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Veröffentlicht am 31.01.2019

Zwischen Tradition und Moderne

Das Jahr der Katze
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Man muss den Vorgänger „Der Arm des Kraken“ nicht zwingend gelesen haben, aber es hilft, die Beziehung zwischen dem Yakuza-Killer und dessen Freundin Nikola zu verstehen. Onishi fühlt sich für sie verantwortlich, ...

Man muss den Vorgänger „Der Arm des Kraken“ nicht zwingend gelesen haben, aber es hilft, die Beziehung zwischen dem Yakuza-Killer und dessen Freundin Nikola zu verstehen. Onishi fühlt sich für sie verantwortlich, seit er in Berlin/Prenzlauer Berg eigenmächtig ein Blutbad unter der vietnamesischen Mafia angerichtet hat, bei dem Nikolas Freund Yukio ums Leben gekommen ist. Sie verlassen Berlin und verstecken sich in der Wohnung eines Freundes in Tokio.

Die beiden sind aber nicht nur auf der Flucht vor den Vietnamesen sondern auch vor der Yakuza-Organisation Nekodoshi-gumi. Deren Anführer Takeda schätzt es überhaupt nicht, dass seine Organisation sowohl die Aufmerksamkeit der deutschen Polizei als auch die der vietnamesischen Rivalen erregt, hat er doch genug mit organisationsinternen Streitereien zu tun, bei denen es um die Neuausrichtung der „Geschäftsfelder“ geht.

Unterstützung findet Onishi bei seinem alten Lehrer Harara, einem Meister der Kampfkunst, der die traditionellen Denkweisen, orientiert am Kodex der Samurai hochhält und verkörpert. Denkweisen, die weder in eine moderne Industriegesellschaft noch in eine globalisierte Verbrechenswelt passen, weshalb auch Meister Harara in das Visier der Nekodoshi-gumi gerät.
Es sind diese Gegensätze, die „Das Jahr der Katze“ zu einem reizvollen und spannenden Roman machen. Peters erzählt sie aus zwei Perspektiven: einerseits der auktoriale Erzähler, der Onishi und Nikola auf ihren Fluchtwegen in Tokio begleitet, andererseits der Ich-Perspektive Hararas, der über Disziplin, Tradition und Zen monologisiert und philosophiert. Inwieweit dieses Denken (noch) zeitgemäß ist, mag jeder Leser für sich entscheiden. Zumindest werden wir dadurch darauf hingewiesen, unser Bild von Japan zu hinterfragen.

Wer nun glaubt, dies ginge alles zu Lasten des Tempos, sei beruhigt. Es gibt jede Menge Action, vor allem ausgiebige Schwertgefechte. Wir sind ja im Land der Samurai – wobei dies offenbar das Zugeständnis des Autors an die Klischees in den Köpfen seiner Leser ist.

Veröffentlicht am 11.01.2019

Eine bitterböse Fiktion, die den Vereinigten Staaten unter Trump den Spiegel vorhält

Der Verräter
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Ein kühnes Gedankenexperiment, das sich der Autor und ehemalige Poetryslammer Paul Beatty in seinem 2016 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Der Verräter“ (The Sellout, 2015) erlaubt. Es ist ...

Ein kühnes Gedankenexperiment, das sich der Autor und ehemalige Poetryslammer Paul Beatty in seinem 2016 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Der Verräter“ (The Sellout, 2015) erlaubt. Es ist eine, im besten Sinne, respektlose Abrechnung mit der amerikanischen Gesellschaft, die sich auf Rassismus und Diskriminierung gründet und dies auch während der achtjährigen Amtszeit Obamas nicht überwunden hat. Im Gegenteil, dessen Nachfolger ist redlich bemüht, zugeschüttete Gräben wieder aufzureißen bzw. neue auszuheben und die gesellschaftliche Spaltung weiter voranzutreiben.

