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WinfriedStanzick

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.08.2019

Wer Ani liest, muss viel aushalten können an Aporie, Sinnlosigkeit und Hoffnung, er muss sich konfrontieren mit Glauben und Zweifel, Philosophie und Theologie und darf sich aber auch an Menschen freuen, die versuchen gerne und froh zu leben und ihrem Lebe

All die unbewohnten Zimmer
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Friedrich Ani, All die unbewohnten Zimmer, Suhrkamp 2019, ISBN 978-3-518-42850-4

Als ich das neue Buch von Friedrich Ani vor einigen Wochen in Händen hielt und auf der Umschlagseite las, dass Ani in diesem ...

Friedrich Ani, All die unbewohnten Zimmer, Suhrkamp 2019, ISBN 978-3-518-42850-4

Als ich das neue Buch von Friedrich Ani vor einigen Wochen in Händen hielt und auf der Umschlagseite las, dass Ani in diesem fast 500 Seiten umfassenden Werk alle seine bisherigen Ermittlerfiguren zusammenkommen lässt um mit ihren jeweiligen Methoden und ihrer jeweiligen unverwechselbaren Persönlichkeit zwei voneinander unabhängige Fälle zu lösen, da habe ich mich insbesondere auf den ehemaligen Mönch Polonius Fischer gefreut. Die beiden vor weit über zehn Jahren erschienenen Romane Anis über diesen stillen und ungewöhnlichen Kommissar sind nach meiner Meinung nach wie vor mit die besten, die Ani je geschrieben hat.
Zunächst nimmt Polonius Fischer die vor acht Jahren in die Provinz strafversetzte Fariza Nasri wieder in sein Dezernat K 111 auf. Sofort wird sie in einen Fall verwickelt, der ihr alles abverlangt und ihre Integrität auf eine harte Probe stellt. Ob es ihr gelingen wird, sie zu bewahren, lässt Ani bis kurz vor dem Ende offen.

Neben Polonius Fischer, der kurz vor seiner Pensionierung steht, tauchen auch der alte Jakob Franck und der schon in der Versenkung verschwunden geglaubte Tabor Süden wieder auf und beteiligen sich mit ihren je eigenen Ermittlungsmethoden an der Aufklärung zweier Mordfälle, die allen zusammen zunächst große Rätsel aufgeben.

Doch Ani lässt seinen Figuren Zeit. Scheinbar zufällig und am Ende dann doch ganz nachvollziehbar lässt er Personen und Handlungsstränge ineinandergreifen. Nicht nur die Ermittler, sondern auch etliche andere Personen aus vielen älteren Romanen Anis tauchen wieder auf. Immer wieder fügt Ani Erinnerungen und Rückblenden in die laufende Handlung ein, lässt sich Zeit mit der ausführlichen Beschreibung ihrer Lebensumstände und alle der unbewohnten Zimmer, die ihr Leben charakterisieren.

Alle vier Ermittler schickt Ani auf eine sorgfältige Spurensuche, lässt sie Umwege gehen und Seitenwege beschreiten. Vielleicht noch mehr als in früheren Büchern widmet er sich der ausführlichen Beschreibung der Kleinigkeiten im Leben dieser meist unsichtbaren Menschen, die sich schon lange dem normalen Alltag entzogen haben. Ani hat einen Blick und eine sensible ehrliche Sprache und schenkt ihnen allen jene Beachtung, die sie selbst nicht zu verdienen glauben.

Ani lebt und arbeitet in München, wo alle seine Romane spielen. Er schaut politisch und gesellschaftlich auf die dunklen Seiten der Stadt, er nähert sich den Menschen, die keiner mehr wahrnimmt und die sich schon lange selbst aufgegeben haben.

Auch seine Ermittler bewegen sich schon lange immer am Abgrund ihrer persönlichen Existenz. Doch gerade deshalb, weil sie immer selbst kurz vor dem eigenen Verschwinden stehen, haben sie einen unverwechselbaren Blick entwickelt, der Menschen ganz tief in die Seele blickt.

Ani selbst hat einen wachen Blick für die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die er auch in seinen neuen Roman eingewoben hat.

