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Veröffentlicht am 03.11.2018

Zwei Wochen im Herbst '68

Die Tote im Wannsee
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Berlin im Herbst 1968. Der Alltag in der Metropole ist ordentlich durcheinander geschüttelt. Die Mauer teilt die Stadt in zwei Hälften, aus ganz Deutschland werden Neubürger mit Kopfprämien in die Hauptstadt ...

Berlin im Herbst 1968. Der Alltag in der Metropole ist ordentlich durcheinander geschüttelt. Die Mauer teilt die Stadt in zwei Hälften, aus ganz Deutschland werden Neubürger mit Kopfprämien in die Hauptstadt gelockt, die Studenten protestieren gegen Springer und den Vietnamkrieg, haben ihrerseits aber auch Opfer in den eigenen Reihen zu beklagen. Benno Ohnesorg wird erschossen und auf Rudi Dutschke, den Wortführer der Protestbewegung, wird ein Attentat verübt. APO und SDS sind die Reizwörter für die Springer-Presse, die mit ihren Artikeln die „normalen“ Bürger aufhetzen.

Die Gesellschaft ist einmal mehr im Umbruch. Das Wirtschaftswunder und der Generationswechsel nach dem Krieg in Politik, Lehre und Wirtschaft hat de facto nicht stattgefunden. Es sind noch immer die gleichen grau-braunen Eminenzen, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Korrupte Politiker, alte Nazis, dubiose Geschäftemacher. Und natürlich die Stasi, die auch im Westteil der Metropole ihre Spitzel sitzen hat.

Soweit der zeitliche Rahmen und gesellschaftspolitische Hintergrund für „Die Tote im Wannsee“, den ersten Kriminalroman des Trios Lutz, Kellerhof (beides Journalisten) und Wilhelm (Autor und Produzent), wobei letzterer Krimi-/Thriller-Lesern wahrscheinlich kein Unbekannter ist.

Die Krimihandlung wird durch den Leichenfund einer jungen Frau am Ufer des Wannsee eingeläutet. Wolf Heller, der junge sympathische Kommissar, momentan in Bereitschaft beim Kriminalreferat M, wird zum Fundort beordert und mit den Ermittlungen beauftragt. Die Recherchen ergeben, dass es sich um eine kleine Angestellte in der Kanzlei des Rechtsanwalts Horst Mahler handelt, was nun aber nicht weiter beachtenswert wäre. Wären da nicht die 12.000 DM auf ihrem Sparbuch, die Heidi Gent, zweimalige Mutter und mit einem Trinker verheiratet, unmöglich zur Seite gebracht haben kann. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden, aber als seine Vorgesetzten Heller nahelegen, den Fall abzuschließen, wird er misstrauisch und schaut noch einmal genauer hin. Er verbeißt sich regelrecht in den Fall und je tiefer er gräbt, desto mehr Schmutz schaufelt er nach oben. Geheimnisse, Lügen und Politik – es ist letztendlich dieses Dreigestirn, das Hellers Ermittlungen zum Erfolg führt.

Bei diesem Kriminalroman fällt als erstes das Zeitkolorit ins Auge. Da wird die politische Situation im 68er Berlin mit Bezügen zu realen Personen thematisiert, es gibt Gastarbeiter, die genannten Zigaretten- und Automarken rufen Erinnerungen wach, und der ermittelnde Kommissar Heller hat kein schickes Apartment, sondern wohnt bei Paula, einer alleinerziehenden Mutter, zur Untermiete (und sein außergewöhnliches Geburtstagsgeschenk für sie ist ein gebrauchter Schwarz-Weiß-Röhrenfernseher, über den ihre Zwillinge in Verzückung geraten). Für mich in hohem Maße authentisch.

Mir fällt zu diesem Kriminalroman nur ein Wort ein: Gelungen, zumindest was, wie zuvor schon thematisiert, die zeitliche Einordnung sowie die sich daraus ergebende, spezielle geografische Verortung angeht. Wenn man mit Berlin einigermaßen vertraut ist, kann man durch detaillierte Orts- und Wegbeschreibungen Heller durch die Metropole folgen.

Die Story an sich ist gut geplottet, tritt aber meiner Meinung nach etwas in den Hintergrund, was mit Sicherheit dadurch bedingt ist, dass die Autoren ihren Schwerpunkt auf die zeitgeschichtlichen Aspekte gelegt haben. Für mich kein Manko, ich liebe Krimis, die mir neben einer spannenden Handlung auch etwas über die gesellschaftspolitischen Hintergründe verraten. Deshalb gibt es von mir für „Die Tote im Wannsee“ auch die volle Punktzahl!