Beatty nutzt das literarische Mittel der Satire. Inhaltlich unterfüttert er diese mit zahlreichen Rassismen, nicht nur aus Alltag sondern auch aus Wissenschaft, Film und Literatur. Das beginnt schon bei dem Namen des fiktiven Handlungsorts: Dickens (!), ein heruntergekommener Vorort von Los Angeles. Den Stadtvätern ein Dorn im Auge, für die Immobilienhaie nach entsprechenden Investitionen ein äußerst lohnendes Objekt. Aber auch Heimat für die dort seit Generationen lebenden Afroamerikaner, die stolz auf ihr Viertel sind. So auch der Ich-Erzähler, dessen Vater (Sozialwissenschaftler) sein Leben lang die Bürgerrechte hochgehalten und besänftigend auf seinen Sohn und die zornigen jungen Männer eingeredet hat. Immer hoffend, mit gefälligem Verhalten die Akzeptanz der (weißen) Öffentlichkeit zu erlangen. Doch dann wird er erschossen, und der Sohn verliert nicht nur den Vater sondern auch seinen moralischen Kompass. Anpassung ist das Wort der Stunde für ihn, und so kommt er zu dem irrigen Schluss, dass nur Segregation Erfolg garantiert und der Schlüssel zur Lösung aller Probleme ist. Sein Konzept zur Rassentrennung kommt an, bei Schwarz und Weiß. Endlich weiß jeder wieder, wo sein Platz ist. Und so mutiert der Ich-Erzähler zum Sklavenhalter. Einen willigen Gefolgsmann findet er auch. Ein alter Schauspieler, einst zum Cast der „Kleinen Strolche“ gehöhrend, lässt sich bereitwillig von ihm zum Sklaven machen. Und schon bald übernehmen auch öffentliche Institutionen in Dickens dieses „Erfolgsmodell“…

Sprachlich auf höchstem Niveau (dem Übersetzer Henning Ahrens sei Dank), bitterböse und entlarvend, jenseits aller „political correctness“. Ein Roman, der mit Vorurteilen spielt, sie auf Gag-Niveau bringt, das aber so raffiniert bewerkstelligt, dass einem das Lachen schon im Ansatz im Halse steckenbleibt. Eine Fiktion, die den Vereinigten Staaten unter Trump den Spiegel vorhält. Hoffnungslos überzeichnet – oder etwa doch nicht?

Veröffentlicht am 03.01.2019

Ben, die Wüste und der 117

Desert Moon
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Utah. Mormonen- und Wüstenstaat im amerikanischen Westen, wo man Meile um Meile endlose Straßen entlangfahren kann und das einzige Wesen, das einem begegnet, ein totes Pferd am Straßenrand ist. Dermaßen ...

Utah. Mormonen- und Wüstenstaat im amerikanischen Westen, wo man Meile um Meile endlose Straßen entlangfahren kann und das einzige Wesen, das einem begegnet, ein totes Pferd am Straßenrand ist. Dermaßen von eigenen Reiseerfahrungen geprägt, fällt es nicht schwer, sich die Gegend vorzustellen, in der Ben Jones Tag für Tag mit seinem Truck unterwegs ist, um Waren an die unterschiedlichsten Kunden seines „Ben’s Desert Moon Delivery Service“ auszuliefern. Rentabel ist das Geschäft schon lange nicht mehr und es steht zu befürchten, dass er seinen Truck und damit seine Existenz verliert.

Aber er liebt das, was er tut, und er liebt die Menschen, und so setzt er sich jeden Tag aufs Neue hinter das Steuer, fährt seine Tour entlang der Hochwüste und wundert sich einmal mehr über die seltsamen Typen, die er auf seinem Weg trifft: Walt, trauriger Besitzer eines Diners, der nur selten geöffnet ist und Bens Freund. John, der Wanderprediger, der tagein tagaus ein riesiges Holzkreuz durch die Wüste schleppt. Fergus und Duncan, die beiden Brüder, die in einem aufgebockten Güterwaggon hausen. Ginny, die Punkerin, obdachlos und hochschwanger. Josh, der Filmemacher, der sich Walts Diner und Ben als Objekt für seine nächste Reality-Show ausgeguckt hat. Und dann ist da noch Claire, die Ben eines Tages unvermutet auf der Veranda eines verlassenen Hauses sieht. Nackt, vor sich ein saitenloses Cello, auf dem sie Melodien spielt, die nur sie hören kann. Und mit dem Auftauchen von Claire setzt sich eine Spirale in Gang, die Bens Gefühlswelt und sein von Routine geprägtes Leben gehörig durcheinander schüttelt.