Und wieder habe mich am Ende einer spannenden, unterhaltsamen und dennoch nachdenklichen Lektüre gefragt, ob nun endgültig Schluss ist mit Polonius Fischer, der nach über vierzehnjähriger Pause wieder aufgetaucht ist, mit Tabor Süden, der sein eigenes endgültiges Verschwinden aus dieser Welt zu genießen scheint, mit Jakob Franck, der in seiner „Gedankenfühligkeit“ die Toten liebt und sie achtet und mit Fariza Nasri, Jakob Francks „Lieblingssyrerin“, deren Versetzung er vor acht Jahren nicht verhindern konnte.

Mit seiner Tiefe und seinem immerwährenden Versuch, die Abgründe menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Realität zu beschreiben, ohne in platte Formeln abzugleiten, hat sich Ani immer wieder als einer der besten zeitgenössischen Krimischriftsteller gezeigt und ist dafür auch mehrfach ausgezeichnet worden.
Wer Ani liest, muss viel aushalten können an Aporie, Sinnlosigkeit und Hoffnung, er muss sich konfrontieren mit Glauben und Zweifel, Philosophie und Theologie und darf sich aber auch an Menschen freuen, die versuchen gerne und froh zu leben und ihrem Leben einen kleinen, bescheidenen Sinn zu geben



Veröffentlicht am 02.08.2019

In der vorliegenden ungekürzten Hörbuchfassung gelingt es Gerd Wameling ganz hervorragend, die Stimmung des Buches einzufangen, mit seiner Stimme die Spannung des Buch noch zu verstärken und der warmherzigen Interpretation der Charaktere von Dupins Team

Bretonisches Vermächtnis
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Jean-Luc Bannalec, Bretonisches Vermächtnis. Kommissar Dupins achter Fall, (Hörbuch), Argon Verlag 2019, ISBN 978-3-8398-1731-5

In seinem neuen, dem mittlerweile achten Fall seines Kommissar Dupin aus ...

Jean-Luc Bannalec, Bretonisches Vermächtnis. Kommissar Dupins achter Fall, (Hörbuch), Argon Verlag 2019, ISBN 978-3-8398-1731-5

In seinem neuen, dem mittlerweile achten Fall seines Kommissar Dupin aus Concarneau, lässt der unter dem Pseudonym Jean-Luc Bannalec schreibenden deutsche Schriftsteller und Verleger Jörg Bong seinen sympathischen Kommissar in seinem als „blaue Stadt“ am Meer bezeichneten Wohnort selbst ermitteln.
Georges Dupin ist nun schon seit vielen Jahren im Finstere tätig und sein Privatöleben hat sich im Gegensatz zu dem anderen Serienkommissare gesettelt, seit er mit der Ärztin Claire zusammengezogen ist. Über die bevorstehenden Pfingsttage planen sie ein Wochenende mit Claires Eltern, doch wie es oft so ist, ein mysteriöser Todesfall kommt dazwischen. Claire nimmt es locker und Georges ist es recht, denn seine Schwiegereltern in spe nerven ein wenig.

In der Altstadt Ville Close feiern die Einheimischen und die noch wenigen Touristen mit viel Musik und Tanz den Beginn des Sommers, als ein stadtbekannter Arzt direkt vor Dupins Lieblingsrestaurant Amiral zu Tode kommt. Dessen tatsächliche Eigentümer haben an Bannalecs Bretonischen Kochbuch mitgearbeitet.
Docteur Chaboseau ist offensichtlich aus dem großen nicht mit Sicherheitsglas versehenen Fenster seiner Wohnung in die Tiefe gestürzt worden. Dupin muss die sich als sehr kompliziert und undurchsichtig herausstellenden Ermittlungen zunächst ohne seine bewährten Mitarbeiter Nolwenn und seine beiden Inspektoren Rival und Kadeg aufnehmen. Zwei neue Mitarbeiterinnen unterstützen ihn. So kompetent und sympathisch Bannalec sie beschreibt, ist anzunehmen, dass sie im nächsten Band Dupins Team erhalten bleiben.

