider enttäuschte Lilien!

Veröffentlicht am 07.07.2018

Ernüchterung - Buch mit Stärken und Schwächen, Hype nicht nachvollziehbar

Children of Blood and Bone
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Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Orïsha blühte früher vor Leben und Magie. Doch irgendwann wurde dieses Geschenk der Götter von einigen gierigen Magiern missbraucht. König Saran setzte ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Orïsha blühte früher vor Leben und Magie. Doch irgendwann wurde dieses Geschenk der Götter von einigen gierigen Magiern missbraucht. König Saran setzte daraufhin alles daran, auch die letzten Maji zu vernichten. Doch durch einen Zufall fällt Zélie eine magische Rolle in die Hände, und auf einmal scheint es möglich, dass sie gemeinsam mit ihrem Bruder und der aus dem Königshaus fortgelaufenen Prinzessin die Magie zurückbringen kann. Doch wird Zélie es rechtzeitig schaffen? Mächtige Feinde sind der kleinen Reisegruppe jedenfalls dicht auf den Fersen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 der „Children of Blood and Bone“-Reihe, der Folgeband soll 2019 erscheinen
Verlag: FISCHER FJB
Seitenzahl: 624
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens & Präteritum
Perspektive: abwechselnd aus weiblicher und männlicher Perspektive (Inan, Amari, Zélie) Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: -/+ Fische werden gefangen und gegessen, Großkatzen, die als Reittiere genutzt werden, sterben einen grausamen Tod im Krieg und in Schlachten. Gleichzeitig aber auch sehr liebevoller Umgang der Figuren mit ihrem Reittier Nailah, das auch immer wieder gerettet und nie zurückgelassen wird.

Warum dieses Buch?

Das Buch der noch sehr jungen nigerianisch-amerikanischen Autorin Tomi Adeyemi umrankt bereits jetzt ein riesiger Hype in den USA, neuartig und bereichernd sollte es sein – mit einer wichtigen Message. Die Geschichte wird bereits verfilmt. Für mich eine unwiderstehliche Ausgangslage, die natürlich mehr als neugierig machte!

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg gelingt einfach und angenehm, was zum Teil auch am Schreibstil liegt. Am Anfang war ich vom Weltenentwurf sehr begeistert, auch die Figuren mochte ich auf Anhieb. Die Vorfreude stieg.

„‘In jener schicksalhaften Nacht kannte König Saran kein Erbarmen‘, fährt Mama Agba fort. ‚Er nutzte die Hilflosigkeit der Maji und schlug zu.‘“ E-Book, Position 284

Inhalt, Themen & Botschaften (+/-)

Die frische Grundidee und die erfundene magische Welt der Autorin sind sehr vielversprechend. Zudem fand ich die afrikanischen Einflüsse und die Mythologie sehr interessant und habe gerne über die verschiedenen Traditionen, über die Sprache und über die einzelnen Gottheiten und Gaben gelesen. Über das eine oder andere Klischee, über teilweise fehlende Tiefe, über Szenen oder Handlungsmotive, die man so schon hundertmal in anderen Werken gelesen hat, sollte man allerdings hinwegsehen können, wenn man mit dieser Geschichte ein paar schöne Stunden erleben möchte.

Die Message, die der Geschichte zugrunde liegt, konnte mich dafür absolut überzeugen. Es gibt Parallelen zur heutigen Realität (leider!), aber auch zu den dunkelsten Kapiteln der Menschheit. Die Wut, die beim Lesen spürbar wird, wird hinten im Buch durch Anmerkungen der Autorin erklärt. Mit allem, was sie sagt, hat sie ohne Zweifel recht, und der Abschluss des Buches, ihr Appell an die Menschheit, Ungerechtigkeiten nicht einfach hinzunehmen und wegzuschauen, löst (im Gegensatz zu den knapp 600 Seiten davor) Gänsehaut aus:

