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Veröffentlicht am 08.04.2019

In einem Rutsch weggelesen

Liebes Kind
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Romy Hausmann schildert die Geschehnisse aus der Perspektive dreier Figuren, der Protagonistin, des von Geburt an in der Hütte eingesperrten Mädchens Hannah und Matthias', der seit vierzehn Jahren auf ...

Romy Hausmann schildert die Geschehnisse aus der Perspektive dreier Figuren, der Protagonistin, des von Geburt an in der Hütte eingesperrten Mädchens Hannah und Matthias', der seit vierzehn Jahren auf ein Lebenszeichen seiner verschwundenen Tochter hofft. Jede Figur ist gut und glaubwürdig gezeichnet, mit eigenem Sprachduktus und differenzierten Charaktereigenschaften. Insbesondere mit dem Mädchen Hannah ist Romy Hausmann aus meiner Sicht ein echt großer Wurf gelungen. Wie Hannah die Ungeheuerlichkeiten, die sie erlebt hat, beinahe lakonisch als Selbstverständlichkeit schildert - für sie sind sie es auch, sie kennt seit ihrer Geburt keine andere Welt als die der Hütte, kein anderes Gesetzt als das Wort ihres Vaters - ließ mich zwischen Mitgefühl und eiskaltem Grausen schwanken.

Ich habe an einem Nachmittag mit dem Buch begonnen - und es in derselben Nacht beendet. In einem Schwung weggelesen, weil es mich so fesselte. Jedes Magenknurren, jeder Anflug von Durst, jeder Gang ins Bad waren mir eine äußerst lästige Unterbrechung der Lektüre.

Chapeau, Romy Hausmann, zu diesem Debüt!

Veröffentlicht am 04.04.2019

Nichts für Zuckerphobiker

Der Duft von Schokolade (eBook)
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Eine Warnung. vorweg: Wer gerade auf seine schlanke Linie achtet und/oder Süßem nichts abgewinnen kann, sollte unbedingt die Finger von diesem Roman lassen! Er macht unweigerlich Appetit auf Schokolade, ...

Eine Warnung. vorweg: Wer gerade auf seine schlanke Linie achtet und/oder Süßem nichts abgewinnen kann, sollte unbedingt die Finger von diesem Roman lassen! Er macht unweigerlich Appetit auf Schokolade, Kuchen, Torte, Kakao …

Wien im Frühling 1881. Der junge Leutnant August Liebeskind hat seinen Dienst bei der Armee quittiert. Im Herbst, so ist es geplant, wird er in die Schokoladenfabrik seines Onkels eintreten, doch zunächst blickt er einem Sommer voller Muße entgegen. Da begegnet er Elena Palffy: selbstbewusst, unabhängig, unkonventionell und wie August eine schwelgerische Schokoladenliebhaberin. Anfänglich ist August von Elena irritiert, dann fasziniert, schließlich – wen wundert’s – verliebt er sich in die geheimnisvolle Fremde.

Zugegeben, der Plot erscheint zunächst nicht besonders aufsehenerregend. Irgendwie meint man, alles schon in ähnlicher Form woanders gelesen zu haben: Sei es der Gegensatz von konventionellem Mann und unkonventioneller Frau („Daisy Miller“ von Henry James, „Zeit der Unschuld“ von Edith Wharton u. v. m.), sei es die epische Huldigung der Schokolade (Joanne Harris: „Chocolat“) oder die literarische Beschäftigung mit dem Duft (Patrick Süskind: „Das Parfum“). Und doch lohnt sich die Lektüre, denn Ewald Arenz gelingt es meisterhaft, diese Versatzstücke auf wunderbare Art neu zu arrangieren und der Geschichte einen unerwarteten Twist zu geben.

