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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 11.07.2019

Berührend, traurig, schön!

Ein wenig Glück
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Ein Bahnübergang in Buenos Aires. Die Schranke ist unten, das Warnlicht blinkt. Doch kein Zug weit und breit. Die Schranke gilt schon seit längerem als defekt, und nach einigen Minuten vergeblichen Wartens ...

Ein Bahnübergang in Buenos Aires. Die Schranke ist unten, das Warnlicht blinkt. Doch kein Zug weit und breit. Die Schranke gilt schon seit längerem als defekt, und nach einigen Minuten vergeblichen Wartens umrundet der Fahrer des ersten Autos in der Warteschlange die Schranke, fährt über die Gleise. Weiterhin kein Zug. Der Fahrer des zweiten Wagens tut es ihm nach. Und noch immer kein Zug. Im dritten Auto sitzt Marilé mit ihrem sechsjährigen Sohn Federico und seinem Schulkameraden, sie will mit den Kindern ins Kino. Sie sind spät dran, also umkreist auch sie die Schranke, fährt auf die Gleise. Da kommt der Zug … Zwanzig Jahre später kehrt Marilé aus beruflichen Gründen nach Buenos Aires zurück. Sie heißt jetzt Mary Lohan und lebt in Boston, niemand erkennt sie. Niemand bis auf einen jungen Lehrer an der Schule, die Mary zertifizieren soll: Federico.

"Ein wenig Glück" ist ein sehr berührendes Buch – und das liegt vor allem daran, dass die erschütternden, zu Tränen rührenden Ereignisse von der Ich-Erzählerin so gar nicht rührselig geschildert werden. Denn gerade Marys Sachlichkeit, Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit sich selbst und ihrer eigenen Schuld gegenüber, ihre fast lakonische Art, die vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse zu schildern, entwickeln eine Eindringlichkeit, der ich mich nicht entziehen konnte, und so manches Mal hat es mir während der Lektüre die Kehle zugeschnürt und die Tränen in die Augen getrieben. Unbedingte Leseempfehlung – allerdings müsste man dieses Buch aus meiner Sicht mit einem Extra-Warnhinweis für Mütter von (kleinen) Söhnen versehen: Wenn Mary von ihrem Sohn erzählt, von ihrer Liebe zu ihm und den Gründen, ihn dennoch zu verlassen – das ist so herzzerreißend! Ich hatte während des Lesens dauernd Wunsch, meinen Sohn zu berühren und festzuhalten, mich seiner Gegenwart zu vergewissern, so nah ging mir die Geschichte.

Veröffentlicht am 13.06.2019

Ein bemerkenswertes Debüt

Eine Geschichte der Wölfe
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Gestern begonnen, gestern beendet – in einem Rutsch durchgelesen: Eine Geschichte der Wölfe von Emily Fridlund.

Die vierzehnjährige Linda lebt mit ihren Eltern in den Wäldern Minnesotas. Die drei sind ...

Gestern begonnen, gestern beendet – in einem Rutsch durchgelesen: Eine Geschichte der Wölfe von Emily Fridlund.

Die vierzehnjährige Linda lebt mit ihren Eltern in den Wäldern Minnesotas. Die drei sind die ‚Überreste‘ einer Hippie-Kommune, die einst in der Holzhütte, die der Familie nun als Heim dient, lebte. Lindas Leben ist einsam, eintönig, spartanisch. Mit den Mädchen an ihrer High School kann sie nichts anfangen, für sie ist Linda nur der ‚Freak‘, also hackt sie lieber Holz, geht mit den vier Hunden in den Wald, paddelt auf dem See, und wenn es nötig ist, stapft sie auch acht Kilometer durch den knietiefen Schnee, um Einkäufe zu erledigen. Überdies wird ihre Schulzeit von einem Skandal erschüttert, in den der Geschichtslehrer und die hübsche Klassenkameradin Lily verwickelt sind.