„[…] doch dieses Buch soll eine Aufforderung sein, Unrecht nicht einfach hinzunehmen. […] Wir alle sind Kinder von Blut und Bein.
Und genau wie Zélie und Amari haben wir die Macht, etwas gegen das Böse in unserer Welt zu tun.
Viel zu lange sind wir in die Knie gezwungen worden.
Erheben wir uns.“ E-Book, Anmerkung der Autorin, Position 7400

Etwas problematisch zu sehen ist die Brutalität des Buches, die empfindsame Jugendliche ab 14 Jahren überfordern könnte. Hier werden Menschen verbrannt, gefoltert, eiskalt ermordet. Auch wenn die Geschichte fiktional ist, könnte man davon ableiten, dass eine gesellschaftliche Veränderung nur mit Gewalt möglich ist. Als schwierig betrachte ich auch die Tatsache, dass schlimmste (selbst ausgeübte) Gewalt viel zu schnell verziehen wird und auch die Folgen nicht ausreichend thematisiert werden. Andererseits befinden sich die Maji (mit Magie beschenkte Menschen) im offenen Krieg, für sie geht es um Leben und Tod. Die Brutalität und die vielen Kollateralschäden sind so zumeist (nicht immer) in gewisser Weise verständlich.

Schreibstil (+/-)

Der Schreibstil ist prinzipiell gut gelungen. Er ist sehr einfach und flüssig zu lesen, ist anschaulich, enthält treffende, schöne Vergleiche und schafft es wundervoll, dass die Emotionen der Figuren bei den LeserInnen auch ankommen. Für die vielen unbekannten Wörter hätte ich mir jedoch ein Glossar gewünscht, da ich mehrmals Worte in einer Suchmaschine nachgeschlagen habe, weil einige nicht ausreichend erklärt wurden. Positiv aufgefallen ist mir, dass bei den Reittieren standartmäßig das generische Femininum verwendet wurde. Vor allem Letzteres ist durchaus als revolutionär zu betrachten.

Jedoch hat die eigentlich angenehme Sprache auch ihre Schwächen. Zum einen wirkt der temporeiche Schreibstil, der beinahe nur aus Hauptsätzen und Hauptsatzreihen besteht, immer wieder unruhig und abgehackt. Auch hat man das Gefühl, dass man dem jugendlichen Zielpublikum eigentlich viel mehr zutrauen könnte. Und zuletzt war ich sehr genervt über die ständigen Ausrufe „Ihr Götter!“ und „Ihr Himmel!“. Leider wurden diese Ausrufe derart überstrapaziert, dass ich nicht verstehe, warum die Wiederholungen nicht vom Ursprungsverlag ausgemerzt wurden. Ich war jedenfalls davon sehr genervt.

ProtagonistInnen, Figuren & Beziehungen (+/-)

Auch hier gab es bei mir gemischte Gefühle: Prinzipiell sind die Figuren gut gelungen, erhalten ihre Stärken und Schwächen und haben alle ihr kleines Päckchen an Sorgen und finsterer Vergangenheit zu tragen. Jedoch konnte ich die Handlungen der Figuren nicht immer nachvollziehen, manchmal fehlte sowohl hier als im Grundgerüst der Geschichte die Logik. Beispiel: Ständig wird die Zeit, in der die HeldInnen einen wichtigen Ort erreichen können, praktischerweise nach hinten verschoben. Ständig heißt es dann: Wenn wir JETZT losgehen, können wir noch rechtzeitig dort sein. Und warum nimmt man sich die Zeit, noch gemütlich einem Fest beizuwohnen, wenn einem gefährliche Feinde auf den Fersen sind, wenn es um jede Minute geht und wenn von einem die Rettung des ganzen Volkes abhängt? Tja, ich weiß es auch nicht! Fragt am besten Zélie und ihre Gefährten.