Weder Chaboseaus Frau noch seine beiden Freunde, der stadtbekannte Apotheker Priziac und der Weinhändler Luzel können sich auf den Tod des Arztes einen Reim machen. Mit Hilfe seiner beiden neuen Mitarbeiterinnen geht Dupin den Verbindungen der drei angesehenen Geschäftsleute nach und beschreibt so ganz nebenbei die Straßen und Plätze, die Parks und Kneipen einer Stadt, die im Leser sofort Sehnsucht weckt.

Dupin hat kaum mit seinen Ermittlungen begonnen, da erschüttert ein Anschlag auf einer Werft, an der die drei Freunde und Geschäftspartner beteiligt waren, den Ort.

Hat der Anschlag etwas mit dem offensichtlichen Mord zu tun?

Von Anfang an spielt ein Roman von Georges Simenon mit dem Titel „Der gelbe Hund“, der Maigret bei Ermittlungen in Concarneau zeigt, eine zunächst unklare Rolle. Bald jedoch wird Dupin immer klarer, was die Personen in dem Roman mit den aktuellen Todesfällen (Luzel wird auch ermordet) zu tun haben.

Mit einem genialen Trick schafft es Dupin seine unerreichbaren Mitarbeiter über die Notlage zu informieren und als sie bald darauf eintreffen nehmen die Ermittlungen durch Nolwenns Können und Erfahrung und Rivals Lokalkenntnisse sofort Fahrt auf.

Viele Menschen sind verdächtig, auch der Bürgermeister Kirag ist darunter, doch schließlich bietet der „Gelbe Hund“ den Schlüssel zu einem überraschenden Ende eines unterhaltsamen und spannenden Falles, der seine Leser mit den traumhaften Beschreibungen von Concarneau und Umgebung in eine Art permanente Urlaubsstimmung versetzt.

In der vorliegenden ungekürzten Hörbuchfassung gelingt es Gerd Wameling ganz hervorragend, die Stimmung des Buches einzufangen, mit seiner Stimme die Spannung des Buch noch zu verstärken und der warmherzigen Interpretation der Charaktere von Dupins Team eine ganz persönliche Note zu geben.


Veröffentlicht am 02.07.2019

Unterhaltsam und spannend

Bretonisches Vermächtnis
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Jean-Luc Bannalec, Bretonisches Vermächtnis, Kommissar Dupins achter Fall, Kiepenheuer & Witsch 2019, ISBN 978-3-462-05265-7

In seinem neuen, dem mittlerweile achten Fall seines Kommissar Dupin aus Concarneau, ...

Jean-Luc Bannalec, Bretonisches Vermächtnis, Kommissar Dupins achter Fall, Kiepenheuer & Witsch 2019, ISBN 978-3-462-05265-7

In seinem neuen, dem mittlerweile achten Fall seines Kommissar Dupin aus Concarneau, lässt der unter dem Pseudonym Jean-Luc Bannalec schreibenden deutsche Schriftsteller und Verleger Jörg Bong seinen sympathischen Kommissar in seinem als „blaue Stadt“ am Meer bezeichneten Wohnort selbst ermitteln.
Georges Dupin ist nun schon seit vielen Jahren im Finstere tätig und sein Privatöleben hat sich im Gegensatz zu dem anderen Serienkommissare gesettelt, seit er mit der Ärztin Claire zusammengezogen ist. Über die bevorstehenden Pfingsttage planen sie ein Wochenende mit Claires Eltern, doch wie es oft so ist, ein mysteriöser Todesfall kommt dazwischen. Claire nimmt es locker und Georges ist es recht, denn seine Schwiegereltern in spe nerven ein wenig.

In der Altstadt Ville Close feiern die Einheimischen und die noch wenigen Touristen mit viel Musik und Tanz den Beginn des Sommers, als ein stadtbekannter Arzt direkt vor Dupins Lieblingsrestaurant Amiral zu Tode kommt. Dessen tatsächliche Eigentümer haben an Bannalecs Bretonischen Kochbuch mitgearbeitet.
Docteur Chaboseau ist offensichtlich aus dem großen nicht mit Sicherheitsglas versehenen Fenster seiner Wohnung in die Tiefe gestürzt worden. Dupin muss die sich als sehr kompliziert und undurchsichtig herausstellenden Ermittlungen zunächst ohne seine bewährten Mitarbeiter Nolwenn und seine beiden Inspektoren Rival und Kadeg aufnehmen. Zwei neue Mitarbeiterinnen unterstützen ihn. So kompetent und sympathisch Bannalec sie beschreibt, ist anzunehmen, dass sie im nächsten Band Dupins Team erhalten bleiben.