So verleiht seine olfaktorische Sensibilität dem Protagonisten beispielsweise beinahe übersinnliche Fähigkeiten – das mag krude klingen, passt aber erstaunlich gut. Zum anderen ist diese Geschichte ein wahrhaft multisensorischer Genuss. Es ist bemerkenswert, wie der Autor es schafft, Aromen so in Worte zu fassen, dass man sie buchstäblich schmecken und riechen kann. Dazu ein Beispiel vom Beginn des Romans, als August die Konditorei Demel betritt:

„Als Erstes und am stärksten kam einem, wie als Begrüßung, schon an der Tür der Geruch des frisch röstenden und aufgebrühten Kaffes entgegen. Dann der Zigarrenrauch, der einzige Duft, den man sehen konnte. Und dann, ganz zart und jeder unverwechselbar, die vielen kleinen Düfte. Bitter, von geraspelter Schokolade. Oder geschmolzen und süß, von den Schokoladen der Damen an kühlen Tagen wie heute, mit einem Hauch Vanille darin. Tragant, der einfache, süße Geruch (…). Honig (…): rosigsüß (…), blütensüß (…), walddunkel (…), durchsichtig fein (…).“

Zu guter Letzt: Eigentlich lese ich gerne Bücher in der Jahreszeit, in der sie spielen. Doch obwohl die Handlung im Sommer angesiedelt ist, passt „Der Duft von Schokolade“ auch wunderbar zum Advent, zu heißem Kakao und Gebäck, zu Zimt und Honig, Nüssen und Datteln …

Veröffentlicht am 01.04.2019

Tröstlich und Hoffnung spendend

Der Wal und das Ende der Welt
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„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“

St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig ...

„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“

St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig später strandet ein Wal. Diese beiden sonderbaren Geschehnisse bilden den Auftakt zu einer Reihe von Ereignissen, die nicht nur das Leben der Dorfbewohner für immer verändert. Denn es steht, wie der Titel andeutet, nichts weniger als das Ende der Welt, wie wir sie kannten, bevor. Und das ist näher und realistischer, als sich manch einer – auch der Leser – denken kann, denn „manchmal ist die Übertreibung näher an der Wirklichkeit als die Wahrheit“.

Zugegeben, ich habe mich mit dem Anfang des Romans ein wenig schwergetan. Das lag zum einen am Erzählstil und der Figurenzeichnung: Der Erzähler wendet sich anfänglich einige Male direkt an den Leser:

„Sollten Sie es also einmal nach St. Piran schaffen (was gar nicht so einfach ist), werden Sie die Geschichte auf der Straße und im Pub zu hören bekommen; und sollten Sie einen der Dorfbewohner danach fragen, könnte es sein, dass diese Sie auf eine Bank setzt, von der aus man auf den wogenden Ozean blickt, und Ihnen dort genau diese Geschichte erzählen.“

Das muss man mögen; ich persönlich mag diese verschwimmende Grenze in der Regel nur bedingt. Doch letztlich habe ich mich daran gewöhnt und irgendwann störte ich mich gar nicht mehr daran, sondern wusste den nicht zu leugnenden Charme dieser Erzählform zu schätzen.

Auch mit den handelnden Figuren fremdelte ich anfänglich. Sie werden so schrullig geschildert, als seien sie einer Folge „Inspector Barnaby“ entsprungen.
Da ist zum Beispiel Charity Choke: „Sie war gerade siebzehn, mit einem so frischen Teint, dass ihre Wangen glänzten wie Kleehonig. In St. Piran sagte man, sie sei ‚spät erblüht‘ […]. ‚Bäume, die spät erblühen‘, sagte Martha Fishburne gern, ‚blühen oft am schönsten.‘ Und Martha war Lehrerin. Sie musste es also wissen.“ Oder Kenny Kennet, „der Strandgutsammler. Er durchkämmte den Kies der östlichen Bucht auf der Suche nach Muscheln und Krebsen, nach Strandgut und Treibholz. Wenn ein schönes Stück dabei war, würde er aus dem Treibholz Kunstwerke machen, die er im nächsten Sommer an Touristen verkaufen könnte.“

In dieser Form werden auch die anderen Figuren geschildert, mehr Stereotyp als wirklicher Charakter, und insgesamt etwas zu flach. Sie waren mir alle ein wenig zu überzeichnet; auch daran musste ich mich erst gewöhnen, doch dann fand ich sie in aller Schrulligkeit überaus liebenswert.