Zudem sind die Figuren nicht immer sympathisch. Zélie kann bisweilen sehr impulsiv (dabei dumm) und gemein sein, bringt durch ihr Verhalten einmal sogar ein ganzes Dorf in größte Gefahr (Stichwort: unlogischen Verhalten), verzeiht einem attraktiven Jüngling ziemlich schnell, dass er unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hat. Über Inan möchte ich am liebsten gar nicht reden. Er war schwer greifbar und austauschbar, seine ständigen Meinungsänderungen haben mich fast in den Wahnsinn getrieben. Diese Antipathie, die sich zwar bei Zélie immer mehr legte, war vermutlich auch der Grund dafür, dass ich nicht so mitfühlen und mitfiebern konnte, wie ich wollte. An manchen Stellen war mir egal, was mit den Figuren passierte, ich hätte leider nicht mit der Wimper gezuckt, wenn sie gestorben wären.

Interessanterweise konnten mich die Nebenfiguren oft viel mehr begeistern. Sie erschienen mir dreidimensionaler und weniger formelhaft. Wundervoll fand ich beispielsweise den mysteriösen Roën – hier hätte ich sehr gerne noch viel mehr erfahren.

Love is in the Air (-)

Die Entwicklung der zentralen Liebesgeschichte (die zweite Lovestory fand ich glaubwürdiger) ging mir trotz einiger durchaus gelungener (aber auch klischeehafter) Szenen viel zu schnell und sendet fragwürdige Botschaften an die junge Leserschaft. Richtiges Kribbeln habe ich nicht gespürt, auch wenn sich die Autorin ohne Frage viel Mühe gegeben hat. Aber die ganzen Toten, die der Love Interest auf seine Schultern geladen hatte, konnte ich (im Gegensatz zu manchen anderen Leuten) dann doch nicht ganz vergessen.

Spannung & Atmosphäre (-)

Hier bin ich zwiegespalten, auch wenn die negativen Aspekte für mich überwogen haben. Einerseits gibt es durchaus sehr spannende Stellen, tolle, actionreiche Kämpfe und manche unerwartete Wendung, andererseits ist vieles eben auch sehr vorhersehbar, viele Wendungen können daher (trotz gut gesetzter Cliffhanger) nicht überraschen. Das letzte Viertel des Buches war wieder spannend, hier konnte ich das Buch dann auch schwerer aus der Hand legen, aber vor allem im Mittelteil zog sich die Geschichte für mich sehr. Ich bin nur sehr langsam und weitergekommen, hätte stellenweise am liebsten abgebrochen. Weniger Seiten, weniger kleine Höhepunkte (die Autorin hat sich sehr viel für ihre Geschichte vorgenommen) und mehr große, die ordentlich aufgebaut werden, hätten dem Buch ohne Frage gutgetan.

Geschlechterrollen (♥)

Hier kann die Geschichte ohne Frage punkten. Die Autorin benutzt das generische Femininum –die männlichen Tiere sind großzügigerweise mitgemeint. Zudem sind die Frauenfiguren sehr rebellisch, kriegerisch und stark. Sie lassen sich absolut nichts gefallen, wehren sich, sind frech und wild und mutig. So muss das in einem Jugendbuch sein (Vorbildwirkung!). Und: Die Männer, die oft doch noch recht klassisch dargestellt werden (Krieger, Sportler, hart, versuchen, die Mädchen zu beschützen), dürfen immerhin weinen. Dafür gibt es einen dicken Pluspunkt!

„Mut kann im Verborgenen wachsen, sagte sie damals. Tapferkeit in der Dunkelheit erblühen.“ E-Book, Position 342