Was an diesem Buch am meisten auffällt ist die Empathie, mit der James Anderson seine Geschichte erzählt. Ben ist kein Superheld, er ist ein ganz normaler Mensch. Einer, der jeden Tag aufsteht und seine Lieferungen ausfährt. Der die Menschen respektiert und nicht über sie urteilt. Der in der täglichen Routine sein Bestes gibt. In einem rauen und isolierten Landstrich, der etwas Magisches hat und neben den Menschen, die dort leben, in seiner ganzen Schönheit eine weitere Hauptfigur ist. Die Details in den Beschreibungen machen Andersons Story eindrücklich und wecken auch bei dem Leser Sympathien nicht nur für diese exzentrischen Wüstenbewohner, sondern vor allem für Ben.

Das ist die Geschichte von Ben Jones, der jeden Tag daran arbeitet, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein besserer Mensch zu werden. Nach Aussage des Autors angelegt auf drei Bände, von denen der zweite Band „Lullaby Road“ bereits im Original erschienen ist und den Lesern in der Übersetzung hoffentlich zugänglich gemacht wird. Aber ob ich solange warten mag? Vielleicht lese ich es doch lieber zeitnah im Original.

Veröffentlicht am 02.01.2019

Suche nach der Wahrheit in der Banlieu

Nichts ist verloren
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Eine Wohlfühllektüre ist „Nichts ist verloren“ absolut nicht, aber das ist auch nicht das, was ich von den Büchern des Polar Verlags erwarte. Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete zweite Roman der ...

Eine Wohlfühllektüre ist „Nichts ist verloren“ absolut nicht, aber das ist auch nicht das, was ich von den Büchern des Polar Verlags erwarte. Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete zweite Roman der Autorin Cloé Mehdi lenkt einmal mehr unseren Blick auf das Leben in den französischen Vorstädten, den Banlieu, Heimat für Migranten und Abgehängte. Problemviertel nennt die Politik das gerne, nicht wahr haben wollend, dass sie es ist, die diese Probleme befeuert. Die Lebensumstände sind schlecht, es fehlt an Perspektiven, Polizeigewalt ist allgegenwärtig. Und doch ist es Heimat.

Les Verrières. Hier lebt der elfjährige Mattia mit seiner Ersatzfamilie. Vater tot, Mutter weg, Bruder weg, Schwester auch nicht präsent. Sein Vormund Zé und dessen suizidgefährdete Freundin Gabrielle taugen auch nicht wirklich als Vorbilder, und eine Ahnung von familiärer Geborgenheit vermitteln sie dem Jungen nur dann, wenn die Vertreterin des Jugendamtes mal wieder ihren üblichen Kontrollbesuch macht. So schlecht seine Lebensumstände auch sein mögen, vermitteln sie dem Jungen doch ein Gefühl von Stabilität. Aber auch das gerät ins Wanken, als in dem Viertel Parolen an den Wänden auftauchen, die Gerechtigkeit für Said fordern, einen vor vielen Jahren von der Polizei erschossenen Jungen. Ein Tod, der unmittelbare Auswirkungen auf Mattias Leben hatte, denn sein Vater fühlte sich verantwortlich und brach unter dieser Last zusammen. Es folgte die Einweisung in die Psychiatrie und schließlich dessen Selbstmord. Mattia begibt sich auf Spurensuche, will herausfinden, was damals wirklich mit seinem Vater geschehen ist, warum er sich Saids Tod so zu Herzen genommen hat und er mit der Schuld nicht mehr leben konnte. Doch offenbar passt dieses Herumschnüffeln manchen nicht in den Kram.

Mattia ist der Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive der Leser einen Blick auf dessen Leben in der Banlieu wirft. Bisweilen kommt der Elfjährige ziemlich altklug daher, wirkt recht abgebrüht, musste früh erwachsen werden. Aber da sind auch seine Ängste, die Zweifel, die er hat, das Gefühl der Isolation. Zeigen würde er das nie, könnte ihm ja als Schwäche ausgelegt werden. Dann doch lieber mit einer flapsigen Bemerkung darüber hinweggehen.

Es ist das Bild einer kalten, dunklen Gesellschaft, das Mehdi zeichnet. Wo Menschen aus Profitgier aus ihren Viertel vertrieben werden sollen. Einer Gesellschaft, in der Gewalt an der Tagesordnung ist. Wo Mitgefühl ein Fremdwort ist. Einer Gesellschaft, die allen alles abverlangt. Wo es aber dennoch für den einen oder anderen so etwas wie einen Hoffnungsschimmer gibt. All das vermittelt die Autorin dem Leser in einer klaren, nüchternen und präzisen Sprache ohne Drumherumgerede in einem Roman, der lange nachhallt.

