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Veröffentlicht am 19.09.2019

"Tripping mit Karig" - gerne wieder!

Dschungel
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Das war ein gut und schnell wegzulesender, teils richtig fesselnder Roman, eine Mischung aus Abenteuer- und Reisebericht, Coming-of-Age-Story und Selbstfindungstrip plus unverpackte Gedanken über das Reisen ...

Das war ein gut und schnell wegzulesender, teils richtig fesselnder Roman, eine Mischung aus Abenteuer- und Reisebericht, Coming-of-Age-Story und Selbstfindungstrip plus unverpackte Gedanken über das Reisen im 21. Jahrhundert und die Möglichkeiten, Grenzen und Verfremdung eigener Erinnerungen. Puh, ganz schön viel auf einmal, aber Friedemann Karig gelingt es in seinem Romandebüt, das mit kleinen Abstrichen alles gut unterzubringen.

Die Geschichte wird vom namenlosen Ich-Erzähler referiert, dessen bester Freund Felix im Dschungel in Kambodscha unterwegs ist und sich seit Wochen nicht gemeldet hat. Felix' sehr präsente Mutter bittet den Erzähler, nach ihrem Sohn zu suchen, und der macht sich, trotz abratender Worte seiner Lebensgefährtin Lea und eigener Unlust auf den Weg. Was folgt, ist eine abenteuerliche Suchreise in exotisches Gebiet, die sehr anschaulich ist. Parallel dazu wird in Rückblenden die Geschichte von Felix und dem Erzähler beleuchtet: Wie die beiden Jungs beste Freunde wurden, miteinander Kindheit, Pubertät und Erwachsenenalter durchmachten, mit allen Höhen (wortwörtlich) und auch vielen Tiefen.

Wie schon eingangs erwähnt, spielen hier viele Themen eine Rolle, das stört den Lesefluss aber kaum. Mich hat schon direkt das erste Kapitel stark in seinen Bann gezogen, da geht es um Höhenangst, oder besser: die Angst vor der Sucht, in den Abgrund zu springen. Ich kenne dieses Gefühl, nur zu gut. Und ich komme mich immer komisch vor, wenn ich versuche, es jemandem zu erklären. Hier, in diesem ersten Kapitel, habe ich mich sofort und richtig verstanden gefühlt. Da hatte das Buch also gleich mal einen dicken Sympathiebonus bei mir gesammelt.

Die Schreibe von Karig hat mir grundsätzlich gut gefallen. Klar schüttelt er hier und dort vielleicht eins, zwei Mal zuviel am pseudophilosophioschen Baum, aber erstens passte das meist zu den Figuren (Aussteiger, Hippies, alternative Weltenbummler usw), zweitens war der Roman so flott und mitreißend erzählt, dass diese Fetzen schnell wieder "vorbei" waren. Einzig der für mich zu übermäßige Gebrauch von Songzitaten ging mit irgendwann auf die Nerven. Ja, gut das Dschungelthema, mit dem Dschungelbuchsong, dem Dschungel in Kambodscha und dem Jugendlager "Dschungel", hm, okay. Aber "Luc(c)a", "Freak", "Northing Compares 2U", noch ein Popsong, noch einer, noch einer, ach Herr Karig, wenn ich Bock auf Popsongs habe, die die Handlung betonen sollen, gucke ich "Moulin Rouge!", da gibt's wenigsten Ewan McGregor dazu. Für Bücher rate ich, bei dieser inflationären Verwendung, dann doch lieber: Show, don't sing!

Die Flashbacks in die Kindheit hingegen haben mir gefallen, genau die Mischung aus "klingt echt" und "bleibt rätselhaft", die sie vermutlich erzeugen sollten. Die ganze Thematik "(Ohn)Macht des Gedächtnis" finde ich grundsätzlich sowieso total spannend.