Mein Fazit

„Children of Blood and Bone“ ist ein Debüt mit vielen guten Ansätzen und viel Potential, das jedoch leider nicht so genutzt werden konnte, wie ich mir das gewünscht hätte. Der Schreibstil ist einfach, aber auch abgehackt, die diversen Figuren sind prinzipiell gut ausgearbeitet, aber auch klischeehaft, teilweise unsympathisch und handeln stellenweise sehr unlogisch. Die Liebesgeschichte besitzt zwar durchaus ihre schönen Momente, sendet aber durch die Vorgeschichte der Liebenden eine mehr als fragwürdige Botschaft an die jungen LeserInnen. Was die Spannung betrifft, war das letzte Viertel sehr gelungen, in der Mitte kam ich jedoch nur sehr langsam und zäh voran. Positiv fand ich die Message der Autorin, ihren Aufruf, endlich bei Ungerechtigkeiten nicht mehr tatenlos zuzusehen und das frische, magische, afrikanisch beeinflusste Worldbuilding. Auch mit den starken Frauenfiguren und der Verwendung des generischen Femininums (zumindest bei den Rittlingen) konnte das Buch bei mir punkten. Daher mein Urteil: „Children of Blood and Bone“ ist ein Buch mit Stärken und Schwächen, das aus einem wichtigen Antrieb heraus geschrieben wurde und eine wichtige Botschaft enthält. Den Hype kann ich aber leider nicht verstehen.

Ob ich den Folgeband lesen werde, ist noch nicht entschieden. Sehr gespannt bin ich allerdings auf die Verfilmung.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Worldbuilding: 4,5 Sterne
Ausführung: 3 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
ProtagonistInnen: 3 Sterne
Nebenfiguren: 4 Sterne
Atmosphäre: 3,5 Sterne
Spannung: 2,5 Sterne
Liebesgeschichten: 2-3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2-3 Sterne
Geschlechterrollen: ♥

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3 ernüchterte Lilien!

Veröffentlicht am 11.11.2023

Zuerst passiert nichts und dann alles auf einmal…

Burn Our Bodies Down
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Für Margot gab es immer nur sie und ihre (toxische) Mutter. Doch als sie ein Foto findet, das Aufschluss über ihre familäre Herkunft gibt, macht sie sich alleine auf ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Für Margot gab es immer nur sie und ihre (toxische) Mutter. Doch als sie ein Foto findet, das Aufschluss über ihre familäre Herkunft gibt, macht sie sich alleine auf den Weg ins verschlafene Phalene. Schon am Tag ihrer Ankunft bricht dort allerdings ein Brand aus und eine Leiche wird gefunden, die genau so aussieht wie sie. Warum ist ihre Mutter damals weggelaufen? Was lauert in Phalene? Ist Margot in Gefahr?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang

Inhaltswarnung: Tod, Gaslighting, toxische Eltern-Kind-Beziehung, Gewalt, Blut, Schwangerschaft, Gewalt (auch gegen Kinder), Feuer, Body-Horror, Abtreibung
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: ---

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- (extreme) Slow-Burn-Geschichten
- starke, komplexe Frauenfiguren im Zentrum
- Kleinstadt-Setting
- Familiengeheimnisse
- Mystery
- leichter Body-Horror
- enthält Gore (Blut, Tod, Brutalität)
- toxische Familie

Meine Rezension

“Ich bin es gewohnt, mein Leben um leere Stellen herum aufzubauen, um verschlossene Türen und unbeantwortete Fragen.“ Seite 170

Da mich Rory Power mit ihrem letzten Buch („Wilder Girls“) gut unterhalten konnte, war die Entscheidung schnell getroffen, dass ich mehr von ihr lesen wollte. Der Klappentext und der Titel von „Burn Our Bodies Down“ haben mich dann auch sofort neugierig gemacht – weil beides so vage gehalten war und ich keinerlei Vermutung hatte, worum es gehen könnte. Auch der perfekte Zeitpunkt für die Lektüre stand bald fest: der Spuktober. Wie könnte es auch anders sein?

„So ist das bei mir: Wie Wut sitzt zusammengerollt in meiner Brust, bis der kleinste Funke den Docht in Brand steckt.“ Seite 193

Nun fragt ihr euch bestimmt: Konnte mich auch Rory Powers zweites Buch wieder überzeugen? Hat es sich vielleicht sogar den Titel „Jahreshighlight“ verdient? Hier muss ich euch leider ebenso enttäuschen, wie „Burn Our Bodies Down“ mich enttäuscht hat. Für mich war es nämlich deutlich schwächer als „Wilder Girls“, sodass es gerade einmal für nett gemeinte 2,5 Sterne reicht.