Und wer mit den im Buch genannten Begriffe nichts anfangen kann: am Ende gibt es ein umfassendes Glossar mit ausführlichen Erläuterungen.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Eine satte Milieustudie

Glorreiche Ketzereien
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Cork. Hafenstadt im Süden Irlands. Bischofssitz. Erzkatholisch. Lisa McInerney erzählt in ihrem Erstling „Glorreiche Ketzereien“ von Menschen am Rand der Metropole. Von unten. Aus der Sozialbausiedlung. ...

Cork. Hafenstadt im Süden Irlands. Bischofssitz. Erzkatholisch. Lisa McInerney erzählt in ihrem Erstling „Glorreiche Ketzereien“ von Menschen am Rand der Metropole. Von unten. Aus der Sozialbausiedlung. Sie erzählt von Familien, von Erwartungen, von Reue und der Suche nach Erlösung. Von dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Von den Auswirkungen der Religion auf die irische Gesellschaft.

Zwei Personen dominieren den Roman, dessen Handlungszeitraum sich über starke fünf Jahre erstreckt: Maureen, knapp sechzig, Mutter des lokalen Gangsterbosses Jimmy „JP“ Phelan, erst seit kurzem wieder zurück in Cork. Als junge Frau von ihrer Familie nach der Geburt eines unehelichen Kindes nach London abgeschoben. Nicht ohne ihr vorher das Neugeborene wegzunehmen. Die voll Wut auf alles ist, was mit der Kirche zu tun hat. Die einem Einbrecher mit einem „Heiligen Stein“ den Schädel einschlägt und so eine unheilvolle Spirale in Gang setzt.

Und Ryan Cusack, guter Schüler, talentierter Klavierspieler, aber auch ältester Sohn von Tony, einem alleinerziehenden Vater von sechs Kindern, einem Säufer, Kleinkriminellen und Handlanger von JP, der seinen Ältesten misshandelt. Ryan, der sich nichts sehnlichster wünscht, als gesehen zu werden. Den eine große Liebe mit Karine, dem Mädchen aus der Mittelschicht, verbindet, die ihn zu verschlingen droht. Der zu einem wütenden jungen Mann heranwächst. Der aus den richtigen Gründen die falschen Entscheidungen trifft. Der eine Gefängnisstrafe verbüßen muss. Der aus den falschen Gründen die richtigen Entscheidungen trifft und so, zumindest auf Zeit, ein Leben rettet, dem aber sein eigenes Leben nichts wert ist.

Für den Fortgang der Handlung sind außerdem noch bereits erwähnter Gangsterboss, eine jungen Prostituierte sowie die unsympathische Nachbarin der Cusacks von Bedeutung. Jeder hat mit jedem zu tun und greift auf die eine oder andere Art und Weise in deren Leben ein.

Eine satte Milieustudie sind diese „Glorreichen Ketzereien“, aber auch ein Roman über das Erwachsenwerden unter schwierigsten Umständen. Plus dazugehörige Love-Story. Aber auch eine Abrechnung mit der Bigotterie der Kirche und der irischen Gesellschaft: „Die Kirche will Macht, mehr als alles andere, die Macht über alles Lebende. Die Kirche hat ein Ideal, und sie merzt alles aus, was sich dem in den Weg stellt. Die Kirche braucht blinde Hingabe…sie alle machen da mit. Ihnen ist eine Klasse zugeteilt worden, und an die klammern sie sich. Die Kirche schafft sich ihre Sünder, damit sie jemanden hat, den sie retten kann.“ Aber was geschieht mit denen, die nicht gerettet werden wollen?

McInerney nimmt kein Blatt vor den Mund. Sei es die Sprache oder auch die Themenfelder, die sie beackert. Schnappt euch das Buch und lest es, ihr werdet es nicht bereuen. Denn unter den Neuerscheinungen 2018 ist Lisa McInereys Debüt ein „Diamond in the Rough“!

Übrigens gibt es im Original bereits den Folgeband „The Blood Miracles“, in dem wir Ryan Cusack Wege weiterverfolgen können. Ich freue mich darauf.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Bis mir das Fleisch gehackt ist von den Knochen...