Mit dem Twist und dem Ende bin ich ein wenig am Hadern. Keine Spoiler, keine Angst, nur soviel: Ich habe den Twist tatsächlich nicht kommen sehen, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Und ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, dass ich zu sehr beim Erzähler und seiner Sicht der Dinge war - so gesehen wäre das dann ja durchaus clever konstruiert. Das Ende selbst, nun ja - irgendwie zwar stimmig und schlüssig, irgendwie aber auch unbefriedigend, weil etwas zu legendenhaft. Aber vielleicht sollte das genau so. Lieben muss ich es ja trotzdem nicht.

Geliebt habe ich zwei andere Aspekte, für mich die stärksten Momente des Buchs: Zum einen die Betrachtung des Reisens sowie unter ökologischen als auch philosophischen Aspekten. Das hat natürlich inhaltlich bei sowieso voll ins Schwarze getroffen, und noch dazu habe ich mich über viele Formulierungen gefreut, wie der "Bulemie des Reisens" oder den Stillstand der Mobilität.

Aber am besten gefallen haben mir - Kinder, nicht weiterlesen - die Beschreibungen der Drogentrips. Dieser vollkommen unsinnige, unzusammenhängende Quatsch, der total albern klingt und dämlich, der aber, wenn man das kennt, so viel Sinn ergibt. Ich habe mich sehr über diese Passagen amüsiert.

So gesehen ordne ich dieses Buch als sehr unterhaltsamen Rausch ein, oder, um noch eine Floskel zu bedienen: Ich bin gut drauf gekommen. Tripping mit Karig - gerne wieder.

Veröffentlicht am 17.09.2019

Heftig!

GRM
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Hui, da hat sich Frau Berg aber mal so richtig ausgekotzt. Und zwar überall hin. Das sieht ziemlich unangenehm aus und riecht auch streng. Eigentlich müsste man das wegmachen, oder? Nicht dass da noch ...

Hui, da hat sich Frau Berg aber mal so richtig ausgekotzt. Und zwar überall hin. Das sieht ziemlich unangenehm aus und riecht auch streng. Eigentlich müsste man das wegmachen, oder? Nicht dass da noch wer reintritt... Aber, halt, stopp! Hier kann ich nicht anders: Ich mache es nicht weg, sondern breite es aus, so weit ich kann. Ich verteile es, großflächig, damit möglichst viele Leute reintrampeln und es mitnehmen, es weitertragen, hinaus in die Welt. Spread the message!

So oder so ähnlich fühlt sich das vorliegende Werk an. Es ist groß, mächtig und unfassbar laut. Es ist grob, zynisch, bitterböse. Es ist hoffnungslos, selbstkasteiend, anklagend. Es ist niederschmetternd und unterhaltsam zugleich.

Die Sprache ist eine ganz eigene, auf die man sich einlassen muss. Kurz, knapp, in your face. So ein bisschen worst of Schätzing in clever. Das kann schnell ermüdend und/oder anstrengend werden, aber hier passt es zur Stimmung: Zum Gehetzten, zum Verallgemeinernden, zum WTF warum noch ganze Sätze, scheiß doch der Hund drauf.

Inhaltlich breitet Frau Berg hier ein ganz großes Bild aus, ein allumspannendes Wandgemälde geradezu. Alles, was momentan eher, naja, suboptimal läuft, wird auf die Spitze getrieben. Mit dabei unter anderem: Die schlimmsten Auswüchse eines neoliberalen Gesellschaftsystems, der Kapitalismus als Religion, die gewaltige (und gewaltbereite) Rückkehr des Patriarchats in seiner übelsten Form, die totale Überwachung, der Konservatismus in Reinkultur, rechts, rechter, hat noch immer nicht recht und viele andere Schreckgespenster mehr. Needless to say: Für mich las sich das streckenweise wie eine an vielen Stellen nur allzu knapp an der aktuellen Realität vorbeischrammende Horrorstory. Die perfekte Dystopie von Morgen, die an so manchen Stellen schon das Heute ist. Gerade zu Beginn nimmt Frau Berg nämlich reale Ereignisse der jüngeren Vergangenheit und verwebt sie geschickt in ihre Rahmenhandlung, sodass die Grenzen zwischen Ist-Realität und Bald-Fiktion verschwimmen. Der Brand im Grenfell Tower in London soll hierfür beispielhaft genannt werden, zu frisch sind sie noch in meinem Kopf, die Bilder des fackelartig brennenden Sozialwohnhauses in London.