Dabei gab es durchaus wieder Dinge, die mir sehr gut gefallen haben. Die Grundidee und Themen (Familie, Herkunft, Erwachsenwerden, Emanzipation, toxische Eltern-Kinder-Beziehungen, Gaslighting) sind beispielsweise wieder super: kreativ, erfrischend und ungewöhnlich. Die Geschichte hatte also definitiv Potential. Schade, dass die Autorin das nicht ausschöpfen kann! Auch aus feministischer Sicht gibt es hier absolut nichts zu meckern: Uns Leser:innen erwarten nämlich erneut starke, komplexe („schwierige“) Frauenfiguren (männliche Charaktere spielen nur Nebenrollen) und „casual queerness“ (die Protagonistin ist lesbisch, was aber nur am Rande erwähnt wird). Der Schreibstil lässt mich hingegen zwiegespalten zurück – in manchen Momenten fand ich ihn sehr atmosphärisch und eindringlich, in anderen haben mich die vielen gleichen, etwas uninspiriert wirkenden Satzanfänge (Ich, Ich, Ich, Ich) und die oft unwichtigen Details (die viele Szenen unnötig in die Länge zogen) eher gestört und genervt.

„Der Mais ist bis an den Rand der Einfahrt herangekrochen, golden und knisternd wiegt er sich im Wind. Ich denke, er ist tot – der Farbe nach zu urteilen muss er tot sein –, dennoch scheint er weiterzuwachsen.“ Seite 106

Leider gab es aber auch zwei große Schwächen, die meine Sterne-Bewertung stark nach unten gedrückt haben. Erstens ist das das arg misslungene Pacing, also das Erzähltempo und die Handlungsdichte. Wer das Buch mochte, wird es mit (seeehr) viel Wohlwollen als „slow burn“ bezeichnen, aber für mich fühlte es leider so an, als würde auf den ersten 250 Seiten so gut wie nichts passieren (ich bin fast eingeschlafen) und dann auf den letzten 50 Seiten alles auf einmal (man weiß gar nicht, wie einem geschieht). Ich musste mich jedenfalls immer wieder aktiv zwingen, weiterzulesen – Lesespaß sieht anders aus. Von Horror erwarte ich einfach mehr – eine durchgehend unheimliche Atmosphäre, Gänsehautmomente, einen überzeugenden Spannungsbogen.

Zweitens sind mir leider auch einige Logikfehler aufgefallen. Zum Beispiel war für mich das Verhalten der Figuren in manchen Momenten überhaupt nicht nachvollziehbar. Da gab es eine Szene, in der die Leiche eines Mädchens in einem Feld gefunden wird – und statt ihren Puls zu fühlen, ehrlich betroffen zu sein und zu schauen, ob es noch etwas zu retten gibt, starten die 2 Dorfpolizisten einfach mitten in diesem Feld ein knallhartes Verhör. Und während dieser unpassenden, taktlosen Befragung ignorieren einfach alle Anwesenden die Leiche, die da neben ihnen im Dreck liegt. Gleichzeitig war ich entsetzt und musste schmunzeln, denn realistisch geht anders.

Dazu kommt, dass die weiblichen Hauptfiguren zwar auf ihre Weise interessant und durchaus komplex sind, dass sie aber das ganze Buch über sehr wenig greifbar bleiben und leider auch alles andere als sympathisch gezeichnet sind. Sie haben alle eine gewissen Grausamkeit im Umgang mit anderen an sich und ich möchte mit keiner dieser Frauen befreundet sein. Dadurch stellte sich in mir irgendwann das Gefühl ein, dass die sich schon alle gegenseitig verdient haben, und es fiel mir schwer, mit ihnen mitzufühlen und mitzufiebern. Nach „Burn Our Bodies Down“ bin ich mir unsicher, ob ich Rory Power noch eine Chance geben soll.