Zum anderen schien mir der Roman am Anfang nicht so richtig zu wissen, wohin er will bzw. was er denn nun eigentlich sein will. Erzählstil und Figurenentwurf schienen auf eine Schnurre hinzudeuten; dann wechselt das Setting in einer Rückblende zum Finanzdistrikt in der City of London. Der an den Strand gespülte junge Mann, Joe, entpuppt sich als Banker, der offensichtlich einen folgeschweren Fehler begangen hat. Okay, also keine Schnurre, sondern ein Wirtschaftskrimi, dachte ich – doch auch das erwies sich als Trugschluss. Ein Gespräch zwischen Joe und seinem Chef lässt schließlich die eigentliche (und ganz wunderbare!) Dimension des Romans erahnen:

„Sie sind Mathematiker. Sie wissen, was mit komplexen Systemen geschieht. Plötzlicher, dramatischer, katastrophaler Kollaps. […] Haben Sie mal von der These gehört, dass unsere Gesellschaft nur drei volle Mahlzeiten von der Anarchie entfernt ist?“

Und von da an konnte ich das Buch kaum noch aus der Hand legen. Denn hier geht es um nichts weniger als die Frage, wie dünn die Grenze zwischen Zivilisation und Anarchie ist, was das Menschsein ausmacht, kurz: was Menschlichkeit bedeutet. Deshalb: klare Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 25.03.2019

Wie kann es nur soweit kommen?

Kleine Schwester
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Wann immer die Nachrichten von misshandelten, vernachlässigten, verhungerten Kindern berichten, bin ich traurig, fassungslos, schockiert und stinkwütend. Und ich frage mich: Was, zum Teufel, sind das für ...

Wann immer die Nachrichten von misshandelten, vernachlässigten, verhungerten Kindern berichten, bin ich traurig, fassungslos, schockiert und stinkwütend. Und ich frage mich: Was, zum Teufel, sind das für ‚Eltern‘, was ist das für ein Umfeld, das nichts geahnt, nichts gewusst, nichts gemerkt haben will??!

Das von mir sehr geschätzte Autorinnen-Duo Martina Borger und Maria Elisabeth Straub liefert mit seinem Roman Kleine Schwester, erschienen im Diogenes Verlag, eine Art (fiktionalen) Hintergrundbericht, wie es so weit kommen kann, wie eine solche Tragödie (auch wenn das Wort viel zu schwach dafür ist) ihren Lauf nimmt, Eigendynamik entwickelt und auf ein scheinbar unausweichliches Ende zusteuert.

Die Jessens, Mutter Ela, Vater Carl und Tochter Lilly, sind eine ganz gewöhnliche Familie. Okay, Ela will von ihrer Tochter zu deren Verdruss nicht ‚Mama‘ genannt, sondern mit ihrem Vornamen angesprochen werden, und sie will „nicht so sein […] wie andere Mütter“, mit „Pudel-Dauerwellen, dickem Hintern und Hausschuhen“, so what? Doch auch wenn Ela keine gewöhnliche Mutter sein will, so will sie auf jeden Fall eines sein: eine zweifache Mutter. Carl ist nach einer Krankheit nicht mehr zeugungsfähig und Ela, deren Gedanken bald nur noch um ihren unerfüllten Kinderwunsch kreisen, wird zusehends aggressiver, fragiler und unberechenbarer. Irgendwann scheint eine Lösung gefunden zu sein: Die Jessens nehmen die fünfjährige Lotta bei sich auf. Elas Wunsch hat sich erfüllt, das traumatisierte Heimkind Lotta – das eigentlich Dagmar heißt, doch dieser Name ist Ela zu „hässlich – hat ein neues Zuhause. Doch ‚Lotta‘ kann ihre unausgesprochene Aufgabe, nämlich Elas beschädigte Psyche zu heilen, nicht erfüllen, und Elas Euphorie über die neue ‚Tochter‘ wandelt sich langsam, aber unaufhaltsam von Zuversicht zu Frust, Gleichgültigkeit, Hass …