Macbeth
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Der neue Thriller des Norwegers Jo Nesbø ist Teil des Hogarth Shakespeare Projekts, einer Reihe, in der international bekannte Autoren die Werke des englischen Klassikers „entstauben“, auf das Wesentliche ...

Der neue Thriller des Norwegers Jo Nesbø ist Teil des Hogarth Shakespeare Projekts, einer Reihe, in der international bekannte Autoren die Werke des englischen Klassikers „entstauben“, auf das Wesentliche reduzieren und neu interpretieren. Nesbø hat sich für eine Neuerzählung von „Macbeth“ entschieden, der Tragödie aus dem Jahr 1606, die den Aufstieg und Fall des königlich-schottischen Heerführers beschreibt.

Er verlegt die Handlung in eine nasse, dreckige, heruntergewirtschaftete, dystopisch anmutende Industriestadt der siebziger Jahre, die geprägt ist von Drogenhandel, Gang-Kriminalität und Gewalt (vermutlich hatte er dabei Glasgow vor Augen, die damalige Verbrechenshauptstadt im Norden Großbritanniens). Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden, weil selbst die diejenigen, die für deren Einhaltung sorgen sollten, die Seiten gewechselt haben. Nicht so Inspector Macbeth, der als ehemaliger Drogenabhängiger weiß, welch verheerende Auswirkungen die Sucht haben kann. Anfangs noch seiner Mission verpflichtet, in der Unterwelt aufzuräumen und die Drogengangs zu zerschlagen, erwacht in ihm allmählich die Gier nach Macht und Einfluss, eine verheerende Kombination, die ihm von seiner Geliebten eingeflüstert wird. Um aber an die Spitze zu gelangen, muss er erst diejenigen verdrängen, die es sich dort oben gemütlich gemacht haben. Und dazu ist ihm jedes Mittel recht…

Nesbø und ein Shakespeare-Stoff, geht das? Ich hatte so meine Zweifel, wurde aber eines Besseren belehrt. Man sollte nur nicht den Fehler machen, den vorliegenden Thriller mit den Büchern der Harry Hole-Reihe zu vergleichen. „Macbeth“ ist wesentlich schwärzer, dreckiger, und auch in Sachen Brutalität legt er hier noch eine Schippe drauf – ganz so, wie wir es von klassischen Noir-Thrillern gewohnt sind. Dabei verliert er jedoch nie das Original aus den Augen. Und wer damit vertraut ist oder die Vorlage kennenlernen möchte, wird Shakespeare ganz bestimmt zukünftig aus einem anderen Blickwinkel betrachten – falls er/sie dazu durch Jo Nesbøs Neuinterpretation angeregt wurde.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Hinter verschlossenen Türen

Kampfsterne
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…lauern die familiären Abgründe. Der schöne Schein trügt, die Vorstadt-Idylle hat Risse. Außen hui und innen pfui. Alexa Hennig von Lange hält mit dem Brennglas unbarmherzig darauf und zeigt das dysfunktionale ...

…lauern die familiären Abgründe. Der schöne Schein trügt, die Vorstadt-Idylle hat Risse. Außen hui und innen pfui. Alexa Hennig von Lange hält mit dem Brennglas unbarmherzig darauf und zeigt das dysfunktionale Familienleben der ach so intakten Keimzelle der Gesellschaft: Der erfolgreiche Architekt, der seine Frau vor den Augen der Kinder verprügelt und in finanzieller Abhängigkeit hält. Die Nachbarin, bei der sie sich nach den Prügelattacken ausheult. Die sich zu ihr hingezogen fühlt. Die ihren eigenen Mann verabscheut und ihre Kinder mit so viel emotionaler Distanz betrachtet, dass es fast schon weh tut. Die sich ihr Leben mit ordentlich Rum schon am Nachmittag schön, oder besser gesagt erträglich trinkt. Kinder, die ihre Eltern verachten, und Eltern, die es längst aufgegeben haben, ihren Kindern eine unbeschwerte Kindheit zu bieten.

