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Veröffentlicht am 02.01.2019

Suche nach der Wahrheit in der Banlieu

Nichts ist verloren
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Eine Wohlfühllektüre ist „Nichts ist verloren“ absolut nicht, aber das ist auch nicht das, was ich von den Büchern des Polar Verlags erwarte. Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete zweite Roman der ...

Eine Wohlfühllektüre ist „Nichts ist verloren“ absolut nicht, aber das ist auch nicht das, was ich von den Büchern des Polar Verlags erwarte. Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete zweite Roman der Autorin Cloé Mehdi lenkt einmal mehr unseren Blick auf das Leben in den französischen Vorstädten, den Banlieu, Heimat für Migranten und Abgehängte. Problemviertel nennt die Politik das gerne, nicht wahr haben wollend, dass sie es ist, die diese Probleme befeuert. Die Lebensumstände sind schlecht, es fehlt an Perspektiven, Polizeigewalt ist allgegenwärtig. Und doch ist es Heimat.

Les Verrières. Hier lebt der elfjährige Mattia mit seiner Ersatzfamilie. Vater tot, Mutter weg, Bruder weg, Schwester auch nicht präsent. Sein Vormund Zé und dessen suizidgefährdete Freundin Gabrielle taugen auch nicht wirklich als Vorbilder, und eine Ahnung von familiärer Geborgenheit vermitteln sie dem Jungen nur dann, wenn die Vertreterin des Jugendamtes mal wieder ihren üblichen Kontrollbesuch macht. So schlecht seine Lebensumstände auch sein mögen, vermitteln sie dem Jungen doch ein Gefühl von Stabilität. Aber auch das gerät ins Wanken, als in dem Viertel Parolen an den Wänden auftauchen, die Gerechtigkeit für Said fordern, einen vor vielen Jahren von der Polizei erschossenen Jungen. Ein Tod, der unmittelbare Auswirkungen auf Mattias Leben hatte, denn sein Vater fühlte sich verantwortlich und brach unter dieser Last zusammen. Es folgte die Einweisung in die Psychiatrie und schließlich dessen Selbstmord. Mattia begibt sich auf Spurensuche, will herausfinden, was damals wirklich mit seinem Vater geschehen ist, warum er sich Saids Tod so zu Herzen genommen hat und er mit der Schuld nicht mehr leben konnte. Doch offenbar passt dieses Herumschnüffeln manchen nicht in den Kram.

Mattia ist der Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive der Leser einen Blick auf dessen Leben in der Banlieu wirft. Bisweilen kommt der Elfjährige ziemlich altklug daher, wirkt recht abgebrüht, musste früh erwachsen werden. Aber da sind auch seine Ängste, die Zweifel, die er hat, das Gefühl der Isolation. Zeigen würde er das nie, könnte ihm ja als Schwäche ausgelegt werden. Dann doch lieber mit einer flapsigen Bemerkung darüber hinweggehen.

Es ist das Bild einer kalten, dunklen Gesellschaft, das Mehdi zeichnet. Wo Menschen aus Profitgier aus ihren Viertel vertrieben werden sollen. Einer Gesellschaft, in der Gewalt an der Tagesordnung ist. Wo Mitgefühl ein Fremdwort ist. Einer Gesellschaft, die allen alles abverlangt. Wo es aber dennoch für den einen oder anderen so etwas wie einen Hoffnungsschimmer gibt. All das vermittelt die Autorin dem Leser in einer klaren, nüchternen und präzisen Sprache ohne Drumherumgerede in einem Roman, der lange nachhallt.

Veröffentlicht am 14.12.2018

Die Grenze

Kojoten
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„La Frontera“, so lautet der Originaltitel des neuen Romans von Sam Hawken, amerikanischer Autor mit texanischen Wurzeln, die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Kojoten“. Und in Texas, genauer gesagt ...

„La Frontera“, so lautet der Originaltitel des neuen Romans von Sam Hawken, amerikanischer Autor mit texanischen Wurzeln, die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Kojoten“. Und in Texas, genauer gesagt in der Grenzregion zwischen Texas und Mexiko, liegen die Handlungsorte seiner vier Veröffentlichungen, von denen bisher leider nur zwei in der deutschen Übersetzung vorliegen („Die toten Frauen von Juarez“, 2012, und aktuell „Kojoten“).