Mein Fazit

Das Beste an „Burn Our Bodies Down” sind leider der coole Titel und das schöne Cover. Inhaltlich konnte mich das Buch leider trotz guter Ansätze (Grundidee, Fokus auf „schwierige“ weibliche Figuren, gelungenes Ende) nicht überzeugen. Dafür war es mir zu langatmig, zu wenig gruselig, zu unlogisch, zu distanziert (Figurenzeichnung). Für eine Leseempfehlung reicht es deshalb leider (bei weitem) nicht. Wenn ihr euch ordentlich gruseln wollt, greift doch stattdessen zu „Dark Inside“, „Horrid“, „Bird Box“ oder „The Ending“!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 5 Sterne ♥
Idee: 4 Sterne
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Umsetzung: 2,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 2 Stern
Ende: 3 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Protagonistin: 3 Sterne
Figuren: 2,5 Sterne
Spannung: 2 Stern
Tempo: 1 Stern
Wendungen: 3 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 5 Sterne ♥
Einzigartigkeit: 4 Sterne

Insgesamt:

☆★,5 Sterne

Dieses Buch bekommt von mir zweieinhalb Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.08.2023

2,5 Sterne: Gute Ansätze, aber leider zu oberflächlich, unglaubwürdig und sexistisch!

Bruch: Ein dunkler Ort
0

Achtung: Die Rezension enthält leichte Spoiler!

Inhalt

In der Nähe von Dresden wird ein 12-jähriges Mädchen vermisst. Der einzige Anhaltspunkt: Vor zwei Jahren ist das schon einmal geschehen, doch ...

Achtung: Die Rezension enthält leichte Spoiler!

Inhalt

In der Nähe von Dresden wird ein 12-jähriges Mädchen vermisst. Der einzige Anhaltspunkt: Vor zwei Jahren ist das schon einmal geschehen, doch nach zwei Wochen tauchte Linda, das andere Mädchen, augenscheinlich unversehrt wieder auf – und über das, was ihr passiert ist, schweigt sie noch immer. Für Nicole Schauer ist es der erste Fall nach der Versetzung. Ausgerechnet dem seltsamen, psychisch auffälligen Bruch wird sie zugeteilt, der vor kurzem bei einem Unfall seinen Partner verloren hat. Schnell wird allerdings klar, dass beide ihr Päckchen zu tragen haben…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 von (aktuell) 2
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis sehr lang

Inhaltswarnung: Tod von Menschen, Leichen, Blut, (sexualisierte) Gewalt (bis Vergewaltigung, Verharmlosung von Vergewaltigung), Sexismus, Misogynie, psychische Krankheiten, Traumata, Drogenmissbrauch, Alkohol, Medikamente, Rassismus
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schl+mpe, Fo+++, Nu+++

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen (dieser Abschnitt ist inspiriert von @sassthxtic auf Lovelybooks):

- dialoglastige Bücher
- knapper Schreibstil
- Fokus auf (psychische) Probleme und Innenleben der Ermittelnden
- Dorfsetting
- Herbst und Regenwetter
- vermisstes Kind
- Polizeiarbeit

Meine Rezension

„Doch [Bruch] starrte nur, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Oder auf Stand-by, um Akku zu sparen.“ Seite 51

Bei „Bruch – Ein dunkler Ort“ (Band 1) haben mich die ersten Seiten der Leseprobe sofort angesprochen. Ohne viele Erwartungen und ohne eine einzige Rezension gesehen zu haben, wurde von mir schnell entschieden, diesen Krimi lesen zu müssen. Nun fragt ihr euch sicher: War das im Nachhinein betrachtet eine gute Entscheidung? Antwort: Leider nein, da mich das Buch insgesamt leider enttäuscht bzw. streckenweise sogar ziemlich aufgeregt hat.