Weder Chaboseaus Frau noch seine beiden Freunde, der stadtbekannte Apotheker Priziac und der Weinhändler Luzel können sich auf den Tod des Arztes einen Reim machen. Mit Hilfe seiner beiden neuen Mitarbeiterinnen geht Dupin den Verbindungen der drei angesehenen Geschäftsleute nach und beschreibt so ganz nebenbei die Straßen und Plätze, die Parks und Kneipen einer Stadt, die im Leser sofort Sehnsucht weckt.

Dupin hat kaum mit seinen Ermittlungen begonnen, da erschüttert ein Anschlag auf einer Werft, an der die drei Freunde und Geschäftspartner beteiligt waren, den Ort.

Hat der Anschlag etwas mit dem offensichtlichen Mord zu tun?

Von Anfang an spielt ein Roman von Georges Simenon mit dem Titel „Der gelbe Hund“, der Maigret bei Ermittlungen in Concarneau zeigt, eine zunächst unklare Rolle. Bald jedoch wird Dupin immer klarer, was die Personen in dem Roman mit den aktuellen Todesfällen (Luzel wird auch ermordet) zu tun haben.

Mit einem genialen Trick schafft es Dupin seine unerreichbaren Mitarbeiter über die Notlage zu informieren und als sie bald darauf eintreffen nehmen die Ermittlungen durch Nolwenns Können und Erfahrung und Rivals Lokalkenntnisse sofort Fahrt auf.

Viele Menschen sind verdächtig, auch der Bürgermeister Kirag ist darunter, doch schließlich bietet der „Gelbe Hund“ den Schlüssel zu einem überraschenden Ende eines unterhaltsamen und spannenden Falles, der seine Leser mit den traumhaften Beschreibungen von Concarneau und Umgebung in eine Art permanente Urlaubsstimmung versetzt.




Veröffentlicht am 02.07.2019

Laut Straubhaar hat die „Stunde der Optimisten“ geschlagen.

Die Stunde der Optimisten
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Thomas Straubhaar, Die Stunde der Optimisten. So funktioniert die Wirtschaft der Zukunft, edition Körber 2019, ISBN 978-3-89684-271-8

Besonders in den letzten Jahren ist es in Deutschland zu einer regelrechten ...

Thomas Straubhaar, Die Stunde der Optimisten. So funktioniert die Wirtschaft der Zukunft, edition Körber 2019, ISBN 978-3-89684-271-8

Besonders in den letzten Jahren ist es in Deutschland zu einer regelrechten Mode geworden, alles niederzumachen und eher das Negative zu betonen. Auch wenn in sicher auch zunehmenden Maße ein größer werdender Handlungs- und Veränderungsbedarf besteht, ist die wirtschaftliche Lage unseres Landes bei weitem nicht so schlecht, wie die Pessimisten es posaunen.

Thomas Straubhaar ruft in dem vorliegenden Buch die „Stunde der Optimisten“ aus und plädiert für mehr Zuversicht in die Zukunft unseres Landes. Während viel Autoren und Zeitschriften in der Vergangenheit düstere Zukunftsaussichten an die Wand malten, vom „Abstieg eines Superstars“ (Gabor Steingart) sprachen oder die „fetten Jahre vorbei“ wähnten (Spiegeltitel).

Thomas Straubhaar zeigt in seinem Buch, dass das Gegenteil der Fall ist. Besonders dramatisch zeigt sich die Fehleinschätzung nach ihm bei einem Vergleich, wie sich die realen Pro-Kopf-Einkommen in der letzten Dekade verändert haben. Mitte der 2000er-Jahre erreichte Deutschland ziemlich genau den Durchschnitt aller hoch entwickelten Volkswirtschaften. Ein Jahrzehnt später liegt die Bundesrepublik zehn Prozent voran.