„Kojoten“ ist in drei Abschnitte unterteilt, in denen Hawken drei Personen eine Stimme verleiht, die stellvertretend für die jeweiligen Gruppen stehen. Auf den ersten Blick haben sie nichts gemeinsam, aber im Verlauf der Handlung kreuzen sich ihre Pfade auf schicksalhafte Weise:

Es beginnt mit Ana Torres, der Rangerin, stationiert auf texanischer Seite irgendwo im Nirgendwo nahe Presidio, die tagein, tagaus an der Grenze Patrouille reitet und nach den Schlupflöchern der Illegalen die Zäune der Rancher kontrolliert. Bei einem ihrer Kontrollritte findet sie einen Toten, einen Mexikaner, der durch einen Schuss in den Rücken getötet wurde. Aber dann ist da auch noch dieser Baum, mit dem es eine spezielle Bewandtnis hat.

Luis Gonzales ist ein ehemaliger Kojote. So nennt man die Schlepper, die die Flüchtlinge über die Grenze bringen. Mit dem Geld, das er während dieser Zeit zur Seite legen konnte, hat er auf der mexikanischen Seite einen kleinen Laden eröffnet und verkauft nun denen, die über die Grenze wollen, Wasser, ordentliches Schuhwerk und Snacks. Aber die Vergangenheit holt ihn wieder ein, denn einer der aktiven Schlepper möchte ihn unbedingt reaktivieren und in seiner Organisation haben. Und wenn Worte nicht ausreichen, kommt eben Gewalt ins Spiel.

Für die Flüchtlinge steht Marisol Herrera, eine junge Frau aus einem kleinen Bergdorf in El Salvador. Sie träumt von einem Leben in Amerika, und dafür hat sie die Sprache gelernt und Geld gespart. Nach dem Tod ihrer Großmutter macht sie sich auf den Weg ins Ungewisse und gelangt über Guatemala schließlich nach Mexiko. Und genau dort kreuzen sich die Wege von Ana, Luis und Marisol…

Sam Hawken wirft in „Kojoten“ sein ganzes Können in die Waagschale. Zeigten „Die toten Frauen von Juarez“ eher noch die typischen Merkmale eines Kriminalromans, tritt hier die Frage nach Täter und Motiv in den Hintergrund. Es sind die eindrücklichen Bilder dieser trostlosen Grenzregion und die unspektakulären Schilderungen des Alltäglichen, die Träume der Protagonisten von einem anderen, einem besseren Leben. Die Strapazen, die sie bereit sind, dafür auf sich zu nehmen, und gleichzeitig die Gewissheit des Lesers, der bereits ahnt, dass all ihre Mühen vergebens sein werden.

Beim Lesen des Romans hatte ich immer wieder die Bilder vom Balkan und von Calais vor Augen, die vor einigen Wochen durch die Medien gingen. Der Einsatz der Blendgranaten, die Zäune, die die Flüchtlinge von der Ein- und Weiterreise abhalten sollten, die Hunde, mit denen sie gehetzt wurden. Gesellschaften, die sich abschotten und den Flüchtlingen aus aller Welt, die bereit sind, ihr eigenes Leben in die Waagschale zu werfen, den Zutritt verweigern.

Und wer wissen möchte, wie es Marisol ergehen wird, falls es ihr wider Erwarten doch gelingen sollte, in die Vereinigten Staaten zu gelangen, dem empfehle ich „América“ von T. C. Boyle, der in diesem Roman eindrücklich das Leben der Illegalen in den USA beschreibt.

Veröffentlicht am 10.12.2018

Das linke Bein des Joe Strummer

Die Gewissenlosen
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Wenn überhaupt, dann wird der bretonische Autor Caryl Férey den deutschen Lesern am ehesten durch die Verfilmung seines Südafrikaromans „Zulu“ (mit Orlando Blum und Forest Whitaker) bekannt sein., denn ...