Veröffentlicht am 14.12.2018

Die Grenze

Kojoten
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„La Frontera“, so lautet der Originaltitel des neuen Romans von Sam Hawken, amerikanischer Autor mit texanischen Wurzeln, die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Kojoten“. Und in Texas, genauer gesagt ...

„La Frontera“, so lautet der Originaltitel des neuen Romans von Sam Hawken, amerikanischer Autor mit texanischen Wurzeln, die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Kojoten“. Und in Texas, genauer gesagt in der Grenzregion zwischen Texas und Mexiko, liegen die Handlungsorte seiner vier Veröffentlichungen, von denen bisher leider nur zwei in der deutschen Übersetzung vorliegen („Die toten Frauen von Juarez“, 2012, und aktuell „Kojoten“).

„Kojoten“ ist in drei Abschnitte unterteilt, in denen Hawken drei Personen eine Stimme verleiht, die stellvertretend für die jeweiligen Gruppen stehen. Auf den ersten Blick haben sie nichts gemeinsam, aber im Verlauf der Handlung kreuzen sich ihre Pfade auf schicksalhafte Weise:

Es beginnt mit Ana Torres, der Rangerin, stationiert auf texanischer Seite irgendwo im Nirgendwo nahe Presidio, die tagein, tagaus an der Grenze Patrouille reitet und nach den Schlupflöchern der Illegalen die Zäune der Rancher kontrolliert. Bei einem ihrer Kontrollritte findet sie einen Toten, einen Mexikaner, der durch einen Schuss in den Rücken getötet wurde. Aber dann ist da auch noch dieser Baum, mit dem es eine spezielle Bewandtnis hat.

Luis Gonzales ist ein ehemaliger Kojote. So nennt man die Schlepper, die die Flüchtlinge über die Grenze bringen. Mit dem Geld, das er während dieser Zeit zur Seite legen konnte, hat er auf der mexikanischen Seite einen kleinen Laden eröffnet und verkauft nun denen, die über die Grenze wollen, Wasser, ordentliches Schuhwerk und Snacks. Aber die Vergangenheit holt ihn wieder ein, denn einer der aktiven Schlepper möchte ihn unbedingt reaktivieren und in seiner Organisation haben. Und wenn Worte nicht ausreichen, kommt eben Gewalt ins Spiel.

Für die Flüchtlinge steht Marisol Herrera, eine junge Frau aus einem kleinen Bergdorf in El Salvador. Sie träumt von einem Leben in Amerika, und dafür hat sie die Sprache gelernt und Geld gespart. Nach dem Tod ihrer Großmutter macht sie sich auf den Weg ins Ungewisse und gelangt über Guatemala schließlich nach Mexiko. Und genau dort kreuzen sich die Wege von Ana, Luis und Marisol…

Sam Hawken wirft in „Kojoten“ sein ganzes Können in die Waagschale. Zeigten „Die toten Frauen von Juarez“ eher noch die typischen Merkmale eines Kriminalromans, tritt hier die Frage nach Täter und Motiv in den Hintergrund. Es sind die eindrücklichen Bilder dieser trostlosen Grenzregion und die unspektakulären Schilderungen des Alltäglichen, die Träume der Protagonisten von einem anderen, einem besseren Leben. Die Strapazen, die sie bereit sind, dafür auf sich zu nehmen, und gleichzeitig die Gewissheit des Lesers, der bereits ahnt, dass all ihre Mühen vergebens sein werden.

Beim Lesen des Romans hatte ich immer wieder die Bilder vom Balkan und von Calais vor Augen, die vor einigen Wochen durch die Medien gingen. Der Einsatz der Blendgranaten, die Zäune, die die Flüchtlinge von der Ein- und Weiterreise abhalten sollten, die Hunde, mit denen sie gehetzt wurden. Gesellschaften, die sich abschotten und den Flüchtlingen aus aller Welt, die bereit sind, ihr eigenes Leben in die Waagschale zu werfen, den Zutritt verweigern.

Und wer wissen möchte, wie es Marisol ergehen wird, falls es ihr wider Erwarten doch gelingen sollte, in die Vereinigten Staaten zu gelangen, dem empfehle ich „América“ von T. C. Boyle, der in diesem Roman eindrücklich das Leben der Illegalen in den USA beschreibt.