Lindas Leben beginnt sich zu ändern, als die junge Familie Gardner auf der anderen Seite des Sees ihr Haus baut und einzieht. Mit der Mutter Patra versteht sie sich auf Anhieb gut, der vierjährige Sohn Paul wächst ihr ans Herz, einzig der Vater Leo bliebt lange Zeit nur ein Schemen, er ist auf Hawaii und sucht Protogalaxien. Die wortkarge, eigenbrötlerische Linda beginnt, auf Paul aufzupassen, sie ist fasziniert von der Zärtlichkeit und Hingabe, die Patra ihrem Sohn zuteil werden lässt – etwas, das sie von ihren Eltern nicht kennt, die Linda zwar freundlich, aber größtenteils mit Desinteresse und Gleichgültigkeit behandeln. Zwar gibt es bei den Gardners Details, die Linda verwundern, ja, irritieren. Vater Leo, der Astronom, schreibt Texte, die seine Frau redigiert. Linda findet Bücher und Broschüren mit Titeln wie ‚Voraussagen und Versprechungen: Außerirdische Körper‘. ‚Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift‘. ‚Anforderungen des Lebens im Weltraum‘. Merkwürdig? Ja. Beunruhigend? Nein. Auch als der kleine Paul ihr ernsthaft erklärt, er sei „ein makelloses Kind Gottes“, schreibt Linda das eher seiner Altklugheit zu als sich darüber Sorgen zu machen. Die Atmosphäre im Haus verändert sich, als Leo zurückkehrt, und auch Paul scheint nicht mehr der Alte zu sein. Die Situation spitzt sich zu, als Linda die Familie auf einen Wochenendausflug begleitet …

Ich habe dieses Buch förmlich verschlungen! Die Ich-Erzählerin Linda beschreibt ihre Erlebnisse, deren dramatisches Ausmaß sich im Laufe der Handlung immer wieder andeutet, aber doch recht langsam entfaltet, nüchtern und präzise. Lindas sehr spezielle Biografie, ihre Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit, die sie sich selbst kaum einzugestehen vermag, tragen sicherlich zu ihrem Handeln – oder in diesem Fall: Nicht-Handeln – bei. Und doch konnte ich nicht anders, als mich in diesen einsamen Teenager hineinzuversetzen, mich zu fragen, ob ich in ihrer Situation anders gehandelt hätte, ja, anders hätte handeln können. Große Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 06.05.2019

Warm und gelb wie ein Spätsommertag. Unbedingte Leseempfehlung!

Alte Sorten
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Manchmal beschert einem das Schicksal Begegnungen, die sich als lebensverändernd erweisen. Als Sally – siebzehn, zornig, essgestört – und die dreißig Jahre ältere Landwirtin Liss – einsam, stoisch, wortkarg ...

Manchmal beschert einem das Schicksal Begegnungen, die sich als lebensverändernd erweisen. Als Sally – siebzehn, zornig, essgestört – und die dreißig Jahre ältere Landwirtin Liss – einsam, stoisch, wortkarg – zufällig aufeinandertreffen, ahnt keine der beiden Frauen, dass die andere ihr Dasein für immer verändern wird. Beide sind, jede auf ihre Art, versehrt, „manche hatten außen Narben, manche innen“. Liss lässt Sally auf ihrem Hof wohnen, Sally hilft Liss bei der Landarbeit. Die beiden unterschiedlichen und irgendwie doch einander gleichenden Frauen nähern sich vorsichtig, gleichwohl nicht ohne Spannungen, einander an: Beide haben ihre Geheimnisse, ihre mehr oder weniger sichtbare Verletzungen. Und dann sind da noch die Dorfgemeinschaft, Liss feindselig gegenübersteht und das Zusammenleben der beiden misstrauisch beäugt, und Sallys Eltern, die ihre minderjährige Tochter suchen …

Die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei auf den ersten Blick ungleichen Frauen birgt oftmals das Risiko, in die Untiefen des ‚Frauenroman‘-Kitsches abzurutschen – allerdings nicht, wenn ein so feinsinniger, kluger Autor wie Ewald Arenz sich ihrer annimmt. Er erzählt das Keimen, das zaghafte Sprießen und schließlich das Aufblühen dieser Freundschaft so behutsam und warm, sensibel und wortgewandt, wie es wohl kaum ein Zweiter vermag.

An diesem Buch liebte ich schlichtweg alles: die Story, den Schauplatz, die Figuren, die Erzählperspektive und allem voran die Sprache. Der Roman lebt in erster Linie von seinen beiden Protagonistinnen, doch auch die Nebenfiguren sind vielschichtig und niemals stereotyp. Die Geschichte ist aus auktorialer Erzählperspektive geschrieben, doch variieren Sprachduktus und -stil so gekonnt zwischen Liss und Sally, dass ich während des Lesens das Gefühl hatte, zwei Ich-Erzählerinnen zuzuhören. Ewald Arenz‘ Sprache kann ich gar nicht hoch genug loben: präzise und poetisch, mit allen Sinnen erfahrbar und doch leicht lesbar. Die Lektüre wurde für mich zu einer nahezu synästhetischen Erfahrung, und das von der ersten Seite an:

„Auf der Kuppe der schmalen Straße durch die Felder und Weinberge flimmerte die Luft über dem Asphalt. Als Liss mit dem alten offenen Traktor langsam hügelan fuhr, sah sie aus wie Wasser, das flüssiger war als normales Wasser; leichter und beweglicher. Sommerwasser. Man konnte es nur mit den Augen trinken.
Auf den abgeernteten, von Stoppeln glänzenden Feldern stand der Weizen noch als überwältigender Geruch nach Stroh; staubig, gelb, satt. Der Mais begann, trocken zu werden, und sein Rascheln im leichten Sommerwind klang nicht mehr grün, sondern wurde an den Rändern heiser und wisperig.“ (S. 5)

Dieses Buch zu lesen ist wie an einem Spätsommertag in einem Weizenfeld zu liegen. Warm. Friedvoll. Irgendwie ‚gelb‘.

Eine absolute, uneingeschränkte, aus tiefstem Herzen kommende Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 02.05.2019

Eines meiner Lese-Highlights dieses Jahres

Dunkelgrün fast schwarz
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„Freundschaft ist ein Gift, das langsam wirkt. Es ist nicht tödlich, aber es macht weich. […] Freundschaft macht, dass die Schreie, die die du auf der Innenseite deiner Haut tätowiert hast, hörbar werden.“ ...

„Freundschaft ist ein Gift, das langsam wirkt. Es ist nicht tödlich, aber es macht weich. […] Freundschaft macht, dass die Schreie, die die du auf der Innenseite deiner Haut tätowiert hast, hörbar werden.“ (S. 55)

Moritz, genannt ‚Motz‘, und Raffael, genannt ‚Raf‘, sind seit dem Kindergarten miteinander befreundet. Doch diese Freundschaft ist von Anfang an toxisch. Moritz ist sensibel, ein Synästhetiker, der die Menschen um sich in Farben wahrnimmt. Raf ist ungebärdig, gemein, hinterhältig; er drangsaliert seinen kleinen Bruder, die Kinder im Kindergarten und später in der Schule – und ja, auch Motz. Und doch hält Motz ihm die Treue, teils, weil es in dem Dorf, in dem sie leben, nur wenig andere Kinder gibt, teils, weil er Raf aufrichtig gernhat. Mit Raf befreundet zu sein, ist „das Schlimmste und das Beste zugleich“ (S. 119). Als sie im Teenageralter sind, stößt Johanna zu ihnen, Vollwaise und einsam. Aus der Zweier- wird eine Dreierfreundschaft, und, man ahnt, es, das geht auf Dauer nicht gut. Sie verlieren sich aus den Augen, bis Raf nach sechzehn Jahren unvermutet vor Motz‘ Tür steht, noch immer außergewöhnlich gutaussehend, mit einem Lächeln, „das Männer versöhnlich macht und Frauen ruhelos“ (S. 11). Raf „sieht aus wie einer, der das Leben leicht nimmt, weil das Leben es gut mit ihm meint. Man bekommt das Gefühl, etwas von dieser Leichtigkeit könnte abfärben, stünde man nur nah genug bei ihm“ (S. 38). Doch Raf ist noch immer undurchsichtig, sein Motiv, nach so vielen Jahren bei Motz aufzutauchen, rätselhaft. Dennoch lässt sich Motz, der beständige, freundliche, liebe Motz, dessen Freundin gerade ihr erstes gemeinsames Kind erwartet, erneut auf diese unheilvolle Freundschaft ein, lässt sich von dem Charme des Freundes wieder einfangen, unterwirft sich zunehmend Rafs Einfluss. Bis er schließlich erkennen muss, dass sich die Vergangenheit nicht einfach abschütteln lässt, denn „irgendwann holen dich die Dinge, vor denen du weggelaufen bist, ein. Oder du rennst ihnen entgegen und bist blöd genug, zu glauben, du könntest ihnen ausweichen“ (S. 422).