Wenn überhaupt, dann wird der bretonische Autor Caryl Férey den deutschen Lesern am ehesten durch die Verfilmung seines Südafrikaromans „Zulu“ (mit Orlando Blum und Forest Whitaker) bekannt sein., denn obwohl er seit 1994 schreibt, wurden bisher lediglich „Zulu“ und „Jähzorn“ in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Sehr bedauerlich, denn seine Romane sind reinster Polar, rabenschwarze sozialkritische Momentaufnahmen einer komplexen und chaotischen Welt. Bestes Beispiel hierfür ist die Trilogie (2002 – 2018), in deren Zentrum der nach dem IRA-Attentat auf Lord Mountbatten ausgewiesene Ire Mc Cash steht. Jurastudium in Frankreich, danach Polizeidienst in Brest

Nun liegt zumindest der mittlere Band mit dem Titel „Die Gewissenlosen“ (veröffentlicht bei Limes) nun endlich in der Übersetzung vor: Es sieht nicht gut aus für Mc Cash. Er droht zu erblinden, hat höllische Schmerzattacken und nichts, wofür es sich zu leben lohnen würde. Quittiert den Job und wartet auf das Ende. Der Brief einer verstorbenen Ex-Geliebten reißt ihn aus der Lethargie, denn offenbar hat er eine Tochter, um die er sich kümmern soll. Seine Begeisterung über diese Nachricht hält sich in Grenzen, aber er macht sich auf den Weg nach Montfort-sur-Meu, wo kurz nach seiner Ankunft die Leiche eines ertrunkenen Mädchens gefunden wird. Bei toten Kindern kennt selbst der desillusionierte Mc Cash kein Pardon. Getrieben von unbändiger Wut nutzt er seine ehemaligen Kontakte, um den Täter dingfest zu machen. Aber gleichzeitig muss er, der für sein eigenes Leben keinen Pfifferling mehr geben würde, auch seine Tochter beschützen. Sie kannte das Mädchen, und könnte deshalb bereits ins Visier des Täters gerückt sein.

Harte Sprache, jede Menge Gewalt, kurze Kapitel, alles auf den Punkt. Jeweils überschrieben mit einem Songtitel der britischen Punkband The Clash. Und wie deren Musik hat auch dieser Roman einen ganz besonderen Rhythmus und darf wohl als Hommage an diese Band verstanden werden. „La jambe gauche de Joe Strummer“ („Das linke Bein des Joe Strummer“), so der Originaltitel. Joe Strummer, Sänger und Gitarrist, bekannt dafür, dass er bei Konzerten mit seinem linken Bein „wie eine Furie auf den Boden stampfte“. In Rage wie Mc Cash. Strummer starb am 22. Dezember 2002 an einem nicht festgestellten Herzfehler.

Veröffentlicht am 08.12.2018

Spannende Unterhaltung auf höchstem Niveau

Commissaire Le Floch und das Phantom der Rue Royale
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Nicolas Le Floch ist zurück, der Pariser Commissaire und Protagonist des französischen Schriftstellers und Historikers Jean-Francois Parot. Die Reihe besteht aus dreizehn Bänden, wird aber auch nicht fortgeführt, ...

Nicolas Le Floch ist zurück, der Pariser Commissaire und Protagonist des französischen Schriftstellers und Historikers Jean-Francois Parot. Die Reihe besteht aus dreizehn Bänden, wird aber auch nicht fortgeführt, da der Autor im Mai 2018 leider verstorben ist.

Zehn Jahre sind seit dem letzten Fall vergangen, mittlerweile schreiben wir das Jahr 1770, und das dritte Buch (der dreizehnbändigen Reihe) „Commissaire Le Floch und das Phantom der Rue Royale“ startet mit einem historisch verbürgten Ereignis: Tausende Pariser Bürger haben sich auf der Place Louis XV versammelt, um das große Feuerwerk anlässlich der Vermählung von Ludwig XVI. mit Marie-Antoinette anzuschauen, als durch fehlgeleitete Raketen eine Massenpanik ausbricht. Le Floch ist auf Befehl von Polizeichef Sartine vor Ort, kann aber die Katastrophe auch nicht verhindern. Es gibt unzählige Verletzte und 139 Tote, und unter den Toten fällt Le Floch eine junge Frau mit Strangulationsmerkmalen am Hals auf, die eine schwarze Perle in der Hand hält. Ihre Identität ist schnell geklärt, sie ist die Nichte eines Pelzhändlers, erst vor kurzem aus Neufrankreich (dem heutigen Kanada) zurückgekommen. Aber wer könnte ein Interesse an dem Tod der jungen Frau haben? Le Floch wird mit den Untersuchungen beauftragt, läuft gegen Wände, da offenbar jeder etwas zu verbergen hat und sieht sich während seinen Ermittlungen mit Ereignissen konfrontiert, die weit über seine Vorstellungskraft hinausgehen…