Wie immer sollen zuerst die Stärken dieses Kriminalromans hervorgehoben werden. Prinzipiell gut gefallen (vor allem in der ersten Hälfte) hat mir der knappe, schnörkellose, ellipsenhafte Schreibstil, der sich wirklich nur auf die wichtigen Dinge fokussiert und jede Form von Ausschmückung konsequent weglässt. Das war einmal etwas anderes und hat durchaus einen gewissen Charme. Dabei ist die Sprache trotzdem noch anschaulich genug und enthält neben lebendigen, gelungenen Dialogen und einer Prise Humor auch die eine oder andere schöne, düstere Stelle – besonders wenn die psychischen Probleme von Bruch näher beschrieben werden. Auch die Grundidee (den Fall und die Auflösung) und den Fokus auf das Innenleben des ermittelnden Duos mochte ich. Noch ein Hinweis am Rande: Katzen bitte niemals alleine halten, das ist nicht artgerecht und macht sie unglücklich!

„Welches war seine wahre Natur, fragte er sich an guten Tagen. Die, die zutage kam, wenn er die Tablette ausließ, oder dieser Zustand, der eintrat, wenn er sie nahm?“ Seite 65

Leider hat mich das Buch auch in vielen Punkten enttäuscht. Vor allem die stümperhafte, schlechte Polizeiarbeit überzeugt nicht. Bruch, der immer wieder als eine Art „wahnsinniges Genie“ dargestellt wird, und Schauer stolpern zufällig von einer Situation und Befragung in die nächste – ein System oder einen Plan sucht man hier vergeblich. Jede Hobbydetektivin, jeder von uns Leser:innen, würde das besser machen als dieser inkompetente Haufen von Hauptkommissar:innen, Vorgesetzten (der Chef besitzt überhaupt keine Führungskompetenzen und lässt sich auf der Nase herumtanzen) und Beamt:innen. Man kann nur hoffen, dass man niemals im Leben auf DIESE Art von Polizei angewiesen ist…

Zum Beispiel wird von einer ganzen Gruppe Polizist:innen ein großes Gebäude DREIMAL durchsucht – scheinbar aber extrem schlampig, halbherzig und ohne Hunde, denn es wird nichts gefunden, OBWOHL es dort etwas Wichtiges etwas zu finden gibt. Zudem haben Schauer und Bruch, die Hauptfiguren, obwohl sie durchaus sympathisch sind, meiner Meinung nach im Polizeidienst nichts verloren (und das meine ich gar nicht böse), sondern würden eher in Krankenstand und Therapie gehören. Bruch ist traumatisiert, leidet (wahrscheinlich) unter Schizophrenie, nimmt Psychopharmaka (aber unregelmäßig), die ihm von einer unbekannten Person per Post zugeschickt werden (?), hat abwechselnd heftige Halluzinationen oder überhaupt keine Gefühle, hält sich nicht an Absprachen mit dem Chef, macht, was er will. Und Schauer hat ein Aggressionsproblem, fuchtelt ständig mit ihrer Pistole herum, schießt einfach drauflos, wenn sie im Dunkeln Angst bekommt, schlägt ständig Verdächtige und Zeugen. Bitte nicht falsch verstehen: Ich liebe es, wenn Ermittler:innen in Krimis Menschen mit Ecken und Kanten und ihren Problemen sind – aber das war einfach too much und dadurch unglaubwürdig!

„Diese unnötigen Worte und Handlungen, als besteige er jede Stunde einen steilen Berg, der nichts bot außer Kälte und Nebel, keine Aussicht, keine Erholung.“ Seite 200

Durch den knappen Schreibstil bleibt die ganze Geschichte zudem sehr an der Oberfläche, was man aber erst nach und nach bemerkt. Einerseits stehen die psychischen Probleme der zwei Hauptfiguren total im Fokus, wodurch der Fall an sich in den Hintergrund gerät, was sich wiederum negativ auf Spannung und Tempo auswirkt. Andererseits wird einem das ganze Buch über die Karotte vor die Nase gehalten, was Bruchs Geheimnisse betrifft, Antworten gibt es aber bis zum Ende trotzdem so gut wie keine. Das fand ich sehr frustrierend. Die bekommt man dann wohl erst in Band 2, was wohl als Anreiz dienen soll – ja… nein, danke.