In einem das Buch begleitenden Artikel schreibt Straubhaar:
„Abstieg und Untergang sehen anders aus. Es gibt kaum einen sozioökonomischen Indikator, bei dem Deutschland heute schlechter dasteht als vor einer Dekade. Die Bevölkerung lebt besser, länger und gesünder. Die Lebenserwartung bei Geburt ist weiter gestiegen, um zwei Jahre für Mädchen auf über 83 Jahre und für Jungen gar um drei auf mehr als 78 Jahre. Alleine schon, dass Deutschland wie ein Magnet auf Erwerbssuchende aus Europa wirkt, zeigt, wie attraktiv das ‚Modell Deutschland‘ all seiner Schwächen zum Trotz gerade heutzutage unverändert ist.“

Sicher gibt es vor allen Dingen in der Infrastruktur des Landes einen schon lange bekannten Investitionsmangel, der dringend in den nächsten Jahren angegangen werden muss, sicher gibt es durch die Überalterung der Gesellschaft große Probleme und eine sich andeutende Ablösung der großen Koalitionen der letzten 15 Jahre löst Unsicherheiten über die politische Zukunft aus, doch zu Pessimismus besteht kein Anlass. Laut Straubhaar hat die „Stunde der Optimisten“ geschlagen.

Wünschen wir ihn überall, wo sie Verantwortung tragen (werden) viel Erfolg!

Veröffentlicht am 02.07.2019

Ich freue mich auf den nächsten Roman dieser sprachbegabten Schriftstellerin.

Freiraum
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Svenja Gräfen, Freiraum, Ullstein fünf 2019, ISBN 978-3-96101-037-0

Nachdem Svenja Gräfens literarisches Debüt „Das Rauschen in unseren Köpfen“ nicht nur den Rezensenten begeistert hat, sondern mit seiner ...

Svenja Gräfen, Freiraum, Ullstein fünf 2019, ISBN 978-3-96101-037-0

Nachdem Svenja Gräfens literarisches Debüt „Das Rauschen in unseren Köpfen“ nicht nur den Rezensenten begeistert hat, sondern mit seiner kunstvollen Sprache und eigentümlichen Schönheit auch andere Kritiker überzeugte, geht es auch in ihrem nun vorliegenden zweiten Roman, der bei Ullstein fünf erschienen ist, um die Geschichte eine Paares. Waren es im ersten Buch Lene und Hendrik, in deren zunächst so leichte und lockere Liebesbeziehung sich immer mehr Probleme aus der Vergangenheit des jungen Mannes mischten und die Beziehung gefährdeten, sind es in der Beziehung der beiden jungen Frauen Vela und Maren eher gegenwärtige Geschehnisse, die die Beziehung der beiden unter eine große Belastungsprobe stellen.

Über die Schilderung der privaten Situation der beiden Frauen nähert sich Svenja Gräfen zwischen den Zeilen aber immer wieder sehr schnell dem Poltischen und der Frage, die die Generation der nach 1990 geborenen Menschen umtreibt: wie wollen wir leben?

Mit fast zärtlichem Mitgefühl beschreibt die Autorin ihre beiden Protagonistinnen, die seit einiger Zeit eine glückliche Beziehung führen. Sie haben einen gemeinsame Kinderwunsch und suchen seit langem schon vergeblich nach einer größeren Wohnung, ohne die sie diesen Wunsch nicht verwirklichen können. Ihre jeweiligen Jobs sind wie die vieler in dieser Generation eher prekär und stellen selbst kleine Mieterhöhungen sie vor ernste Probleme.
Und so scheinen all ihre Träume und Pläne von einem gemeinsamen Leben mit einem Kind immer mehr an den Gegebenheiten und Anforderungen der Großstadt zu scheitern.

In dieser Situation, in die Gräfen ihre Leser am Beginn des Romans einführt, macht Maren ihrer Partnerin einen unerwarteten Vorschlag, dessen Realisierung vor allem Vela im Verlauf des Romans vor schwere Probleme stellen wird. Marens Schwester Jo lebt am Rande der Stadt zusammen mit anderen Menschen in einem ambitionierten Lebensprojekt in einem großen alten Haus mit Garten, das ein Mitbewohner namens Theo geerbt hat und das er der Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Dort ist ein großes Zimmer frei geworden (über die Umstände dieses Leerstandes erfahren wir später im Buch sehr Wichtiges) und Maren überzeugt Vela davon, dass sie beide das Angebot der Gemeinschaft annehmen und dort einziehen. Für beide bedeutet es nicht nur, mit neuen Menschen zusammenzuleben und sich in deren besondere Gemeinschaft einzufügen, sondern sie haben zu ihren bisherigen Arbeitsplätzen auch viel weitere Wege. Doch durch die idyllische ruhige Lage scheint das mehr als wettgemacht zu werden.