Ich habe das Buch vor einigen Jahren in einem Rutsch gelesen, konnte meine Augen nicht von den Seiten lösen und es nicht aus der Hand legen. Die Geschehnisse sind so ungeheuerlich und gleichzeitig aufgrund der gewählten Erzählperspektive so eindringlich, dass ich mich diesem Strudel nicht entziehen konnte. Die Geschichte der Jessens wird aus Sicht der mittlerweile zwölfjährigen leiblichen Tochter Lilly erzählt. Lilly ist einerseits unmittelbar in die Geschehnisse involviert, nimmt aber andererseits aufgrund ihres Kindseins die Rolle der handlungsunfähigen Beobachterin ein. Sie ist zu jung, um die Verantwortung für das, was in ihrem Zuhause passiert, zu übernehmen, vielleicht auch zu naiv, hilflos und loyal, um Hilfe zu erbitten. Der kindliche, fast unbeteiligte Tonfall der Ich-Erzählerin ist einerseits streckenweise nur schwer zu ertragen, verleiht aber andererseits den Ereignissen eine unglaubliche Intensität.

Ein Buch, das einem den Hals zuschnürt, das Herz verkrampft, den Kopf sprengt.

Veröffentlicht am 11.03.2019

Dieses Buch müsste man eigentlich zweimal lesen

Niemals ohne sie
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„Die Familie ist eine Begegnung mit dem, was man am tiefsten in sich vergraben hat.“
Die Cardinals sind eine außergewöhnliche Familie: Ihre 21 (sic!) Kinder wachsen wild, zwanglos und frei auf, mit eigenen, ...

