Profilbild von Havers

Havers

Lesejury Star
offline

Havers ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Havers über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.11.2018

Bitte nicht um Gnade

Der Kormoran
0

Der schwedische Autor kennt sich aus in Russland, das er im Zuge seines Russisch-Studiums zum einen mehrmals bereist hat, zum anderen, weil er für seine Abschlussarbeit dort auch über einen längeren Zeitraum ...

Der schwedische Autor kennt sich aus in Russland, das er im Zuge seines Russisch-Studiums zum einen mehrmals bereist hat, zum anderen, weil er für seine Abschlussarbeit dort auch über einen längeren Zeitraum lebte (Anfang/Mitte der neunziger Jahre) und so die politischen Umwälzungen hautnah miterleben konnte. Er schreibt also nicht aus dem hohlen Bauch heraus, sondern verarbeitet in seinem Politthriller Eindrücke, die er aus dieser Zeit mit nach Hause genommen hat.

Worum geht es? „Der Kormoran“ ist Band 1 und der Auftakt einer geplanten Trilogie, in deren Zentrum Max Anger, schwedischer Ex-Militär und Russland-Experte bei Vektor, steht. Wir schreiben das Jahr 1996, es ist die Zeit vor den russischen Präsidentschaftswahlen, in denen das zarte Pflänzchen Demokratie auf den Prüfstand gestellt wird. Auf der einen Seite Jelzin, als erster demokratisch gewählter Präsident, maßgeblich an der Auflösung der Sowjetunion beteiligt, auf der anderen Seite Sjuganow, Vertreter der Stalinisten, die alles daran setzen, zu den alten Verhältnissen zurückzukehren. Der schwedische Thinktank Vektor beobachtet und analysiert von Stockholm aus die Lage. Gleichzeitig ist Anger mit seiner eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Nach dem Tod seiner Mutter versucht er herauszufinden, warum sein Vater einen solch großen Hass auf Russland hatte. Als jedoch seine Freundin Paschie, ebenfalls bei Vektor beschäftigt, spurlos verschwindet und ein Hackerangriff auf das schwedische Mobilfunknetz stattfindet, packt Anger die Koffer und macht sich auf gen Osten, nicht wissend, dass ihn die Suche nach Paschie mit mächtigen Feinden, aber auch mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontieren wird.

Österdahl verknüpft ein seinem Erstling sehr geschickt das schwedisch-russische Verhältnis im Kalten Krieg mit aktuellen Ereignissen (bezogen auf die neunziger Jahre), wobei der familiäre Hintergrund seiner Freundin eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Die Handlung an sich ist komplex und fordert einiges an Konzentration von dem Leser, wobei es der Autor dem Leser allerdings durch kursiv gesetzte Einschübe und eine klare Sprache nicht gar so schwer macht. Natürlich verwendet er das bekannte Elemente des klassischen Politthrillers: es sind die typischen Vertreter der alten Denke, denen die Annäherung an den Westen äußerst suspekt ist und die die alten Zustände mit aller Macht und allen Mitteln wiederherstellen wollen und dabei über Leichen gehen. Hat mich aber weiter nicht gestört, denn Österdahl bekommt das wesentlich eleganter als beispielsweise Clancy hin.

„Der Kormoran“ ist ein solider Politthriller, spannend und mit Tempo erzählt, der interessante Einblicke in die jüngere russische Geschichte gewährt.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Über die Brüchigkeit der Existenz

So also endet die Welt
0

Sommer in Finnland. Urlaubszeit, für viele Familien die schönste Zeit des Jahres. Für andere eine Zeit, in der sie sich durch die Loslösung vom Alltag und die erzwungene Nähe intensiver miteinander beschäftigen ...

Sommer in Finnland. Urlaubszeit, für viele Familien die schönste Zeit des Jahres. Für andere eine Zeit, in der sie sich durch die Loslösung vom Alltag und die erzwungene Nähe intensiver miteinander beschäftigen können/müssen. Oft aber auch für den einzelnen eine Zeit der Reflexion, wie sie der finnische Autor Philip Teir in seinem neuen Roman „So also endet die Welt“ beschreibt.