Was die Kriminalromane dieser Reihe auszeichnet ist die historische Authentizität, die mit Sicherheit dem Umstand geschuldet ist, dass das Interesse des Historikers Jean-Francois Parots dem Zeitalter der Aufklärung mit Schwerpunkt Paris galt. Zu dieser Thematik gibt es von ihm auch eine Examensarbeit, in der er exemplarisch die gesellschaftliche Entwicklung in drei Pariser Vierteln unter die Lupe nimmt. Man watet mit seinen Protagonisten durch den allgegenwärtigen Dreck, hat den fauligen Gestank der Gassen in der Nase, hat Mitleid mit den Ärmsten, regt sich über die Borniertheit der Bürger und die Verschwendungssucht des Adels auf. Gepaart mit einem spannenden und raffinierten Plot und einem sympathischen Protagonisten, der sich vom Landei zum Stadtmensch entwickelt hat, bietet „Commissaire Le Floch und das Phantom der Rue Royale“ historisch interessierten Lesern beste Unterhaltung auf hohem Niveau.

Dazu gibt es dann auch noch ein schönes Extra: auf den Innenseiten der Klappenbroschur findet man einen detaillierten Pariser Stadtplan der damaligen Zeit, auf dem die Handlungsorte gekennzeichnet sind, so dass der Leser die Schritte der Protagonisten verfolgen kann.

Veröffentlicht am 06.12.2018

Alles hat einmal ein Ende

Der achte Tag
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Hier ist er also nun, der Abschluss der Frieda Klein-Reihe des englischen Autorenpaares Nicci Gerrard und Sean French. Seit 2011 verfolgen wir das Katz-und Maus Spiel zwischen Frieda, der Londoner Psychotherapeutin, ...

Hier ist er also nun, der Abschluss der Frieda Klein-Reihe des englischen Autorenpaares Nicci Gerrard und Sean French. Seit 2011 verfolgen wir das Katz-und Maus Spiel zwischen Frieda, der Londoner Psychotherapeutin, und dem von ihr besessenen Psychopathen Dean Reeve. Er geht buchstäblich über Leichen, um an Frieda heranzukommen, und so ist es für jeden lebensgefährlich, sich bloß in ihrer Nähe aufzuhalten. So rücken immer wieder völlig Unbeteiligte in den Fokus des Killers, wie in diesem Fall Lola Hayes, die Studentin, die es sich nach dem Vorschlag ihres Dozenten in den Kopf gesetzt hat, ihre Seminararbeit über Frieda zu schreiben. Dazu muss sie aber mit ihr in Kontakt kommen. Gar nicht so einfach, den Frieda ist abgetaucht, um Reeves Nachstellungen zu entgehen. Aber dieser weiß schon, welche Knöpfe er drücken muss, um die Therapeutin aus ihrem Versteck zu locken, auch wenn dabei Menschen ihr Leben verlieren. Frieda ist die Einzige, die ihn stoppen kann, auch wenn sie dafür ihr eigenes Leben in den Ring werfen muss.

Wie bereits in den vorherigen Bänden der Reihe entwickelt sich die Handlung langsam und bedächtig. Verschiedene Handlungsstränge und eine Vielzahl von Personen, die, wie es scheint, auf den ersten Blick keinen Bezug zu den zugrunde liegenden Ereignissen haben, entwickeln sich allmählich zu einer komplexen Story. Und hier kommt die Qualität des Autorenpaars deutlich zum Vorschein, die dadurch, dass sie jeder Figur eine entsprechende Hintergrundgeschichte mit auf den Weg geben, für Stimmigkeit sorgen und dem Leser das Gefühl vermitteln, zu keinem Zeitpunkt den Überblick zu verlieren. Auch wenn man das Gefühl hat zu wissen, wohin die Geschichte führt, gibt es doch genügend Überraschungsmomente, die keine Langeweile aufkommen lassen.

Alles hat einmal ein Ende, und so gilt es, etwas wehmütig Abschied von einer spannenden Reihe zu nehmen, die mich über die Jahre begleitet hat. Wer Frieda noch nicht kennt, sollte das schleunigst nachholen. Aber bitte nicht mittendrin einsteigen, sondern mit “Blauer Montag”, dem ersten Band beginnen und sich dann chronologisch durch die Wochentage lesen. Spannende Unterhaltung ist garantiert!