Dieser Roman ist eines meiner unangefochtenen Lese-Highlights dieses Jahres (wenn nicht überhaupt). „Dunkelgrün fast Schwarz“ ist eine Geschichte von Freundschaft und Abhängigkeit, von Liebe und Einsamkeit, von Enttäuschung und Erlösung. Und das ist so eindringlich – ich möchte fast sagen: meisterhaft – erzählt, dass ich während der Lektüre das Gefühl hatte, die Geschichte sickert in mich ein, setzt sich in mir fest und ‚macht was mit mir‘. Dass man eine Erzählung während des Lesens ‚sieht‘ und ‚hört‘, ist eine alltägliche Leseerfahrung. Manchmal konnte ich einen Roman auch ‚riechen‘ („Das Parfum“ von Patrick Süskind), bisweilen sogar ‚schmecken‘ („Der Duft von Schokolade“ von Ewald Arenz). Mareike Fallwickls Buch ging für mich noch einen Schritt weiter, diese Geschichte konnte ich überdies förmlich fühlen: Eine Berührung fühlt sich an „als säße eine Spinne auf meiner Haut, genau da, wo ihre Finger sie gestreift haben“ (S. 29), die Luft ist „plötzlich nicht mehr luftförmig […], sondern klebrig. Es juckt auf ihrer Haut, überall“ (S. 423).
Meine Lektüre wurde, ich kann es nicht anders sagen, zu einem multisensorischen Erlebnis – wenn nicht sogar zu einem synästhetischen. Mareike Fallwickl vermischt unterschiedliche Sinneseindrücke miteinander, und das auf einzigartige, kunstvolle Weise:

„Ihre Wohnung ist keine Wohnung, sondern ein Zimmer und das Zimmer ist ein Loch. Umgeben von dicken Mauern ist das Loch, grausig riecht es und gruftig, nach saurem Käse und schwarzgeriebenen Fingern.“ (S. 52)

„Ein Zorn, den man nicht haben darf, der einem vom anderen aberkannt wird, ist kühl und blau und halbflüssig, er hat eine Konsistenz wie Pudding, füllt den Kopf aus und das Herz.“ (S. 118)

Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen erzählt; sie spielt in der Gegenwart und auf verschiedenen Vergangenheitsebenen, die die vergangenen Geschehnisse indes nicht chronologisch wiedergeben, sondern springen von der früheren zur späteren Kindheit der Jungen und dann wieder in ihre Teenager- bzw. Junge-Erwachsene-Jahre. Doch ist dies niemals verwirrend, sondern fügt sich zu einem harmonischen Ganzen, zu einem umfassenden Psycho- und Soziogramm dieser Freundschaft zusammen. Die Ereignisse werden aus der Perspektive dreier Figuren geschildert: Moritz‘ Sicht (in der dritten Person) sowie die seiner Mutter Marie und Johannas (jeweils aus der Ich-Perspektive). Allein durch diese Erzählperspektiven wird Moritz‘ Zurückhaltung, seine Passivität unterstrichen – er ist irgendwie immer der, mit dem ‚etwas gemacht‘ wird. Interessanterweise wird die Geschichte niemals aus Rafs Sicht erzählt – er bleibt immer Anschauungs-, Beobachtungsobjekt, seine Handlungen und Motivationen bleiben unerklärt und undurchsichtig. Überhaupt hat dieser Roman so unglaublich vielschichtige Figuren mit Ecken und Kanten, mit wunden Punkten, Schwächen, Talenten, Stärken, wie ich sie selten erlebt habe: echte Charaktere statt oberflächlicher Typen.

Und dann gibt es da noch etwas, das mich mitten ins Herz getroffen hat. Ich weiß nicht, vielleicht ist es so ein „Mama-Ding“ –aber wie Mareike Fallwickl in diesem Roman über Kinder schreibt – über die Liebe zu ihnen, die Gefühle, die sie auslösen, die Bedingungslosigkeit der Liebe, die man ihnen entgegenbringt (oder auch nicht), das argwöhnische Beobachten all dessen, was um sie herum geschieht, das niemals endende Beschützen-Wollen –, sprach mir dermaßen aus der (Mama-)Seele, dass ich das Buch streckenweise mit einem Kloß im Hals aus der Hand legen und das Gelesene erst einmal sacken lassen musste. Dazu einige meiner liebsten, eindringlichsten, berührendsten Textstellen:

„Seit ich Kinder habe, weiß ich, dass Wärme einen Geruch hat, Ein Kind riecht nach Wärme, vor allem an den Schläfen, am Haaransatz, es duftet nach einem Gefühl, für das es keinen Namen gibt, nach Weichheit, nach Vertrauen. […] Seit ich Kinder habe, friere ich nicht mehr.“ (S. 16)

„Kinder kennen keine Zurückhaltung. Wenn sie etwas schmerzt, körperlich oder seelisch, verziehen sie ihr Gesicht, und die Tränen springen ihnen aus den Augen. Die Reaktion ist unmittelbar. Ihr Zorn ist eine Urgewalt, ihr Schmerz ist es auch.“ (S. 211)