„Kampfsterne“ soll/will die Familienverhältnisse Mitte der achtziger Jahre portraitieren, der Generation nach 68, die doch alles besser machen wollte, aber dennoch in den alten Strukturen verharrt. Finanzielle Sicherheit ist gegeben in der Vorstadtsiedlung, aber die Emotionen, das Miteinander sind auf der Strecke geblieben. Alle Protagonisten kreisen nur um sich und ihre Befindlichkeiten, es fehlt ihnen an Empathie und Distanz. An Reflexionsvermögen oder auch an dem Willen dazu. Gefangen in tradierten Rollen. Jeder einzelne ist für sich allein. Die Träume sind geplatzt, bleibt nur zu hoffen, dass es die nachfolgende Generation besser machen wird.

Das schonungslose Portrait einer Generation. Ein Buch, bei dem jede Zeile schmerzt.

Veröffentlicht am 28.10.2018

Ein Blick zurück

Black Hand
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Joseph Petrosino ist ein Pionier. Der erste Polizist, der sich dem organisierten Verbrechen in New York in den Weg stellt. Unter Police Commissioner Theodore Roosevelt, später 26. Präsident der Vereinigten ...

Joseph Petrosino ist ein Pionier. Der erste Polizist, der sich dem organisierten Verbrechen in New York in den Weg stellt. Unter Police Commissioner Theodore Roosevelt, später 26. Präsident der Vereinigten Staaten, kämpft er nicht nur gegen die italienische Mafia sondern auch gegen die Korruption in den eigenen Reihen. Zahlreiche Bücher und Filme widmen sich diesem Ausnahmepolizisten, und "Black Hand", das neueste Werk aus der Feder des Journalisten Stephan Talty erzählt dieses Stück amerikanischer Kriminalgeschichte:

New York, Anfang 20. Jahrhundert. Die erste Welle der italienischen Einwanderer hat sich in ihrem Leben in der Fremde eingerichtet. Die einen arbeiten hart, um sich ihren Traum vom Leben in Freiheit und Wohlstand zu erfüllen, die anderen schließen sich zu kriminellen Vereinigungen zusammen und erpressen von ihren Landsleuten Gelder im großen Stil. Und dabei ist ihnen jedes Mittel recht. Selbst vor Kindern machen sie nicht halt, ein Leben zählt nichts für sie. Die am meisten gefürchtete Organisation der italienischen Mafia ist die "Black Hand".

Talty startet seinen Rückblick mit einem Fall, der den Leser mitten in deren skrupelloses Treiben katapultiert: Willi Labarbera, der fünfjährige Sohn italienischer Einwanderer, verschwindet spurlos. Doch dann kommt eine Lösegeldforderung, 5.000 Dollar wollen die Entführer, alles, was die Familie besitzt. Unterzeichnet ist der Brief mit dem Siegel der "Black Hand", der berüchtigten mafiösen Geheimgesellschaft. Die Labarberas wissen sich nicht zu helfen, kontaktieren die Polizei, und Joseph Petrosino nimmt sich des Falls an.

Petrosino, ebenfalls Kind einer italienischen Einwandererfamilie, will mehr von seinem Leben als seinen Unterhalt mit Schuhputzen zu verdienen. Er muss früh erfahren, dass die Italiener ganz unten auf der Skala stehen, was die gesellschaftliche Akzeptanz angeht. Nicht nur die Amerikaner verachten sie, nein, auch die irischen Immigranten, die sich speziell an der Ostküste und auch in New York bereits gemütlich eingerichtet haben, blicken verächtlich auf sie herab und machen ihnen das Leben schwer. Aber Petrosino lässt sich davon nicht abhalten und versucht das menschenmögliche, um die Lebensbedingungen seiner Landsleute zu verbessern, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und dazu gehört es für ihn, die "Black Hand" Mobster unschädlich zu machen. Diesem Ziel widmet er mit einer wahren Besessenheit sein Leben. Und er ist äußerst gut in dem, was er tut. Auch wenn es ihm schlussendlich nicht gelungen ist, den Sumpf trockenzulegen.

Manchmal schreibt dann doch das Leben die spannenderen Geschichten als die Fiktion. Talty schildert sehr anschaulich zum einen die Lebensbedingungen der italienischen Einwanderer, die Widerstände, gegen die sie ankämpfen müssen, zum anderen lässt er seine Leser äußerst präzise an der Polizeiarbeit Petrosinos und dessen Truppe teilhaben.

Amerikanische Kriminalgeschichte gepaart mit True Crime. Äußerst informativ. Spannend erzählt, vollgepackt mit Informationen, ermöglicht der Autor dem Leser den Blick in eine Zeit, in der die Mafia in New York noch in den Kinderschuhen steckt.