Das Grundgerüst in GRM bilden vier junge Menschen, Kinder zu Beginn des Romans, und Berg erzählt ihre Coming-of-Age-Geschichte, die kaum erstrebenswert ist. Gerade der Anfang des Buches, ca. das erste Drittel hat mich am meisten fertiggemacht (und das soll es ja auch, also ein gutes Buch, mich emotional abholen und mitnehmen in die eine oder andere Richtung). Die vier Kids verlieren ihr Zuhause aus unterschiedlichen grausamen Gründen. Vor allem die Begegnungen zwischen Peter und Sergej sowie Karen und Patuk und die jeweiligen Folgen haben mich fast körperlich gequält. Sehr schlimm, sehr beeindruckend. Und so wird Rache zum Leitmotiv, Rache an den Peinigern, Rache am System.

Sobald die Kids nach London ziehen, verfranst sich die Geschichte etwas. An und für sich nicht schlimm, denn Berg hat Theorien, Szenarien, Ideen und dystopische Ansätze zusammengetragen, die sich sehen lassen können. Aber irgendwie wurde es mir dann doch schlicht und ergreifend zuviel. Die letzten Meter ist Frau Berg (und/oder mir?) dann doch ein wenig die Puste ausgegangen.

Ein durchaus empfehlenswertes, weil super krasses Buch. Sicher polarisierend, sicher zu heftig für manche - aber nun ja, that's life. Heftig, heftig, heftig.

Veröffentlicht am 13.09.2019

So macht Geschichte Spaß!

Funkenflug
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"Jahresbücher" scheinen in letzter Zeit schwer in Mode zu sein. Allein aus der jüngsten Vergangenheit erinnere ich mich ad hoc an Florian Illies mit seiner Abhandlung zu "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" ...

"Jahresbücher" scheinen in letzter Zeit schwer in Mode zu sein. Allein aus der jüngsten Vergangenheit erinnere ich mich ad hoc an Florian Illies mit seiner Abhandlung zu "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" (ein Jahr, zu dem es so viel zu erzählen gibt, dass er mit "1913 – Was ich unbedingt noch erzählen" wollte gleich noch einen Band nachgelegt hat), Victor Sebestyen mit "1946: Das Jahr, in dem die Welt neu entstand" und Birte Försters "1919. Ein Kontinent erfindet sich neu". Sicher haben die Auslagen der Buchhandlungen noch mehr zu bieten, und warum auch nicht? Immerhin bietet dieses Format die Möglichkeit, geschichtliches Wissen, sowohl poltitischer, kultureller und gesellschaftlicher Natur, in kleinen Häppchen serviert, in einem größeren Zusammenhang aufzunehmen.

Noch "kleinteiliger" kommt da nun Hauke Friedrichs daher, der sich nicht nur auf ein Jahr - in diesem Fall 1939 - sondern sogar nur auf einen Monat daraus, nämlich den August, konzentriert. Aufgrund der damaligen Ereignisse reicht dieser eine Monat aber auch völlig aus, um ein Buch mit sehr viel Inhalt, vielen Akteurinnen und Akteuren und einer ordentlich Portion Zeitgefühl zu präsentieren.

Es waren die Wochen vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs, vor dem deutschen Überfall auf den Sender Gleiditz, bevor die halbe Welt in Chaos und Schmerz versank. Hätte diese Tragödie vielleicht verhindert werden können? Es gab sicher viele Menschen, die genau das versucht haben, und einige davon lässt Friedrichs hier zu Wort kommen. Genutzt hat es bekanntlich nichts, aber die Hoffnung, die diese Menschen bis zuletzt umtrieb, den drohenden Konflikt auf diplomatischen Wegen oder durch gutes Zureden doch noch abwenden zu können, zieht sich wie ein roter Faden durch die täglichen Einträge.