Die Mittdreißiger Julia und Erik machen mit ihren Kindern Alice und Anton Urlaub in dem Ferienhaus, das sie schon seit ihrer Kindheit kennt (später reisen noch Julias Eltern sowie Eriks Bruder an). Auf den ersten Blick eine ganz normale Familie, der zweite Blick offenbart die brüchigen Strukturen innerhalb dieser kleinen Gruppe. Erik, der Informatiker, hat Angst davor, seine Arbeitsstelle zu verlieren. Wer soll denn dann dafür sorgen, dass Geld hereinkommt? Er wird den Job verlieren, es aber aus Scham gegenüber seiner Familie verschweigen und Trost im Alkohol suchen. Julia konnte zwar einen erfolgreichen Roman verkaufen, hat seither aber wegen einer Schreibblockade kein Wort mehr zu Papier gebracht. Sie fühlt sich allein. Als sie den unbeschwert lockeren Alltag der Kommune/WG im Nachbarhaus beobachtet, in der ihre Jugendfreundin mit Mann, Kind und diversen Aussteigern lebt, sehnt sie sich nach den Zeiten zurück, in denen sie ihr Leben ungebunden und ohne Verpflichtungen leben konnte. Alice erlebt ihre erste Liebe mit dem Nachbarsjungen. Alex merkt tief drinnen, dass die unbeschwerten Tage der Kindheit sich dem Ende zuneigen und sucht seinen Platz. Aber auch im Nachbarhaus ist nicht alles so harmonisch, wie es auf den ersten Blick scheint.

Teir schaut genau hin, legt die Brüchigkeiten der Existenzen frei. Zeigt uns die Sprachlosigkeit, die Mauern zwischen den Menschen. Gefangene ihrer Lebensentwürfe. Nicht nur ihre Unfähigkeit, sondern auch ihren Unwillen, etwas am Status Quo zu ändern. Symbol dafür ist der nasse Untergrund des Ferienhauses, in dessen Keller der Wasserpegel allmählich ansteigt und sich schließlich den Weg nach draußen bahnt. Für die Bewohner auf Zeit bleibt so nur das Verlassen der sicheren Unterkunft.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Zwei Wochen im Herbst '68

Die Tote im Wannsee
0

Berlin im Herbst 1968. Der Alltag in der Metropole ist ordentlich durcheinander geschüttelt. Die Mauer teilt die Stadt in zwei Hälften, aus ganz Deutschland werden Neubürger mit Kopfprämien in die Hauptstadt ...

Berlin im Herbst 1968. Der Alltag in der Metropole ist ordentlich durcheinander geschüttelt. Die Mauer teilt die Stadt in zwei Hälften, aus ganz Deutschland werden Neubürger mit Kopfprämien in die Hauptstadt gelockt, die Studenten protestieren gegen Springer und den Vietnamkrieg, haben ihrerseits aber auch Opfer in den eigenen Reihen zu beklagen. Benno Ohnesorg wird erschossen und auf Rudi Dutschke, den Wortführer der Protestbewegung, wird ein Attentat verübt. APO und SDS sind die Reizwörter für die Springer-Presse, die mit ihren Artikeln die „normalen“ Bürger aufhetzen.

Die Gesellschaft ist einmal mehr im Umbruch. Das Wirtschaftswunder und der Generationswechsel nach dem Krieg in Politik, Lehre und Wirtschaft hat de facto nicht stattgefunden. Es sind noch immer die gleichen grau-braunen Eminenzen, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Korrupte Politiker, alte Nazis, dubiose Geschäftemacher. Und natürlich die Stasi, die auch im Westteil der Metropole ihre Spitzel sitzen hat.

Soweit der zeitliche Rahmen und gesellschaftspolitische Hintergrund für „Die Tote im Wannsee“, den ersten Kriminalroman des Trios Lutz, Kellerhof (beides Journalisten) und Wilhelm (Autor und Produzent), wobei letzterer Krimi-/Thriller-Lesern wahrscheinlich kein Unbekannter ist.

Die Krimihandlung wird durch den Leichenfund einer jungen Frau am Ufer des Wannsee eingeläutet. Wolf Heller, der junge sympathische Kommissar, momentan in Bereitschaft beim Kriminalreferat M, wird zum Fundort beordert und mit den Ermittlungen beauftragt. Die Recherchen ergeben, dass es sich um eine kleine Angestellte in der Kanzlei des Rechtsanwalts Horst Mahler handelt, was nun aber nicht weiter beachtenswert wäre. Wären da nicht die 12.000 DM auf ihrem Sparbuch, die Heidi Gent, zweimalige Mutter und mit einem Trinker verheiratet, unmöglich zur Seite gebracht haben kann. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden, aber als seine Vorgesetzten Heller nahelegen, den Fall abzuschließen, wird er misstrauisch und schaut noch einmal genauer hin. Er verbeißt sich regelrecht in den Fall und je tiefer er gräbt, desto mehr Schmutz schaufelt er nach oben. Geheimnisse, Lügen und Politik – es ist letztendlich dieses Dreigestirn, das Hellers Ermittlungen zum Erfolg führt.