„Die Familie ist eine Begegnung mit dem, was man am tiefsten in sich vergraben hat.“
Die Cardinals sind eine außergewöhnliche Familie: Ihre 21 (sic!) Kinder wachsen wild, zwanglos und frei auf, mit eigenen, selbst geschaffenen Regeln, Normen und Werten. Sie leben in der mittlerweile arg heruntergekommenen Minensiedlung Norco, einst geschaffen in der Hoffnung auf das große Geld, das die gigantischen Erzvorkommen versprachen, das dann aber aufgrund des Preisverfalls ausblieb. Der Ort gleicht mehr und mehr einer Geisterstadt, bewohnt von den wenigen verbliebenen Siedlern, von den Cardinal-Kindern als „Landeier“ verspottet und aufs Übelste drangsaliert – und eben den Cardinals selbst. In Norco sind sie „Gewinner. Wir gehören zu denen, die sich weder verbiegen noch brechen lassen, zu denen, die nur ihrem Instinkt folgen, die ihre Flügel ausbreiten und vor nichts zurückschrecken. In Norco waren wir die Kings.“ Und so führen sie sich auch auf: wie Könige, denen die Welt gehört und die sich um nichts scheren: „Manchmal zogen wir zu acht oder zehnt los. Wir gingen ein leerstehendes Haus abfackeln, das Ungeheuer mit dem langen Schwanz jagen oder sonst irgendetwas anstellen […].“
Zu diesem „Anstellen“ gehört beispielsweise die Tradition, dass die Cardinal-Kinder mit etwa sieben Jahren den Umgang mit Dynamit lernen, angeleitet von ihrem Vater: „Wenn du keine Angst vor dem Dynamit hast, bist du tot. Ich habe mehr Angst vor Dynamit als vor Anwälten.“ Oder die Anti-Landei-Kommandos, die Bärendynamitfalle sowie die berüchtigte (und höchst unappetitliche) „Katzenparade“, die hier nicht näher erläutert werden soll. Bei 21 Kindern verliert man leicht den Überblick, sollte man meinen: „tja … wir waren so viele, da gingen ein paar in der Menge unter.“ Oder gehen sie doch nicht nur „in der Menge“ unter? Was sich anlässt wie die Beschreibung einer unkonventionellen Kindheit, entpuppt sich mehr und mehr als eine Erzählung über eine mit allen Kräften geheim gehaltene Familientragödie, eine Geschichte von Liebe und Grausamkeit, von dem Wunsch, die Liebsten zu beschützen, und der späten Einsicht, dass Geheimnisse nur eine kurze Halbwertzeit haben.
Und immer wieder spielen die stillgelegte Erzmine und die unermüdliche Suche des Vaters – der im Alter von 81 Jahren zum „Erzsucher des Jahres 1995“ gekürt wird – nach Erzadern eine wiederkehrende und bedeutungsvolle Rolle. Diese Auszeichnung und der dazugehörige Festakt werden schließlich zum Anlass, das Familiengeheimnis ein für alle Mal zu enthüllen. Wobei – ist ein Geheimnis, das fast alle teilen, überhaupt noch ein Geheimnis?
„Niemals ohne sie“ ist ein bemerkenswerter Roman, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Das von fast allen Familienmitgliedern mühsam bewahrte Geheimnis enthüllt sich dem Leser schrittweise, wie das Häuten einer Zwiebel. Dazu wählt die Autorin eine spannende Erzählperspektive: Die Geschichte der Cardinals wird auf zwei Zeitebenen von einem personalen Erzähler berichtet – doch ist dieser Ich-Erzähler in jedem Kapitel eine andere Romanfigur. Und so, wie das Alter, der Entwicklungs- und Kenntnisstand des jeweiligen Cardinal-Kindes zum Zeitpunkt des Geschehens variiert, so unterscheiden sich auch die Inhalte der einzelnen Kapitel. Den Anfang macht Denis, genannt Matz, das Nesthäkchen der Familie. Seine Sicht ist eingeschränkt, seine Erinnerungen an die Kindheit rosig gefärbte Nostalgie. Zwar nimmt er als Erwachsener wahr, dass da irgendetwas ist, irgendein Geheimnis, an das er mit seinen Fragen rührt, das ihm jedoch nicht wirklich zugänglich ist. Er ist offenkundig der Einzige, der wirklich nichts von der Familientragödie weiß, allenfalls etwas ahnt – und so bleibt dem Leser auch nur eine vorsichtige Ahnung, dass die Vergangenheit der Cardinals mehr vorhält als eine Ansammlung von Anekdoten. Nacheinander kommen andere Cardinal-Kinder zu Wort: Émilienne, genannt Jeanne d’Arc, die Älteste, die das Geheimnis unter allen Umständen bewahren will. Carmelle, genannt Tommy, die für die Geheimniswahrung unverzichtbar ist, die aber nicht mehr schweigen will und kann. Jede der Figuren schildert ihre Sicht der Dinge und nimmt den Leser mit in ihre persönlichen Erinnerungen, Schuldgefühle, Nöte. Manches wiederholt sich, erscheint jedoch in einem anderen Licht, anderes ist neu – und so setzt sich mosaikartig eine ergreifende, erschütternde Geschichte zusammen.
Ich fand es beeindruckend, wie es Jocelyne Saucier gelingt, jeder ihrer Figuren eine eigene Stimme und einen eigenen Sprachduktus zu verleihen, dabei jedoch einen Stil zu finden, der alle einzelnen Erzähler harmonisch und flüssig miteinander verbindet. Auch die individuelle Charakterisierung der prägnanteren Figuren – einige Geschwister gehen für den Leser tatsächlich „in der Menge unter“, 21 Protagonisten wären dann doch zu viel – ist eine Leistung, die man nicht genug würdigen kann: ihre Eigenheiten, Marotten und nicht zuletzt die fantasievollen Spitznamen, die die Kinder einander gegenseitig verleihen („Gelber Riese“, „Wapiti“, „Gandhi“, „El Toro“ u. v. m.), verleihen den Figuren eine bemerkenswerte Plastizität und Lebendigkeit.
„Niemals ohne sie“ ist aus meiner Sicht unbedingt lesenswert. Eigentlich müsste man es sogar zweimal lesen, da sich erst bei der zweiten Lektüre, nachdem sich dem Leser das Geheimnis enthüllt hat, die vielen kleinen Hinweise und Andeutungen erschließen.
Am Ende blieben mir nur zwei Fragen: 1.) Warum hat es fast zwei Jahrzehnte gedauert, bis der Roman für den deutschen Buchmarkt entdeckt wurde? 2.) Warum, Herrschaftszeiten, musste man den wunderbaren, überaus passenden Originaltitel „Les héritiers de la mine“ („Die Erben der Mine“) zu dem absolut nichtssagenden „Niemals ohne sie“ umformulieren?!

[Rezensionsexemplar]