Natürlich sind es vor allem Politiker (ausschließlich männlich), die hier beleuchtet werden. Ich nutze diesen Begriff bewusst, denn Friedrichs dreht seinen Schweinwerfer mal hier- mal dahin, betrachtet eine Figur über mehrere Absätze und schwenkt dann den Blick zur nächsten. Struktur hat das Ganze dennoch ausreichend: Die Kapitel sind nicht übermäßig lang (ursprünglich wollte ich ja "taggenau" lesen, da bin ich leider nach ca. zwei Dritteln von abgekommen), die Übergänge gut. Auch wenn es viele Menschen sind, die hier "mitspielen", habe ich nie den Überblick verloren, denn Friedrichs führt alle Beteiligten gut ein und verwebt gekonnt die Handlungsstränge.

Neben den Politikern, hier sind es natürlich vor allem die bekannten Größen der beteiligten Länder, kommen auch viele Menschen aus dem (noch) nicht-politischen Leben zu Wort. Das Ehepaar Mann etwa, da sich Katia Mann große Sorgen um ihre Eltern macht; der junge John F. Kennedy, der zu Studienzwecken durch Europa reist; Albert Einstein, der im US-amerikanischen Exil über Deutschland sinniert; Unity Mitford, eine mir bislang unbekannte glühende britische (!) Verehrerin Hitlers; die junge Sophie Scholl, die unbeschwerte Ferien mit ihrem Freund verbringt und viele andere mehr.

Es hat wirklich "Spaß" gemacht, dieses Buch zu lesen - nicht, weil es so erfreulich war, sondern weil Friedrichs einfach gut und vor allem in sehr großer Bandbreite erzählt. Da waren so viele kleine, spannende "subplots" dabei: Das Hin und Her zwischen Hitler und Stalin bis zur Unterzeichnung ihres Paktes etwa oder die "inoffiziellen" Diplomatieversuche des schwedischen Industriellen Birger Dahlerus. Unfassbar, was da alles los war im August 1939, wie Politik gemacht und Geschichte geschrieben wurde, wie der Krieg um ein Haar schon ein paar Tage früher begonnen hätte - dann doch nicht - dann doch... man liest das alles und mag es kaum glauben. Aber doch, es war so, davon zeugt auch das umfangreiche Quellenverzeichnis, das bei so einem Buch natürlich dazugehört. Unfassbar, was Friedrich da alles zusammengetragen hat, was für Fakten und Nachrichten, aber auch kleine Anekdoten. Also, wem ein ganzes Jahr zum Start zu viel ist, findet mit diesem "Monatsbuch" eine sehr gelungene Alternative zum "aktuellen" Trend.

Tl;dr: Eine Fleißarbeit, die sich gelohnt hat - so macht Geschichte Spaß!

Veröffentlicht am 06.09.2019

Sehr angenehm überrascht!

Wir von der anderen Seite
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Ach, was ist das für ein schönes Gefühl, wenn man von einem Buch eigentlich nicht viel erwartet, es sogar eher mit einer gewissen Skepsis beginnt und dann so angenehm positiv überrascht wird! Ich muss ...

Ach, was ist das für ein schönes Gefühl, wenn man von einem Buch eigentlich nicht viel erwartet, es sogar eher mit einer gewissen Skepsis beginnt und dann so angenehm positiv überrascht wird! Ich muss zugeben, ich hatte durchaus Bedenken: Eine Drehbuchautorin, die sonst Stoffe für Schweiger- und Schweighöferkomödien schreibt? Und sich jetzt so eines ernsten Themas annimmt? Humor ist bekanntlich sehr subjektiv, und besagte Komödien treffen sonst eher nicht so meinen Geschmack - kann das gut gehen mit mir und diesem Buch hier? Oh ja, und wie! Frau Decker, ich muss aufrichtig Abbitte leisten.

Das vorliegende Werk ist sehr an die eigene Lebens- und Leidensgeschichte der Autorin angelehnt, aber sie betont, dass es sich um kein autobiografisches Werk handelt. Die äußeren Fakten zumindest stimmen: Sowohl Anika Decker als auch die Protagonistin Rahel Wald sind Drehbuchautorinnen, die den Durchbruch geschafft haben und mit den Stars und Sternchen der deutschen Film- und Medienbranche arbeiten. Und beide vereint ein schwerer Schicksalsschlag: Eine durch einen Nierenstein ausgelöste Sepsis, die zu mehrfachem Organversagen, einen dadurch bedingtem künstlichen Koma, dem erfolgreichen Überlebenskampf und den mühevollen Weg zurück "auf die andere Seite" geführt hat.