Bei diesem Kriminalroman fällt als erstes das Zeitkolorit ins Auge. Da wird die politische Situation im 68er Berlin mit Bezügen zu realen Personen thematisiert, es gibt Gastarbeiter, die genannten Zigaretten- und Automarken rufen Erinnerungen wach, und der ermittelnde Kommissar Heller hat kein schickes Apartment, sondern wohnt bei Paula, einer alleinerziehenden Mutter, zur Untermiete (und sein außergewöhnliches Geburtstagsgeschenk für sie ist ein gebrauchter Schwarz-Weiß-Röhrenfernseher, über den ihre Zwillinge in Verzückung geraten). Für mich in hohem Maße authentisch.

Mir fällt zu diesem Kriminalroman nur ein Wort ein: Gelungen, zumindest was, wie zuvor schon thematisiert, die zeitliche Einordnung sowie die sich daraus ergebende, spezielle geografische Verortung angeht. Wenn man mit Berlin einigermaßen vertraut ist, kann man durch detaillierte Orts- und Wegbeschreibungen Heller durch die Metropole folgen.

Die Story an sich ist gut geplottet, tritt aber meiner Meinung nach etwas in den Hintergrund, was mit Sicherheit dadurch bedingt ist, dass die Autoren ihren Schwerpunkt auf die zeitgeschichtlichen Aspekte gelegt haben. Für mich kein Manko, ich liebe Krimis, die mir neben einer spannenden Handlung auch etwas über die gesellschaftspolitischen Hintergründe verraten. Deshalb gibt es von mir für „Die Tote im Wannsee“ auch die volle Punktzahl!

Und wer mit den im Buch genannten Begriffe nichts anfangen kann: am Ende gibt es ein umfassendes Glossar mit ausführlichen Erläuterungen.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Eine satte Milieustudie

Glorreiche Ketzereien
0

Cork. Hafenstadt im Süden Irlands. Bischofssitz. Erzkatholisch. Lisa McInerney erzählt in ihrem Erstling „Glorreiche Ketzereien“ von Menschen am Rand der Metropole. Von unten. Aus der Sozialbausiedlung. ...

Cork. Hafenstadt im Süden Irlands. Bischofssitz. Erzkatholisch. Lisa McInerney erzählt in ihrem Erstling „Glorreiche Ketzereien“ von Menschen am Rand der Metropole. Von unten. Aus der Sozialbausiedlung. Sie erzählt von Familien, von Erwartungen, von Reue und der Suche nach Erlösung. Von dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Von den Auswirkungen der Religion auf die irische Gesellschaft.

Zwei Personen dominieren den Roman, dessen Handlungszeitraum sich über starke fünf Jahre erstreckt: Maureen, knapp sechzig, Mutter des lokalen Gangsterbosses Jimmy „JP“ Phelan, erst seit kurzem wieder zurück in Cork. Als junge Frau von ihrer Familie nach der Geburt eines unehelichen Kindes nach London abgeschoben. Nicht ohne ihr vorher das Neugeborene wegzunehmen. Die voll Wut auf alles ist, was mit der Kirche zu tun hat. Die einem Einbrecher mit einem „Heiligen Stein“ den Schädel einschlägt und so eine unheilvolle Spirale in Gang setzt.

Und Ryan Cusack, guter Schüler, talentierter Klavierspieler, aber auch ältester Sohn von Tony, einem alleinerziehenden Vater von sechs Kindern, einem Säufer, Kleinkriminellen und Handlanger von JP, der seinen Ältesten misshandelt. Ryan, der sich nichts sehnlichster wünscht, als gesehen zu werden. Den eine große Liebe mit Karine, dem Mädchen aus der Mittelschicht, verbindet, die ihn zu verschlingen droht. Der zu einem wütenden jungen Mann heranwächst. Der aus den richtigen Gründen die falschen Entscheidungen trifft. Der eine Gefängnisstrafe verbüßen muss. Der aus den falschen Gründen die richtigen Entscheidungen trifft und so, zumindest auf Zeit, ein Leben rettet, dem aber sein eigenes Leben nichts wert ist.