Eine ganz besondere Rolle in diesem Wohn- und Lebensprojekt spiellt, das wird mit jedem Kapitel mehr deutlich, der Eigentümer des Hauses, Theo, der als Gartenarchitekt gutes Geld verdient und sich als so etwa wie er ideologische spiritus rector der Gemeinschaft herausstellt. Ein Menschen, dessen wahren Beweggründe eher im Dunkeln bleiben (falls sie ihm selbst denn je bewusst geworden sind) und der insbesondere Vela von Anfang an suspekt ist. Es ist auch Vela, die sich mit dem Einleben in der Gruppe schwerer tut als Maren,mit ihrem Zweifeln und Gefühlen aber alleine bleibt.

Als Theo sich als Samenspender für Maren anbietet, als diese ihren Kinderwunsch nun in der neuen Umgebung umsetzen möchte und Maren darauf positiv reagiert, da stürzt für Vela die ganze gemeinsame Zukunftshoffnung eines Lebens mit Maren scheinbar zusammen.

Nach und nach werden Velas Vorahnungen über Theos Rolle im Projekt und über dessen inneren Zustand bestätigt und sie fühlt sich immer einsamer. Lediglich mit Darek, der sie mit seinem Auto oft mit in die Stadt nimmt, hat sie so etwas wie eine warme Beziehung.

„Freiraum“ spielt auf zwei Zeitebenen. In einer Ebene beschreibt Svenja Gräfen fortlaufend in Rückblicken, wie Vela Maren kennenlernt, wie sie sich ineinander verlieben. Der Leser erfährt von vorübergehenden Jobs, die sich als prekärer Dauerzustand entpuppen, davon, wie sich Träume junger Menschen einfach nicht verwirklichen lassen angesichts mangelndem sicheren Einkommen, steigender Mieten und erfolgloser Wohnungssuche. Diese Rückblicke bis zu dem Zeitpunkt , an dem sich Vela mit widersprüchlichen Gefühlen auf das Wohnprojekt einlässt, zeigen am Beispiel zweier Frauen, in welcher beruflichen und persönlichen Situation sich gegenwärtig viele Millenials befinden.

Auf der anderen Ebene des Romans beschreibt Svenja Gräfen die Menschen und ihr Zusammenleben im Haus. Ihr Versuch anders zu leben und ihr jeweiligen ganz persönlichen Probleme, sich auf ein solches Leben einzulassen. Immer mehr wird auch die besondere und nicht immer sympathische Rolle von Theo dabei klarer und so manches bisher gehütete Geheimnis kommt ans Tageslicht und bringt Unruhe in die langsam bröckelnde Gemeinschaft.

Mit großer Sprachkunst gelingt es Svenja Gräfen, der wohl auch biografisch konnotierten Frage nachzugehen, wie das ist mit Lebensträumen, wie es passiert, dass als Provisorium gedachte Zustände ein traumvernichtenden Endgültigkeit bekommen. Wann sollte man sich mit Realitäten abfinden und sich eingestehen, dass eben manche erträumte Lebenstüren geschlossen bleiben werden.

„Freiraum“ (so ist die Bezeichnung Theos für das gemeinsame Leben im Haus) ist ein nachdenklicher Roman, der am Ende trotz aller Enttäuschungen einen gewissen Spielraum lässt für ein gutes Ende von Vela und Maren. Aber es bleibt unklar.

Svenja Gräfen zeichnet ihre Figuren mit großem und warmherzigem Einfühlungsvermögen und scharfer Beobachtungsgabe und konnte mir als 1954 Geborenem einen Eindruck vermitteln über das Lebensgefühl vieler junger großstädtischer Menschen in der Gegenwart, ihrem Lebensgefühl und ihren Träumen von einem selbstbestimmten Leben.

Ich freue mich auf den nächsten Roman dieser sprachbegabten Schriftstellerin.