Ob nun Autobiografie oder nicht, Frau Decker weiß, wovon sie spricht, und das merkt man dem Buch auf jeder Seite an. Rahel kämpft sich nicht nur einfach zurück in ihr altes, sondern in ein ganz neues Leben. Die Erkenntnisse, die sie aus ihrer Krankheit, der drohenden stetigen Verschlimmerung und der Wiedergenesung zieht, sind schonungslos offen und kompromisslos echt dargestellt. Dabei umschifft die Autorin gekonnt jegliche Klischees, die sich so einer Erzählung in den Weg stellen könnten: Rahel erlebt keine komplette "vom Saulus zum Paulus"-Verwandlung, wird also nicht vom oberflächlichen Zicklein zum altruistischen Schwan. Auch ist die Gesichte nicht klamaukig bis an der Grenze zum Hysterischen erzählt, sondern wählt ihre (oft eher makabren) Pointen und komischen Szenen und Charaktere mit Bedacht. Ansonsten tummeln sich hier sehr viele, sehr kluge Gedanken, und das alles sehr straight, sehr direkt erzählt. Ob die eher oberflächliche Filmwelt oder die Beziehungen zu ihrer Familie, ihrem Freund und anderen Menschen - Rahel analysiert und hinterfragt alles. Dabei spart sie keinesfalls an Selbstkritik, dieses Buch ist erstaunlich selbstreflektierend:

"Fast lustig, wenn ich daran denke, wie verzweifelt ich oft um die Liebe und Anerkennung irgendwelcher Idioten gekämpft habe. Wie anstrengend das war, permanent meine Unzulänglichkeit mit möglichst viel Aktionismus zu überdecken. Wie dumm ich doch immer war, zu denken, ich müsste Kunststücke vollführen und Eindruck schinden, um das zu bekommen, was ich offensichtlich schon immer hatte."

Daneben kommen auch die "größeren" Themen wie Sexismus in der Filmbranche und allgemein, Fallstricke des Gesundheitssystems, Klassenunterschiede oder der Umgang mit schwachen, kranken und/oder alten Menschen zur Sprache - fast immer nebenbei, nie mit erhobenen Zeigefinger, sodass Menschen, die sich für derartige Themen sonst vielleicht nicht interessieren, trotzdem ein paar wichtige Botschaften mit aufnehmen. Beispiel: Da geht es in einer Szene um Rahels Wunsch nach Intimität, vor der sie sich aufgrund ihres Gesundheitszustands fürchtet (Sex bei schwachem Herzen und so), und dann versteckt sich mitten in diesem scheinbar eher halbtiefen Gedanken ein Satz wie dieser:

"Die Altersheim sind voll von Menschen, deren Hand niemand hält und deren Kopf sich nirgendwo anlehnen darf."

Hach!

Und noch ein ganz besonderer Pluspunkt: Rahel hat einen besten Freund, Kevin, der wirklich sehr gut und lustig geschrieben ist - und der nicht schwul ist! Ich bin Frau Decker sehr dankbar, dass sie auf diese "best gay friend"-Stereotype verzichtet hat. Wie auch auf so viele andere Klischees.

Dies wird nicht mein liebster Roman des Jahres sein, dafür gibt es schon jetzt zu viel Konkurrenz - aber auf den Titel für positivste Überraschung des Jahres ist "Wir von der anderen Seite" ein ganz heißer Anwärter!

"Hier geht es aber nicht um mich, hier geht es darum, was Attila will. Sie wollen, dass der Star happy ist, und gehen davon aus, dass den Zuschauern die Geschichte egal ist, und sie sowieso ins Kino gehen. Ich halte die Zuschauer für nicht ganz so blöd."