Für den Fortgang der Handlung sind außerdem noch bereits erwähnter Gangsterboss, eine jungen Prostituierte sowie die unsympathische Nachbarin der Cusacks von Bedeutung. Jeder hat mit jedem zu tun und greift auf die eine oder andere Art und Weise in deren Leben ein.

Eine satte Milieustudie sind diese „Glorreichen Ketzereien“, aber auch ein Roman über das Erwachsenwerden unter schwierigsten Umständen. Plus dazugehörige Love-Story. Aber auch eine Abrechnung mit der Bigotterie der Kirche und der irischen Gesellschaft: „Die Kirche will Macht, mehr als alles andere, die Macht über alles Lebende. Die Kirche hat ein Ideal, und sie merzt alles aus, was sich dem in den Weg stellt. Die Kirche braucht blinde Hingabe…sie alle machen da mit. Ihnen ist eine Klasse zugeteilt worden, und an die klammern sie sich. Die Kirche schafft sich ihre Sünder, damit sie jemanden hat, den sie retten kann.“ Aber was geschieht mit denen, die nicht gerettet werden wollen?

McInerney nimmt kein Blatt vor den Mund. Sei es die Sprache oder auch die Themenfelder, die sie beackert. Schnappt euch das Buch und lest es, ihr werdet es nicht bereuen. Denn unter den Neuerscheinungen 2018 ist Lisa McInereys Debüt ein „Diamond in the Rough“!

Übrigens gibt es im Original bereits den Folgeband „The Blood Miracles“, in dem wir Ryan Cusack Wege weiterverfolgen können. Ich freue mich darauf.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Bis mir das Fleisch gehackt ist von den Knochen...

Macbeth
0

Der neue Thriller des Norwegers Jo Nesbø ist Teil des Hogarth Shakespeare Projekts, einer Reihe, in der international bekannte Autoren die Werke des englischen Klassikers „entstauben“, auf das Wesentliche ...

Der neue Thriller des Norwegers Jo Nesbø ist Teil des Hogarth Shakespeare Projekts, einer Reihe, in der international bekannte Autoren die Werke des englischen Klassikers „entstauben“, auf das Wesentliche reduzieren und neu interpretieren. Nesbø hat sich für eine Neuerzählung von „Macbeth“ entschieden, der Tragödie aus dem Jahr 1606, die den Aufstieg und Fall des königlich-schottischen Heerführers beschreibt.

Er verlegt die Handlung in eine nasse, dreckige, heruntergewirtschaftete, dystopisch anmutende Industriestadt der siebziger Jahre, die geprägt ist von Drogenhandel, Gang-Kriminalität und Gewalt (vermutlich hatte er dabei Glasgow vor Augen, die damalige Verbrechenshauptstadt im Norden Großbritanniens). Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden, weil selbst die diejenigen, die für deren Einhaltung sorgen sollten, die Seiten gewechselt haben. Nicht so Inspector Macbeth, der als ehemaliger Drogenabhängiger weiß, welch verheerende Auswirkungen die Sucht haben kann. Anfangs noch seiner Mission verpflichtet, in der Unterwelt aufzuräumen und die Drogengangs zu zerschlagen, erwacht in ihm allmählich die Gier nach Macht und Einfluss, eine verheerende Kombination, die ihm von seiner Geliebten eingeflüstert wird. Um aber an die Spitze zu gelangen, muss er erst diejenigen verdrängen, die es sich dort oben gemütlich gemacht haben. Und dazu ist ihm jedes Mittel recht…

Nesbø und ein Shakespeare-Stoff, geht das? Ich hatte so meine Zweifel, wurde aber eines Besseren belehrt. Man sollte nur nicht den Fehler machen, den vorliegenden Thriller mit den Büchern der Harry Hole-Reihe zu vergleichen. „Macbeth“ ist wesentlich schwärzer, dreckiger, und auch in Sachen Brutalität legt er hier noch eine Schippe drauf – ganz so, wie wir es von klassischen Noir-Thrillern gewohnt sind. Dabei verliert er jedoch nie das Original aus den Augen. Und wer damit vertraut ist oder die Vorlage kennenlernen möchte, wird Shakespeare ganz bestimmt zukünftig aus einem anderen Blickwinkel betrachten – falls er/sie dazu durch Jo Nesbøs Neuinterpretation angeregt wurde.