„Kinder sind Jo ein Graus, auch die hübschen, die mit den Leuchtaugen und Zuckergoscherln. Sie sind so unmittelbar, sie halten keinen erlernten Abstand ein, noch nicht, sie haben diesen ausgehängten Blick, der nicht mit einem Gehirn verbunden zu sein scheint, der überall hineingeht. Kinder starren, sie schauen nicht weg, mit offenem Mund glotzen sie. Ihre Finger sind klein und klebrig, wie Spinnenbeine so flink.“ (S. 352)

Wenn ich mir vorstelle, dass es sich bei diesem wort- und sprachgewaltigen Werk um einen Debütroman (sic!) handelt, kann ich mir kaum ausmalen, was Mareike Fallwickl zustande bringt, wenn sie sich erst einmal ‚warmgeschrieben‘ hat. Ihr neues Buch erscheint voraussichtlich im August dieses Jahres – und ich weiß schon, wer am Erscheinungstag mit scharrenden Hufen vor der Buchhandlung stehen und sie gleich bei Öffnung stürmen wird. Ich.

Veröffentlicht am 08.04.2019

Ich bin geflasht

Vater unser
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Die Sprache ist lässig wie ein Schulterzucken, mit zahlreichen österreichischen Einsprengseln, die dankenswerterweise nicht als mühsam aufgetragene Lokalkolorit-Patina daherkommen, sondern einfach passen. ...

Die Sprache ist lässig wie ein Schulterzucken, mit zahlreichen österreichischen Einsprengseln, die dankenswerterweise nicht als mühsam aufgetragene Lokalkolorit-Patina daherkommen, sondern einfach passen. So manches Grinsen hat mir Angela Lehners unbestreitbares Talent für Vergleiche entlockt. Da ist ein Beamter „klein und bullig wie ein Eierbecher“, die Mutter „langweilig wie ein Beutel Kamillentee“, eine Mit-Patientin hat „Ohren größer als Vorarlberg“ und der Imbiss ist „trostloser als ein dickes Kind auf einer Poolparty“. Fand ich spaßig.

Zur Handlung: Im Zentrum des Romans steht die Protagonistin und Ich-Erzählerin Eva Gruber, die aufgrund ihrer Behauptung, eine Kindergartenklasse erschossen zu haben, in die Psychiatrie eingewiesen wird. Die Behauptung war eine Lüge – und auch nicht Evas letzte – und diente einzig dem Ziel, in derselben Einrichtung untergebracht zu werden wie Evas Bruder Bernhard. Denn um ihn, den lebensbedrohlich Magersüchtigen, geht es Eva in erster Linie, darum, ihn zu „retten“. Und Eva weiß auch schon wie: Sie müssen ihren Vater umbringen, diese Wurzel allen Übels. Er ist das Geschwür, das unter der Haut schwärt: „Jedes Jahr füllt es sich mehr mit Eiter, nur um eines Tages überraschend zu platzen und den ganzen Menschen implodieren zu lassen.“

Das Buch ist dreigeteilt, jeder Teil im Sinne der Trinität jeweils mit „Vater“, „Sohn“ und „Heiliger Geist“ überschrieben. Und obwohl die drei Teile jeweils einen anderen Schwerpunkt haben, fügen sie sich zu einem stimmigen Ganzen. Während des ersten Teils, Evas „Therapie“, war ich hin- und hergerissen, ob ich Eva schütteln will und ihr sagen, sie möge sich jetzt mal bitte am Riemen reißen – oder ob ich sie nicht doch besser mit nach Hause nehme, ihr einen Teller heiße Suppe gebe und ihr sage, sie solle sich mal richtig ausschlafen. Zu Beginn des zweiten Teils (ohne zu spoilern: die Szene, in der Eva die alte Frau beobachtet, die in der prallen Sonne steht, und dann mit ihr, nennen wir es: ‚interagiert‘) war mir klar: Ich spiele im Team Eva. Auch wenn sie lügt und manipuliert, das Klinikpersonal verarscht und man als Leser*in nie weiß, was Dichtung ist und was Wahrheit, ob die geschilderten Ereignisse Wirklichkeit sind oder nur in Evas Kopf existieren. Mit der Eva als Kind, wie sie sich in ihren Rückblicken darstellt („Ich bete nicht für einen Lutscher“), wäre ich als Kind gern befreundet gewesen. Auch oder gerade weil meine Mutter diese Freundschaft höchstwahrscheinlich argwöhnisch beäugt hätte. Und die erwachsene Eva nehme ich mit heim und koche ihr Suppe. Auch Alphatiere müssen sich mal ausruhen.

Ungeachtet meiner nicht zu leugnenden Sympathie für die Autorin, kann ich schon jetzt behaupten, dass „Vater unser“ zu meinen Lesehighlights 2019 gehört. Very well done, Angela Lehner!