Und die Lesenden zum Glück auch nicht - vielen Dank dafür!

Tl;dr: Äußerst authentischer Unterhaltungsroman mit ordentlich Tiefgang.

Veröffentlicht am 11.06.2019

Bewegend, bedrückend, dramatisch

Die Nickel Boys
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Mein erstes Buch von Colson Whitehead, der hier eine reale Institution (eine ehemalige Schule für "schwererziehbare" Jungen, der in der mehr misshandelt als gelehrt wurde) im Rahmen eines fiktiven Settings ...

Mein erstes Buch von Colson Whitehead, der hier eine reale Institution (eine ehemalige Schule für "schwererziehbare" Jungen, der in der mehr misshandelt als gelehrt wurde) im Rahmen eines fiktiven Settings (also mit fiktiven Charakteren) wieder aufleben lässt. Es sind die 1960-Jahre, und der junge, schwarze Elwood ist besessen von Dr. King und seinen Reden, seinem Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit, seinen Tugenden. Auch Elwood ist tugendhaft, ein guter Junge, dem eigentlich ein sozialer Aufstieg gelingen sollte. Doch ein wirklich unglücklicher Zufall verschlägt ihn in die bereits erwähnte Besserungsanstalt, er wird einer von ihnen, ein "Nickel Boy", eine billige Arbeitskraft, an der das sadistische "Lehr"personal sich austoben kann.

So weit, so Drama. Die Geschichte von Elwood ist wirklich sehr berührend, sein Schicksal bewegend. Er, der "gute" Junge, inmitten dieser - ja, was sind sie eigentlich, die anderen Nickel Boys? Schlechte Jungs? Wirklich? Hmmm... In erster Linie sind sie zunächst alle Opfer - der Willkür, der Brutalität, der ständigen Angst, bei irgendwas erwischt zu werden. Die Szenen, in denen die Bestrafungen beschrieben werden, sind teils sehr brutal.

Ergänzend zum Horror in der "Schule" erzählt ein alternder Elwood, wie er die Zeit nach dem Nickel erlebt hat, wie ihn das Erlebte beeinflusst hat und wie ihn die späte, in der Jetzt-Zeit des Buches (ich meine, es war 2014?) gemachte Enthüllung der vielen anonymen Jungenleichen auf dem ehemaligen Schulgelände im späten Alter dazu zwingt, sich nochmals mit diesen Schatten seiner Vergangenheit zu befassen.

Die Botschaften, die Whitehead her herüberbringt, sind kaum zu überhören: Neben der unerhörten Behandlung der Jungen, dem institutionellen Mißbrauch und Wegschauen so vieler Menschen ist es auch der Rassismus, der deutlich im Vordergrund steht: Die Rassentrennung der Gesellschaft allgemein sowie im "Nickel" im Besonderen, denn auch hier erging es den schwarzen Jungs noch eine ganze Ecke schlechter als ihren weißen Mithäftlingen. Das dritte Thema, das sich erst spät im Buch entfaltet und mich besonders angesprochen hat, ist das späte Trauma, das eine derartige Behandlung in jungen Jahren auslösen kann. Immer wieder schwappt sie bei vielen Debatten zu Mißbrauchsthemen hoch, die Frage: "Ja, aber warum haben die Opfer so lange geschwiegen?" Eine mögliche Erklärung hierzu liefert dieses Buch - zu diesem Aspekt hätte ich mir gerne noch ein paar weitere Ansätze gewünscht.

Bis hierher eigentlich eher drei Sterne, für wirklich gute Unterhaltung, die mich durchgehend interessiert hat - zum Ende hin hat Whitehead dann aber doch noch mal einen Twist ausgepackt, der das ganze Ausmaß von Schuld und Sühne nochmal so richtig aufzeigt und mir sehr gut gefallen hat. Da wurde ich dann auch emotional nochmal so richtig durchgeschüttelt, und das hat das Buch dann letztlich auf vier Sterne gehievt.

Zum Hörbuch: Torben Kessler liest sehr bedächtig, aber nicht einschläfernd - das Timbre der Stimme hat für mich gut zur Stimmung des Buches gepasst.