„Die alten Geräte und Traktoren, am Tag nichts als Rosthaufen, wirkten bedrohlich, als lauerte etwas in ihnen, als bewegten sie sich selbst, veränderten ihre Position.“ Seite 138

Mein Hauptproblem waren aber die verinnerlichte Misogynie und der mal mehr, mal weniger subtile Sexismus, die das ganze Buch durchziehen, was dem Autor scheinbar aber überhaupt nicht bewusst ist! Die starke Hauptfigur Schauer, die mit ihrem aggressiven Verhalten immer wieder Geschlechterstereotype bricht, kann diese Schwächen leider nicht aufwiegen. Nur ein paar Beispiele: Da wird gesagt, eine Jugendliche (!) sei wie ein Flittchen angezogen, es wird angedeutet, dass sie eine Mitschuld an der Täterschaft eines anderen Schülers trüge, weil sie ihm einen „lockeren Umgang mit dem weiblichen Geschlecht“ vermittle, eine klare Vergewaltigung (mit Penetration durch Finger) wird als s+xuelle Belästigung verharmlost, statt den Missbrauch eines Kindes so zu nennen, wird von einer Mutter gesagt, das Mädchen werde von seinem Vater gef+ckt, eine Polizistin (!) fragt, ob eine 12-Jährige den möglichen Täter nicht vielleicht doch „gei+ gemacht“ hätte.

Dazu kommt, dass es hier in einer Szene so dargestellt wird, als wären ihre Brüste alles, was eine Frau ausmacht, alles, was zählt. So entscheidet sich eine Brustkrebsüberlebende gegen eine Amputation, weil es für sie unvorstellbar ist, dass irgendein normaler Mann (außer einem „Ökoweltversteher“ natürlich) sie s+xuell anziehend finden könnte, wenn sie „keine Ti++en“ habe. Welches Bild vermittelt diese unsensible Szene denn bitte? Wie müssen sich Frauen, denen ihre Brüste abgenommen wurden, beim Lesen dieser Sätze fühlen? Man merkt einfach, dass es dem männlichen Autor hier überhaupt nicht gelingt, sich in die Lebensrealität einer Frau hineinzuversetzen. Von Frank Goldammer würde ich mir wünschen, dass er mal seine männlichen Privilegien hinterfragt und sich bis zu Band 3 (sollte es einen geben) mehr Bewusstsein für verinnerlichte Misogynie und Sexismus aneignet. Dass psychisch Kranke immer wieder als „Irre“ bezeichnet werden, die „Tabletten fressen“, ist übrigens ganz nebenbei auch nicht gerade nett und wertschätzend. Für mich endet hier jedenfalls der Ausflug in Goldammers Welt – auf noch mehr davon habe ich nämlich überhaupt keine Lust!

Mein Fazit

Trotz der guten Grundidee, des interessanten Falls und des flüssigen Schreibstils hat mich der Reihenauftakt „Bruch – Ein dunkler Ort“ insgesamt leider enttäuscht. Das lag vor allem an der unglaubwürdigen, schlechten Polizeiarbeit, den von zu vielen und zu starken Problemen betroffenen Ermittler:innen (wodurch die Spannung und der Fall an sich zu kurz kommen) und dem Sexismus und der Misogynie, die das ganze Buch mehr oder weniger subtil durchziehen. Eine Leseempfehlung gibt es deshalb nicht von mir. Da draußen gibt es nicht nur bessere, sondern auch zeitgemäßere, feministischere Krimis – lest lieber die!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 5 Sterne ♥
Idee: 4 Sterne
Inhalt, Themen, Botschaft: 2,5 Sterne
Umsetzung: 2,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Ende: 3,5 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Protagonist:innen: 3,5 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Tempo: 2 Sterne
Wendungen: 4 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 2 Sterne
Einzigartigkeit: 2 Sterne

Insgesamt:

☆★,5 Sterne

Dieses Buch bekommt von mir zweieinhalb Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere