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Veröffentlicht am 22.08.2019

3,5*: Atmosphärische, unheimliche starke erste Hälfte, dann geht dem Spannungsroman die Luft aus

Der Kinderflüsterer
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Im Buch geht es um den Witwer Tom und seinen Sohn Jake, die beide umziehen und im kleinen Städtchen Featherbank noch einmal neu anfangen wollen. Die Trauer hat beide ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Im Buch geht es um den Witwer Tom und seinen Sohn Jake, die beide umziehen und im kleinen Städtchen Featherbank noch einmal neu anfangen wollen. Die Trauer hat beide noch fest im Griff, immer wieder gibt es Konflikte und Streit, weil sie sich gegenseitig nicht so richtig verstehen. Die neue Stadt hat eine düstere Vergangenheit: Mehrere Kinder wurden ermordet, der Mörder zum Glück gefasst. Tom interessiert sich eigentlich nicht für die alten Mordfälle, da er genug um die Ohren hat - bis erneut ein Kind verschwindet und Jake behauptet, ein Flüstern am Fenster zu hören…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Blanvalet
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler & Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: mehrere männliche und eine weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt, gequält oder absichtlich getötet. Einige Schmetterlinge sterben jedoch an Altersschwäche oder Hunger, das ist nicht eindeutig.

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang unheimlich spannend und hat mich sofort an C. J. Tudors „Der Kreidemann“ erinnert - einen Thriller, den ich absolut geliebt habe! Daher musste ich dieses Buch natürlich unbedingt lesen.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

"Der schlimmste Albtraum von Eltern ist die Entführung ihres Kindes durch einen Fremden. Allerdings ist dies statistisch gesehen ein höchst unwahrscheinliches Ereignis. Die größte Gefahr geht für Kinder tatsächlich von nahen Angehörigen aus und findet hinter verschlossenen Türen statt [...]" Seite 11

Ich habe sofort und ohne Probleme in die Geschichte gefunden, da das Buch sofort sehr unheimlich und spannend mit der Entführung eines kleinen Jungen und der darauf folgenden Suchaktion beginnt.

Schreibstil (+)

Alex Norths Schreibstil hat mir wirklich durchgehend sehr gut gefallen. Der Autor schreibt etwas anspruchsvoller als viele andere ThrillerautorInnen, seine Sätze sind nicht so kurz und abgehackt. Seine Sprache ist flüssig und sehr angenehm zu lesen. Glänzen kann der Schreibstil sowohl in unheimlichen und hoch atmosphärischen Momenten als auch dann, wenn es um die Gefühle und Gedanken der Hauptfiguren geht. Beides gelingt Alex North sehr gut!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Wenn die Tür halb offen steht,
ein Flüstern zu dir rüberweht.
Spielst du draußen ganz allein,
findest du bald nicht mehr heim.
Bleibt dein Fenster unverschlossen,
hörst du ihn gleich daran klopfen.
Denn jedes Kind, das einsam ist,
holt der Flüsterer gewiss.“ Vgl. Seite 119

Für den „Kinderflüsterer“ hat Alex North im englischsprachigen Raum bereits viel Lob erhalten und auch bei uns gibt es große Marketing-Kampagnen und einen regelrechten Hype. Bestimmt lag es daran, dass meine Vorfreude sehr groß und meine Erwartungen so hoch waren. Leider blieb das Buch insgesamt hinter meinen Erwartungen zurück.

Auch wenn auf dem Cover „Roman“ steht, war doch meist von „Spannungsroman“ die Rede, und vermarktet wurde das Buch sowieso als Thriller. In der ersten Hälfte war die Geschichte auch sehr spannend (wie ein Thriller) und gut geschrieben, der zweite Teil war leider deutlich schwächer. Es kommt zu einigen inhaltlichen Wiederholungen und der Verwendung von „Füllmaterial“; immer wieder wird das gleiche Thema besprochen – jedoch leider nicht so, dass das Buch etwas Neues bieten kann. Das führt leider zu einigen Längen.

Prinzipiell fand ich das Setting, die Idee und auch die Themen, die im Roman behandelt werden, wie zum Beispiel Trauerbewältigung, Familie, Alltag als alleinerziehender Vater, Einsamkeit, Überforderung, sehr interessant und gut gewählt. Es gab viele starke Momente im Buch, die erste Hälfte konnte mich rundum überzeugen! Übrigens ist dieser Roman auch für Menschen mit empfindlichen Mägen geeignet, da der Autor auf psychologische Spannung setzt und bei der Beschreibung der Mordopfer nicht ins Detail geht. Leider wurde nach dem ersten starken Teil Potential verschenkt. Es hätte gerne noch viel emotionaler und tiefgründiger sein dürfen.

Die nur ganz zart eingewebte, beginnende Liebesgeschichte hat mich nicht gestört – im Gegenteil, ich war froh, dass Tom endlich einmal Kontakt mit anderen Menschen hat. Das Ende fand ich zudem rund und gelungen, auch wenn die Auflösung keine wirkliche Überraschung mehr war, wenn manches offen bleibt und wenn ich mir für manche Figuren vielleicht ein positiveres Ende gewünscht hätte.

Geschrieben ist das Buch oft sehr filmisch, es erzeugt starke, einprägsame Bilder im Kopf, die mir sicher lange in Erinnerung bleiben werden. Da wundert es nicht, dass die Filmrechte bereits verkauft wurden. Auf diese Verfilmung bin ich schon sehr gespannt – ich denke, dass sie als Thriller / Drama mit Horror-Elementen ausgezeichnet funktionieren wird (weil dann nämlich auch das Tempo angezogen und die Wiederholungen gestrichen werden können)!

ProtagonistInnen & Figuren (+/-)

„Wir würden hier sicher sein.
Wir würden glücklich sein.
Und in der ersten Woche waren wir das auch.“ Seite 60

Was die Hauptfiguren, aus deren Sicht wir die Geschichte erzählt bekommen, betrifft, so bin ich zwiegespalten. Jake und seinen Autorenvater Tom mochte ich beispielsweise beide sehr gerne. Beide sind authentische, komplizierte und komplexe Persönlichkeiten, die nicht nur gute Seiten, sondern auch Schwächen haben – jedoch waren sie mir niemals unsympathisch. Vielmehr habe ich (meist) mit ihnen mitgefühlt und mit ihnen mitgetrauert. Die schwierige, stressige Zeit spiegelte sich auch in ihrem Verhalten sehr gut wieder wider. Beide sind häufig mit der neuen Situation überfordert. Sehr seltsam fand ich nur, dass Tom und Jake so dermaßen isoliert leben und keinerlei FreundInnen oder Verwandte zu haben scheinen. Das fand ich schon etwas unglaubwürdig und unnatürlich (es wirkte konstruiert).

Die anderen ProtagonistInnen und Figuren, wie zum Beispiel Pete, Amanda, aber auch der im Gefängnis sitzende Mörder Carter, bleiben jedoch in vielen Fällen leider zu blass. Obwohl die meisten von ihnen eine Entwicklung durchmachen, waren sie mir oftmals nicht dreidimensional und einmalig genug. Manchmal fehlte mir auch einfach Tiefe. Ein Beispiel: Carter wirkte wie der typische 08/15-Bösewicht, der den Polizisten provoziert und unheimlich ist, aber es gab leider nichts, wodurch er sich von anderen Mördern in anderen Büchern abgehoben hätte.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Auch was die Spannung und Atmosphäre betrifft, habe ich gemischte Gefühle. Die erste Hälfte des Buches fand ich wahnsinnig stark – ich war mir sogar sicher, dass ich es hier mit einem 5-Sterne-Buch zu tun habe. Es gab viele unglaublich atmosphärische Gänsehaut-Momente und unheimliche Szenen mit Horror-Elementen, die mich absolut begeistern konnten. Krächzende Stimmen, knackende Dielen, ein neues Haus, das den frischen Besitzern nicht ganz geheuer ist. Immer wieder stellt sich auch die Frage, ob Jakes unsichtbare Freunde real sind oder nur seiner Fantasie entspringen. Die erste, unvorhersehbare und wendungsreiche Hälfte habe ich wirklich geliebt, denn ich liebe es, mich zu gruseln!

Im zweiten Teil ging der Geschichte dann aber ein wenig die Luft aus. Der Spannungsbogen brach ein, immer wieder gab es Wiederholungen und die Geschichte schien auf der Stelle zu treten. Ich war zwar nie gelangweilt, dennoch wurde hier Potential verschwendet, weil es schon die eine oder andere Länge gibt. Besonders im letzten Drittel, in dem viele Thriller und Romane noch mit einigen unerwarteten Wendungen verblüffen, geschah dann überraschend wenig. Zudem stand der Mörder zu früh fest, was mir die Möglichkeit genommen hat, selbst zu rätseln. Der Showdown war kurz und irgendwie unaufgeregt, auch hier hätte ich mir mehr erwartet.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Ich finde es großartig, dass Alex North einen alleinerziehenden Vater und diese schwierige Vater-Sohn-Beziehung in den Mittelpunkt seiner Geschichte gestellt hat, da alleinerziehende Väter in der Literatur ohnehin unterrepräsentiert sind. Ich mochte auch, dass Tom und Alex beide sehr sensibel, gefühlvoll und liebevoll sind, dass sie ängstlich und handwerklich ungeschickt sein und weinen dürfen und sehr am Tod der Mutter / Ehefrau zu knabbern haben (alles andere wäre ja auch unglaubwürdig!). Sehr interessant fand ich auch, dass Tom einfach zugibt, dass er manchmal Abstand von seinem Sohn braucht, weil ihm alles zu viel wird. Ist ja eigentlich auch nichts dabei. Aber: Würde das eine Frau sagen, würden sofort wieder einige Leute „Rabenmutter“ schreien.

Manche Dinge haben mir allerdings nicht so gut gefallen. Zum einen, dass es viel mehr männliche als weibliche Figuren im Buch gibt. Hier hätte ich mir mehr Ausgeglichenheit gewünscht. Zum anderen wird geschildert, wie der Vater nach dem Tod der Frau zum ersten Mal Geschenke einpackt, das Kind zum Frisör bringt und alles sauber halten muss. Hier kam es mir so vor, als hätte sich Tom davor weniger in Kindererziehung und Haushalt eingebracht hat als seine Ehefrau, obwohl er von zu Hause arbeitet, da er Autor ist. Es gibt nur ein Beispiel für gegenderte Beschimpfungen (Hu++), diese wird aber vom Bösewicht ausgesprochen. Den „Bechdel Test“, den ich in Zukunft bei jedem Buch durchführen werde, weil er einen Hinweis auf die Repräsentation von Frauen in einem fiktiven Werk geben kann, besteht das Buch leider nicht. Hierfür müssten zwei weibliche Figuren miteinander ein Gespräch über etwas anderes als Männer führen. Dafür haben wir hier leider zu wenige Frauenfiguren.

Mein Fazit

„Der Kinderflüsterer“ ist ein Spannungsroman, um den es momentan einen großen Hype gibt. Deshalb bin ich mit hohen Erwartungen herangegangen, die aber leider nur zu einem Teil erfüllt werden konnten. Der Schreibstil ist flüssig, angenehm und etwas anspruchsvoller als in einem durchschnittlichen Thriller, was mir sehr gut gefallen hat. Dem Autor gelingt es mit seiner Sprache sowohl in spannenden als auch in emotionalen Momenten zu glänzen. Die Figuren konnten mich leider nicht durch die Bank überzeugen. Jake und Tom waren zwar sehr gut und glaubwürdig ausgearbeitet (ich habe mit den Trauernden meist sehr mitgefühlt), die anderen ProtagonistInnen und Nebenfiguren blieben leider oft blass. Inhaltlich fand ich die Themen – Trauer, Einsamkeit, Überforderung, Alltag als alleinerziehender Vater (endlich!) -, das Setting und die Idee in der ersten Hälfte großartig, leider wurde bei der Umsetzung in der zweiten Hälfte viel Potential verschenkt. Es hätte oft gerne emotionaler und tiefgründiger sein dürfen. Durch einige inhaltliche Wiederholungen, „Füllmaterial“, zu wenige Twists und die frühe Enthüllung des Täters geht dem Buch leider in der zweiten Hälfte die Luft aus. Ich hatte das Gefühl, dass die Geschichte stellenweise auf der Stelle tritt. Mir fehlten Spannung – das Buch wies leider ein paar Längen auf – und ein überzeugender Showdown. Absolut begeistern konnte mich hingegen in den ersten 250 Seiten die dichte und unheimliche Atmosphäre, die der Autor kreiert! Krächzende Stimmen, knackende Dielen, ein neues Haus, das den frischen Besitzern nicht ganz geheuer ist: Es gab viele Gänsehaut-Momente und Horror-Elemente, sodass ich mich echt gegruselt habe! Mein Fazit: „Der Kinderflüsterer“ ist ein Spannungsroman mit einer unglaublich starken, unheimlichen und atmosphärischen ersten Hälfte, dem in der zweiten Hälfte aber leider die Luft ausgeht und der deshalb hinter meinen Erwartungen zurückblieb. Den Hype kann ich leider nicht wirklich nachvollziehen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
ProtagonistInnen: 3 Sterne
Figuren: 2 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Atmosphäre: 3,5 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 14.08.2019

Erschreckende Dystopie mit wichtiger Botschaft, aber auch Schwächen

Dry
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Achtung! Die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!


Inhalt

Es ist so weit, die Katastrophe ist eingetreten: Aus Alyssas Wasserhahn kommt kein Tropfen Wasser mehr. ...

Achtung! Die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!


Inhalt

Es ist so weit, die Katastrophe ist eingetreten: Aus Alyssas Wasserhahn kommt kein Tropfen Wasser mehr. Die Behörden bitten die Bewohner Kaliforniens, ruhig zu bleiben und versprechen baldige Hilfe. Doch diese kommt nicht. Schon am ersten Tag beginnt die dünne Schicht der Zivilisation zu bröckeln, als die Leute im Supermarkt um die letzten Wasserflaschen streiten, bereits am dritten Tag eskaliert die Lage. Es ist erschreckend, wie schnell das geht. Jeder scheint sich selbst der Nächste zu sein. Bald wird um jeden Schluck Wasser erbarmungslos gekämpft…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: FISCHER Sauerländer
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: mehrere weibliche und männliche Perspektiven
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: +/- Angeblich tötet eine der Figuren mit einem Luftdruckgewehr Tiere (hier ist nicht sicher, ob das den Tatsachen entspricht), Kelton redet zudem gerne über die Jagd und ist ein überzeugter Jäger. Dutzende Fische sterben, weil jemand ein Aquarium zerstört, die überlebenden haben auch keine guten Chancen; es werden Witze auf Kosten der toten Tiere gemacht, ein Hund wird bei der Flucht trotz Platz im Auto zurückgelassen, jemand trägt eine Kaninchenpfote als Glücksbringer am Schlüsselbund mit sich. Andererseits gibt die Familie auch dem Hund Wasser, als dieses knapp wird und behandelt ihn sehr gut. Es werden keine Tiere von den Hauptfiguren gequält oder getötet.

Warum dieses Buch?

Ich liebe Endzeitszenarien, verfolge besorgt die Auswirkungen des Klimawandels und mochte auch die „Scythe“-Reihe von Neal Shusterman gern. Das alles, das Thema der Geschichte und die Tatsache, dass der Autor das Buch gemeinsam mit seinem Sohn geschrieben hat, haben mich sofort neugierig gemacht!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

"Der Wasserhahn in der Küche gibt sehr bizarre Geräusche von sich. Er keucht und hustet, als hätte er einen Asthmaanfall. Er gurgelt wie ein Ertrinkender, spuckt einmal und verstummt dann ganz." E-Book, Position 41

Ich hatte keinerlei Probleme, ins Buch zu finden. Im Gegenteil, die Geschichte beginnt im genau richtigen Tempo, lässt uns Zeit, die Protagonistin und ihre Familie kennenzulernen, und kommt dann immer mehr ins Rollen, als das Unglück seinen Lauf nimmt, und die Welt im Chaos versinkt. Sehr gelungener Anfang!

Schreibstil (+)

Der anschauliche Schreibstil des Vater-Sohn-Gespanns konnte mich auch dieses Mal überzeugen. Neal und Jarrod Shusterman schreiben sehr flüssig, einfach und angenehm, sodass das Buch nicht nur für das jugendliche Zielpublikum, sondern auch für Lesemuffel gut geeignet ist. Dabei kann das Buch sowohl in spannenden als auch in eher stillen, emotionalen Momenten glänzen, auch wenn einen die Sätze meist ästhetisch nicht umhauen und manchmal etwas unmotiviert aneinandergereiht wirken. Ich bin insgesamt zufrieden!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Irgendwas fühlt sich komisch an. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber es hängt in der Luft wie ein Geruch. Es ist die Ungeduld der Menschen vor den Kassen. Fast wie mit einem Rammbock bahnen sich die Leute mit ihren Einkaufswagen einen Weg durch die Schlangen. Es herrscht eine Art primitive Ur-Feindlichkeit, nur verdeckt von einer dünnen Schicht aus vorstädtischer Höflichkeit, die langsam fadenscheinig wird.“ E-Book, Position 148

Den Aufbau des Buches und das Worldbuilding fand ich sehr gut gelungen. Neben Kapiteln aus vier verschiedenen Perspektiven gibt es zwischendurch immer wieder so genannte „Snapshots“, die kurz das Leben einer anderen Person beleuchten. Auf diese Weise erfahren wir wie Nachrichten-Moderatorinnen, LKW-Fahrer, die Wasser liefern, und die verweifelten Menschen in den Versorgungszentren die Katastrophe erleben und damit umgehen. So erhalten wir ein recht umfassendes Bild von der schrecklichen Lage, was ich sehr gelungen fand. Die vielen Perspektivwechsel haben mich nicht gestört – im Gegenteil, sie haben Tempo in die Geschichte gebracht. Positiv fand ich auch, dass dieses Mal keine kitschige Liebesgeschichte die Hauptstory in den Hintergrund gedrängt hat – denn das hatte ich zwischenzeitlich schon fast befürchtet.

Mit „Dry“ haben die beiden Autoren mit Sicherheit eine wendungsreiche, glaubwürdige Dystopie geschaffen, die diesen Namen verdient hat. Am erschreckendsten an der Katastrophe ist mit Sicherheit die Tatsache, dass diese gar nicht allzu weit hergeholt ist. Schon jetzt spüren wir die Folgen des Klimawandels, schon jetzt gibt es immer schlimmere Waldbrände, Dürren, Überschwemmungen und Wirbelstürme. Und noch immer verschwenden wir Wasser, leben, als hätten wir es unbegrenzt zur Verfügung. Wasserknappheit wird noch Konflikte und Kriege auslösen, prophezeien Experten. In der Geschichte ist der Tap-Out bereits geschehen – und die Folgen sind verheerend. Denn ohne Nahrung kann der menschliche Körper immerhin mehrere Wochen leben, ohne Flüssigkeit jedoch nur ein paar Tage. Schnell bricht Panik aus, die Lage eskaliert, durch verunreinigtes Trinkwasser kommt es zu Infektionen und Krankheiten. Wertgegenstände werden in Autos und Häusern zurückgelassen, weil nur mehr eines zählt und sich schnell zum wertvollsten Gut überhaupt entwickelt: Wasser.

Die Botschaft der Geschichte scheint klar: Schluss mit der Wasserverschwendung! Und: Wir müssen endlich aufhören, den Klimawandel und seine schrecklichen Folgen zu verharmlosen und zu verdrängen! Wir müssen die Notbremse ziehen, bevor es zu spät ist! Und schaden kann es sicher nicht, wenn wir uns auf Ernstfälle (egal welcher Art) vorbereiten und genug Konserven und Wasser für einige Wochen einlagern. Immer wieder gibt es im Buch auch Situationen, in denen moralisch schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen. Unweigerlich fragt man sich irgendwann: Was hätte ich getan? Wie hätte ich gehandelt?

Nicht überzeugen konnte mich neben der immer wieder fehlenden Tiefe und einigen Logiklöchern, auf die ich gleich noch näher eingehen werde, das Ende.

Achtung: Spoiler!

Wie auch schon andere RezensentInnen geschrieben haben, ist das Ende nicht nur „Friede, Freude, Eierkuchen“, sondern da ist sogar noch Zuckerguss obendrauf. Ich fand das besonders bei einer Dystopie zu unrealistisch; mir war das eindeutig zu viel.

Spoiler: Ende!

ProtagonistInnen (+/-)

„‘Sie sagen, wir sollen ruhig bleiben‘, betont Alyssa.
‚Ja, das haben sie auch zu den Leuten auf der Titanic gesagt, als sie schon wussten, dass sie sinken wird.‘
Und er hat recht. Vom Standpunkt der Behörden aus sind ruhiggestellte Menschen, die still und leise sterben, viel einfacher zu händeln als wütende Menschen, die um ihr Leben kämpfen.“ E-Book, Position 1226

Man merkt, dass sich die Autoren Mühe gegeben haben, ihre Figuren eine Entwicklung durchmachen zu lassen. Alle Charaktere haben ihre Stärken und Schwächen und handeln moralisch nicht immer vollkommen einwandfrei – etwas anderes wäre in einer solchen Situation auch unrealistisch. Besonders ihr Verhalten in Ausnahmesituationen – wenn es um Leben und Tod ging – war für mich sehr spannend zu beobachten. Trotzdem hat mir auch hier oft Tiefe und Einzigartigkeit gefehlt; vielleicht fiel es mir deswegen stellenweise schwer, mit ihnen mitzufühlen und mitzufiebern. Zudem fand ich ihr Handeln leider nicht immer logisch und glaubwürdig. Ein Beispiel: Die Familie findet heraus, dass aus den Leitungen kein Wasser mehr kommt und weiß, dass es nun wichtig und schlau wäre, sich mit Wasser- und Essensvorräten einzudecken. Aber aus irgendeinem Grund beschließen sie, erst Stunden später einkaufen zu fahren und müssen dann um die letzten Flaschen kämpfen – obwohl es überhaupt keinen Grund gab, so lange zu warten!

Einige Figuren waren mir auch sehr unsympathisch, besonders der egoistische, feige Henry. Aber auch der Waffenfreak Kelton, der vor Ehrfurcht feuchte Augen bekommt, weil seine Waffe so schön glänzt, hat bei mir immer wieder Augenrollen und Gefühle der Hassliebe ausgelöst.

Figuren (+)

Die anderen Personen fand ich sehr gut gelungen, auch wenn sie nur kurze Auftritte im Buch hatten. Für Nebenfiguren waren sie wirklich erstaunlich gut ausgearbeitet und durften viele Facetten von sich zeigen. Das hat mir gefallen!

Spannung & Atmosphäre (+/-)

„Für eine Wasserkrise gibt es keine Radarbilder. Keine Sturmfluten, keine Trümmerfelder. Der Tap-Out ist so lautlos wie Krebs.“ E-Book, Position 319

Das Buch überzeugt mit einem sehr starken Beginn. Es lässt uns miterleben, wie unscheinbar alles beginnt, wie schnell die Lage aber immer weiter eskaliert. Leider kann die Geschichte ihr hohes Spannungslevel nicht bis zum Schluss halten, im Mittelteil gibt es einige Passagen, in denen der Spannungsbogen einbricht. Jedoch gelingt es den Autoren immer wieder, Spannung neu aufzubauen und die Neugier der LeserInnen mit vielen unerwarteten Wendungen, einer unvorhersehbaren Geschichte und so manchem geschickt platzierten Cliffhanger neu zu entfachen.

Wirklich begeistern konnte mich hingegen die Atmosphäre im Buch. Leere Wohnsiedlungen, aufgebrachte Menschenmengen, geplünderte Häuser - das Chaos, von dem die Welt heimgesucht wird, ist auf jeder Seite spürbar. Die vielen „Snapshots“ geben kurze Einblicke in die Welt verschiedener Figuren und vermitteln ein erschreckendes Gesamtbild. Das ist wirklich eine Dystopie, die sich so nennen darf! Beim Lesen stellt sich seitenweise ein großer Durst ein, man beginnt, Regen, Flüsse und Wasserflaschen mit anderen Augen zu sehen. Nie war es schöner, den Wasserhahn aufzudrehen und ein paar Schlucke Wasser zu trinken!

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Hier gibt es einige Dinge, die mich gestört haben. Wütend und traurig hat mich beispielsweise gemacht, dass schon einem kleinen Jungen Genderstereotype eingetrichtert werden. Ihm wird eingeredet, dass ihm die Klempnerarbeit mehr im Blut liege als zum Beispiel seiner Schwester, weil er ja ein Mann ist. Es ist nämlich sehr wichtig, dass wir schon bei Kindern daran arbeiten, dass sie ein starres Männlichkeitsbild entwickeln – denn wo kämen wir sonst hin? In eine gleichberechtigte Welt, in der niemand in Schubladen gezwängt wird, sondern jede/r sein darf wie er ist? Pff, das wäre ja noch schöner!

Nach dem Tap-Out wird es durch den Ausnahmezustand viel besser, aber davor sprüht die Geschichte nur so vor veralteten, traditionellen Geschlechterrollen: die Mütter kochen, die Männer schrauben an den Autos herum, sind fürs Reparieren und Renovieren zuständig (auch wenn sie es nicht wirklich gut können), Kinder zeigen bereits erste Anfänge von „Machogehabe“, es gibt „Stutenbissigkeit“ unter Mädchen, Mütter neigen zu „Frustputzen“, die „Eroberung“ eines Mädchens wird mit der Jagd auf ein Reh verglichen, die Väter sind natürlich die, die alles bestimmen und „Machtwörter“ sprechen. Einmal werden sogar „männliche Geräusche“ in der Garage produziert. Wie die wohl klingen? Auch gegenderte Beschimpfungen gab es, allerdings nur wenige: Tussi und Hu+++sohn. Dennoch würde ich mir wünschen, dass solche Wörter keinen Einzug in Jugendbücher finden! Hier sehe ich eindeutig noch Verbesserungsbedarf. Besonders AutorInnen von Kinder- und Jugendliteratur müssen endlich lernen, sensibler mit Geschlechterrollen und -klischees umzugehen und auch die eigene Sozialisation zu hinterfragen!

Aber es gibt natürlich auch Aspekte, die man loben kann. Die Mutter von Alyssa ist Psychologin, die sportliche Alyssa spielt im Fußballteam der Schule und ihre Eltern sind überzeugt, dass sie einmal Anwältin wird. Beide Protagonistinnen sind stark, Jacqui bricht sicherlich mit Geschlechterklischees und auch Jungs dürfen weinen.

„‘Warum muss ich das machen?‘, zetert er.
‚Weil wir uns abwechseln‘, erinnere ich ihn, dann appelliere ich an sein männliches Ego. ‚Außerdem bist du ein Mann. Dir liegt Klempnerarbeit einfach mehr.‘“ E-Book, Position 784

Mein Fazit

Mit „Dry“ haben Neal und Jarrod Shusterman eine Dystopie geschrieben, die diesen Namen verdient hat. Die Autoren skizzieren in ihrem Buch ein leider gar nicht so weit hergeholtes, aber absolut erschreckendes Endzeitszenario: Eskalation, Kämpfe um jeden Schluck Wasser, durch verunreinigtes Wasser ausgelöste Infektionen, ausgestorbene Siedlungen und geplünderte Häuser. Die Botschaft ist klar: Schluss mit der Wasserverschwendung, Schluss mit der Verharmlosung des Klimawandels! Und: Schaden kann es sicher nicht, wenn wir uns auf Ernstfälle (egal welcher Art) vorbereiten und genug Konserven und Wasser einlagern. Eindrucksvoll beschäftigt sich die Geschichte mit dem Überleben, den Opfern, die wir bereit sind, dafür zu bringen, und mit der Frage nach moralisch richtigem Verhalten in Ausnahmesituationen. Trotzdem gibt es leider auch einige Logiklöcher und immer wieder fehlte mir Tiefe. Auch wenn der Schreibstil ästhetisch nicht umwerfend ist, so ist er doch flüssig und angenehm lesbar und somit perfekt für die jugendliche Zielgruppe und auch Lesemuffel geeignet. Mein Verhältnis zu den Figuren ist hingegen zwiegespalten: Teilweise sind sie gut ausgearbeitet und entwickeln sich weiter, teilweise sind sie aber auch sehr unsympathisch; insgesamt fehlten mir auch hier Tiefe und Einzigartigkeit. Vielleicht konnte ich deshalb nicht immer mit ihnen mitfühlen und mitfiebern? Nicht überzeugen konnten mich zudem das übertriebene, unrealistische Ende und die oft starren Geschlechterrollen, die in diesem Buch vermittelt werden. AutorInnen von Kinder- und Jugendliteratur müssen endlich lernen, sensibler mit diesem Thema umzugehen! Das Buch beginnt sehr stark, kann sein hohes Spannungslevel aber leider nicht durchgehend halten. Regelmäßig bricht der Spannungsbogen ein, kann jedoch durch gezielt gesetzte Cliffhanger und eine wendungsreiche Geschichte auch immer wieder neu aufgebaut werden. Wirklich begeistern konnte mich hingegen die Atmosphäre - das Chaos, von dem die Welt heimgesucht wird, ist auf jeder Seite spürbar. Beim Lesen stellt sich seitenweise ein großer Durst ein, man beginnt, Regen, Flüsse und Wasserflaschen mit anderen Augen zu sehen. Nie war man dankbarer, den Wasserhahn aufdrehen und ein paar Schlucke trinken zu können.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
ProtagonistInnen: 3 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 18.07.2019

Ehrlicher, authentischer Jugendroman, der mich leider nicht ganz überzeugen konnte

Mein Leben basiert auf einer wahren Geschichte
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eigentlich wollte Rosa mit ihrem Freund nach Australien fliegen und durch das schöne Land reisen, doch der trennt sich unerwartet von ihr. Also wagt sie diesen großen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eigentlich wollte Rosa mit ihrem Freund nach Australien fliegen und durch das schöne Land reisen, doch der trennt sich unerwartet von ihr. Also wagt sie diesen großen Schritt allein. Unsicher, ängstlich und einsam landet sie am anderen Ende der Welt und überlegt, ob sie nicht gleich wieder zurückfliegen soll. Doch dann trifft sie auf Frank, einen intelligenten, sehr introvertierten jungen Mann, der, ebenfalls im gleichen Hostel schläft wie sie. Beide sind sich sofort (mehr als) sympathisch und beschließen, gemeinsam weiterzureisen. Nach kurzer Zeit taucht jedoch David, Franks bester Freund, mit dem er sich eigentlich zerstritten hat, in Down Under auf und bringt alles durcheinander. Eine atemberaubende Reise beginnt, die niemand von ihnen als der gleiche Mensch beenden wird, als der er sie begonnen hat…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Heyne
Seitenzahl: 416
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive (Rosa, Frank, David)
Kapitellänge: sehr kurz (meist 1-3 Seiten)
Tiere im Buch: +/- Es werden keine Tiere verletzt oder gequält. Die drei gehen sogar sehr liebevoll mit den australischen Kängurus um und streicheln und füttern sie. Jedoch wird auch Fleisch gegessen und geangelt. Die toten Fische werden im Anschluss verspeist. Ziemlich geärgert hab ich mich auch, dass ein Hamster als „Drecksviech“ bezeichnet wurde und dass es als normal dargestellt wurde, dass diese Tiere nur wenige Wochen leben. Wenn man sie alles andere als artgerecht hält (zu kleiner Käfig, schlechtes Futter, am Tag mehrmals aufwecken), dann leiden sie natürlich und sterben so früh, ansonsten aber nicht. Ich würde mir wünschen, dass Hamster und andere Kleintiere endlich nicht mehr in winzigen Gefängnissen ihr Dasein fristen müssen, nur weil man sich nicht die Mühe macht, sich ordentlich zu informieren, bevor man sich (oder dem Kind) ein Tier ins Haus holt. Im Internetzeitalter gibt es dafür keine Ausreden mehr! Seriöse Informationen findet man z. B. auf der Internetseite hamsterbacken.com. Kaufen sollte man Tiere übrigens niemals im Zooladen (die Tiere werden meist im Ausland unter tierquälerischen Bedingungen „produziert“), sondern stattdessen sollte man einem Hamster von einem seriösen Züchter (keinem „Kleinanzeigen-VermehrerInnen“!) oder aus dem Tierheim ein neues Zuhause schenken.

Warum dieses Buch?

Über Anne Freytag hatte ich vor der Lektüre sooo viel Gutes gehört - ihr vielgelobtes und vielgeliebtes Buch "Den Mund voll ungesagter Dinge" liegt seit kurzem auf meinem SUB. Klappentext und Leseprobe ihres neuen Romans haben mich sofort verzaubert. Dass die Autorin (laut Verlag) mit ihm diese magische Zeit zwischen der Schule und allem, was danach kommt, feiert, hat mich zusätzlich sehr neugierig gemacht. Meiner Meinung nach ist das nämlich einer der schönsten Zeitabschnitte im Leben!

Meine Meinung

Einstieg (-)

Obwohl der Schreibstil eigentlich sehr einfach ist und obwohl mich die Leseprobe überzeugen konnte, dauerte es sehr lange (ca. 150-200 Seiten), bis ich einen Zugang zur Geschichte und ins Buch fand. Vor allem am Beginn hatte ich oft nicht das Bedürfnis weiterzulesen – im Gegenteil, ich hätte das Buch wohl, wenn es sich nicht um ein Verlosungsbuch gehandelt hätte, abgebrochen. Zum Glück bin ich ab einem gewissen Punkt mit jeder Seite besser in die Geschichte gekommen, so dass sich das Weiterlesen für mich durchaus gelohnt hat. Auch wenn meine Beziehung zum Buch bis zum Ende eine blieb, die man heutzutage wohl am ehesten mit „Es ist kompliziert“ beschreiben würde.

Schreibstil (+/-)

„Es fühlt sich an, als stünde ich auf einer Klippe, vor mir und hinter mir Abgrund, überall Abgrund, als gäbe es kein Vor oder Zurück, als wäre jeder Schritt ein Ende.“ Seite 90

Was den einfachen, altersgemäßen Schreibstil betrifft, habe ich beispielsweise sehr widersprüchliche Gefühle. Einerseits hat er mir an manchen Stellen unglaublich gut gefallen, denn immer wieder gelingt es Anne Freytag, unglaublich berührende, emotionale und intensive Momente zu beschreiben, in denen ich absolut mitgefühlt habe und von denen ich begeistert oder verzaubert war. Auch ihre poetische Sprache und die gelungenen Vergleiche und Metaphern fand ich oft wunderschön. Zudem ist das, was im Buch gesagt wird, trotz des einfachen Schreibstils niemals oberflächlich, sondern hat stets Substanz und Tiefe.

Andererseits waren mir die stellenweise unglaublich kurzen (Einwort-)Sätze oft auch zu abgehackt, rissen mich aus dem Lesefluss und führten dazu, dass ich für dieses Jugendbuch beim Lesen sehr lange gebraucht habe. Immer wieder bin ich während der Lektüre gedanklich abgeschweift. Der Schreibstil wirkt irgendwie rastlos und unruhig, und das passt vielleicht ganz gut zu diesem ungewöhnlichen Roadtrip, jedoch konnte er mich dadurch oft leider nicht so erreichen, wie ich mir das gewünscht hätte. Oft blieb eine gewisse Distanz zur Geschichte, und ich konnte nie vergessen, dass ich ein Buch vor mir hatte, nie ganz in die Geschichte eintauchen. Es gab Szenen, die haben mich fast zu Tränen gerührt und andere Momente, die nichts in mir ausgelöst haben – diese haben leider überwogen. Zudem waren mir die Sätze oft auch zu pathetisch, manchmal wirkte jedes Wort wie künstlich mit Bedeutung aufgeladen. Mir war das manchmal einfach zu viel.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Mein Großvater sagte immer, das Leben beginnt da, wo die Angst endet. In den Sekunden, in denen wir die Möglichkeiten sehen und nicht das, was dagegen spricht.“ Seite 61

Wenn ich (als angehende Lehrerin) eines an Anne Freytags Buch schätze, das es von vielen anderen Jugendromanen abhebt, dann ist es die feinfühlige, altersadäquate Ehrlichkeit der Autorin, mit der sie tabulos komplizierte (unperfekte) zwischenmenschliche Beziehungen beleuchtet und über Themen wie Freiheit, das Ausbrechen aus gesellschaftlichen Normen, Liebe, Freundschaft und Selbstfindung, aber auch eher schwierige Themen wie Schuldgefühle, Sexualität und Verletzlichkeit spricht. Ihre Geschichte ist genau deshalb sehr erfrischend: die Autorin nimmt ihre Zielpublikum ernst und traut ihm einiges zu. Manchmal geht sie auch unerwartet ins Detail, was mich teilweise überrascht hat. Dabei wird es allerdings niemals unpassend, auch empfindliche Themen werden tiefgründig und sensibel behandelt und so aufbereitet, dass Jugendliche sie verstehen können. Ähnlich ehrlich schreibt übrigens die österreichische Autorin Sabine Schoder, deren berührendes Debüt, „Liebe ist was für Idioten. Wie mich“, ich euch nur wärmstens ans Herz legen kann.

Die Geschichte wird aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt; abwechselnd und nur wenige Seiten lang erhalten wir einen Einblick in das Innenleben der zweifelnden Rosa, des schüchternen Frank, des extrovertierten Davids. Die Zeitstruktur ist hierbei oft komplex, da es viele Rückblenden gibt – diese werden jedoch sehr gelungen eingewebt, sodass sie einen nicht aus dem Lesefluss reißen. Es ist ein stilles Buch, das wenig Dialog und Handlung enthält und sich eher auf die „innere Reise“, also die innere Weiterentwicklung und Selbstfindung konzentriert, anstatt auf äußere Vorkommnisse. Für diese Geschichte war diese Erzählweise sicherlich die richtige Wahl, weil nur so eine gewisse Vielschichtigkeit und Tiefe entstehen konnte. Über Australien und seine Sehenswürdigkeiten erfährt man nicht viel – obwohl Anne Freytags Schreibstil anschaulich ist –, stattdessen weiß man am Ende des Buches ganz genau, wie es ist, hunderte Kilometer lang mit zwei Menschen einen Camper sein Zuhause zu nennen. Das hat mir sehr gut gefallen. Das Ende fand ich außerdem passend und rund. Es hat mich zwar nicht vom Hocker gehauen, aber ich habe auch nichts daran auszusetzen. Ich konnte das Buch zufrieden schließen. Ich werde dieses Roadtrip-Feeling, das Anne Freytag sehr intensiv einfängt, bestimmt auch nicht so schnell wieder vergessen.

Eine Playlist am Vorsatzpapier (auf der Innenseite der Buchdeckel) ermöglicht es einem, die selben Lieder wie die drei AbiturientInnen zu hören, was viel zur Atmosphäre beiträgt und was ich natürlich deshalb auch gemacht habe. Viele der Lieder haben mir zwar nicht wirklich gefallen (einige wenige dafür sehr!), aber das ist ja wie immer Geschmackssache. Jedenfalls bietet das Buch eine bunte Mischung, bei der für jede/n etwas dabei sein sollte.

Die Geschichte enthält einige wunderbare, einmalige Momente, die ich nicht missen möchte. Trotzdem konnte sie mich nicht ganz und vor allem nicht durchgehend überzeugen. Manchmal war mir dieser Blick ins Innenleben zu detailliert, manche Szenen fand ich langweilig und nichtssagend. Oft fehlte mir auch die Spannung; dieser Drang, weiterzulesen wollte sich über weite Strecken einfach nicht einstellen.

ProtagonistInnen (+/-)

„Frank schaut in Moll. Etwas in seinen Augen ist immer ein bisschen schwer, ein bisschen wehmütig.“ Seite 69

Die ProtagonistInnen sind ohne Frage sehr liebevoll ausgearbeitet und besitzen alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Geheimnisse und ihre Verletzungen aus der Vergangenheit. Dennoch blieb da immer eine kleine Distanz zwischen mir und den Figuren, besonders zu Rosa. Ich weiß nicht genau, woran es lag, dass ich mich einfach nicht in die Figuren verliebt habt, so wie ich es mir bei diesem Roman eigentlich gewünscht hätte. Ich habe mitgefühlt und mitgelitten, aber nicht so intensiv, dass ich nur mehr die Geschichte im Kopf hatte oder traurig gewesen wäre, als ich das Buch geschlossen habe. Das ist sehr schade, und ich kann absolut verstehen, dass es bei vielen anderen LeserInnen anders war! Dass Rosa raucht, ist zwar authentisch (Jugendliche rebellieren nun mal gerne), andererseits sehe ich es auch kritisch, da sie somit dem Zielpublikum als negatives Vorbild dienen könnte. Denn, traurige Wahrheit: Mehr als die Hälfte der erwachsenen RaucherInnen haben vor dem 17. Lebensjahr damit begonnen.

Figuren (+)

Nur wenige Nebenfiguren haben im Buch einen Auftritt. Ihre Rollen sind zu klein, als dass man sagen könnte, dass sie gut oder schlecht ausgearbeitet sind. Jedoch ist mir hier nichts negativ aufgefallen – im Gegenteil, viele der Menschen, die Rosa, Frank und David auf ihrer Reise treffen waren sehr interessant und charmant! Ich habe sie gerne kennengelernt!

Spannung (-)

Was mir bei diesem Buch leider über weite Strecken wirklich gefehlt hat, war die Spannung. Immer wieder wird der Spannungsbogen kurz aufgebaut, bricht jedoch schon nach wenigen Seiten wieder ein. Ich war zwar stets neugierig, wie die Geschichte weitergehen würde, das Buch war aber kein Pageturner für mich und übte auch keinen Sog aus, weiterzulesen. An manchen Stellen (besonders in der ersten Hälfte) musste ich mich sogar zum Weiterlesen zwingen – eigentlich hätte ich lieber ein neues Buch begonnen.

Atmosphäre (♥)

Dafür konnte die Autorin bei mir mit der dichten Atmosphäre punkten. Man fühlt sich, als würde man selbst schwüle Nächte in diesem engen Camper verbringen, bei Sonnuntergang am Strand liegen und selbstgekochte Spagetti verzehren und als würde man den warmen Wind beim Fahren im Gesicht spüren. Obwohl die Autorin auf detaillierte Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten verzichtet und sich lieber auf die innere Reise und das komplizierte Beziehungsgeflecht der Hauptfiguren konzentriert, bekommt man dennoch ein sehr gutes Gefühl für das Leben in Australien und den Charme des Landes und seiner EinwohnerInnen. Toll!

Feministischer Blickwinkel (♥)

Rosa ist eine sehr starke, selbstbewusste weibliche Figur, die sich immer wieder gegenüber David und Frank durchsetzt. Männer waschen ab und dürfen weinen. Auch die ehrliche Thematisierung von Sexualität, Homosexualität, Einverständnis (Consent) und Gleichberechtigung (im Buch wird Naomi Aldermans „Die Gabe“ gelesen, was ich ziemlich cool fand) hat mir sehr gut gefallen. Nicht so gut gefallen haben mir die gegenderten Beleidigungen, die zum Glück nur sehr selten vorkommen (Flittchen, Miststück).

Mein Fazit

„Mein Leben basiert auf einer wahren Geschichte“ ist ein überraschend ehrlicher, tabuloser Jugendroman, der sein Zielpublikum ernst nimmt und ihm einiges zutraut, was mir besonders als angehende Lehrerin sehr gefallen hat. Trotzdem konnte mich das Buch leider nicht ganz überzeugen. Das lag zu einem großen Teil daran, dass ich nur sehr schwer in die Geschichte gefunden habe und dass sie mich trotz manch unglaublich berührendem, wunderbarem und intensivem Moment nicht immer erreichen konnte. Es gab Szenen, die mich fast zu Tränen rührten, aber auch viele Kapitel, die nichts in mir ausgelöst haben. Einerseits mochte ich die einfache, aber doch tiefgründige und poetische Sprache der Autorin (viele Metaphern und Vergleiche fand ich wunderschön!), andererseits war mir der Schreibstil oft auch zu pathetisch, zu künstlich mit Bedeutung aufgeladen. Die sehr kurzen Sätze wirkten auf mich oft abgehackt; sie haben mich aus dem Lesefluss und aus der Geschichte gerissen. Es handelt sich um ein stilles Buch, das wenig Dialog und Handlung enthält und sich eher auf die „innere Reise“, also die innere Weiterentwicklung und Selbstfindung konzentriert, anstatt auf äußere Vorkommnisse. Womit die Autorin eindeutig glänzen kann, ist ihre erfrischende, feinfühlige, altersadäquate Ehrlichkeit, mit der sie tabulos und tiefgründig über (auch schwierige) Themen wie Liebe, Schuldgefühle und Sexualität spricht. Die ProtagonistInnen sind ohne Frage sehr dreidimensional und liebevoll ausgearbeitet, dennoch blieb da immer eine kleine Distanz zwischen mir und den Figuren, besonders zu Rosa. Ich weiß nicht genau, woran es lag, dass ich mich nicht in die Figuren verliebt habe, so wie ich es mir bei diesem Roman eigentlich gewünscht hätte. Oft fehlte mir auch die Spannung; dieser Drang, weiterzulesen wollte sich über weite Strecken einfach nicht einstellen. An manchen Stellen (besonders in der ersten Hälfte) musste ich mich sogar dazu zwingen. Punkten konnte die Autorin dafür mit der dichten Atmosphäre. Man fühlt sich, als würde man selbst schwüle Nächte in diesem engen Camper verbringen und den warmen Wind beim Fahren im Gesicht spüren. Ich werde dieses Roadtrip-Feeling, das Anne Freytag sehr intensiv einfängt, bestimmt nicht so schnell vergessen. Kurz: „Mein Leben basiert auf einer wahren Geschichte“ ist ein erfrischend ehrlicher Jugendroman mit Schwächen, der mich insgesamt leider nicht ganz überzeugen konnte.

Jetzt freue ich mich auf „Den Mund voll ungesagter Worte“ und hoffe, dass dieses Buch mehr meinen Geschmack trifft.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
ProtagonistInnen: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 4 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 11.06.2019

3,5 Sterne: Vom ruhelosen Warten auf das drohende Unheil

Die Mauer
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Für Joseph Kavanagh ist der große, gefürchtete Tag gekommen: Er tritt seinen Dienst auf der Mauer an, die England seit dem „Wandel“ umgibt. Gemeinsam mit seinen KameradInnen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Für Joseph Kavanagh ist der große, gefürchtete Tag gekommen: Er tritt seinen Dienst auf der Mauer an, die England seit dem „Wandel“ umgibt. Gemeinsam mit seinen KameradInnen wird er zwei Jahre lang abwechselnd Tag und Nacht die Mauer gegen Flüchtlinge – „Andere“ – verteidigen. Er wird sich langweiligen, zu Tode ängstigen und alles geben – das muss er auch, denn er weiß: Für jeden Anderen, der die Mauer überquert, wird einer von ihnen mit einem kleinen Boot auf dem Meer ausgesetzt und muss dort ums Überleben kämpfen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 348
Erzählweise: Ich-Erzähler (am Beginn kurz ein Du-Erzähler), Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive (Joseph)
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: - Es werden keine Tiere gequält. Es werden Möwen und Fische getötet, um sie zu essen. Das Fleisch ist allerdings wirklich überlebensnotwendig für die Menschen.

Warum dieses Buch?

Bei diesem Buch hat mich der Klappentext sofort neugierig gemacht, da der Autor die momentane Isolationspolitik Englands in seiner Dystopie auf die Spitze treibt!

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg, der sehr atmosphärisch war, ist mir rasch gelungen und eigentlich auch recht leicht gefallen. Sofort meint man, die eisige Kälte und den kalten Wind auf der Mauer selbst am Körper zu spüren.

"Es ist kalt auf der Mauer. Das ist das Erste, was einem jeder erzählt, und auch das Erste, was einem auffällt, wenn man dorthin versetzt wird. Das ist es, woran man die ganze Zeit denken muss, wenn man sich auf ihr befindet, und daran erinnert man sich, wenn man nicht mehr dort ist. Es ist kalt auf der Mauer." E-Book, Position 25

Schreibstil (+/-)

John Lanchesters Schreibstil ist eindringlich, bedeutungsschwer, lässt sich meist flüssig lesen und geht bei Beschreibungen oft sehr ins Detail. Selten ist auch ein wenig Humor enthalten, was mir sehr gut gefallen hat, weil es die Stimmung auflockert. Er besteht aus einfachen Wörtern, ist jedoch dennoch stellenweise durch eine gewisse Komplexität gekennzeichnet, die es einem nicht erlaubt, das Buch nebenbei zu lesen. Das liegt vor allem daran, dass der Autor teilweise zu langen Schachtelsätzen und Hauptsatzreihen neigt. In manchen Momenten fand ich, dass er dadurch perfekt die Ruhelosigkeit, die auf der Mauer herrscht, und die rasenden Gedanken der VerteidigerInnen einfängt (teilweise rutscht der Schreibstil sogar in einen Bewusstseinsstrom ab) – dann war ich begeistert.

In anderen Momenten (vor allem auch später im Buch, als der Schreibstil langsam begann, mir auf die Nerven zu gehen) hätte ich den Autor manchmal am liebsten gefragt, ob es ihn umbringen würde, doch einfach mal einen Punkt zu setzen. Teilweise wirkte die Sprache auf mich dadurch nämlich auch ein wenig prätentiös und unnötig kompliziert. Auch die sachliche, unterkühlte Erzählweise und die Wiederholungen haben mich gestört. Dennoch: Gegen Ende habe ich mich wieder mit dem Schreibstil versöhnt und konnte das Buch mit einem zufriedenen Gefühl beenden.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„‘Sie haben sich wieder aufgemacht, und zwar sehr zahlreich – so zahlreich wie damals, vor vielen Jahren, als uns der Wandel zum ersten Mal traf. Das ist also der erste Punkt, den ich Ihnen heute mitteilen wollte. Die Anderen kommen.‘“ E-Book, Position 1677

Über „Die Mauer“ von John Lanchester hatte ich im Vorhinein schon viel Gutes gehört. Mit der Wahl des Inhalts, der in drei Teile gegliedert ist („Die Mauer“, „Die Anderen“, „Das Meer“) bewegt sich John Lanchester mit Sicherheit am Puls der Zeit: Während aktuell in England der Brexit bevorsteht, treibt der Autor die selbstgewählte Isolationspolitik auf die Spitze, indem er eine dystopische Welt erschafft, in der Großbrittanien von einer hohen Mauer umgeben ist, um "Eindringlinge" fernzuhalten. Wer jemanden (versehentlich) ins Land lässt, wird dem Meer übergeben und wird sehr wahrscheinlich sterben.

Ein Szenario, das einen erst einmal schlucken und – vor allem – nachdenklich werden lässt. Denn so könnte es auch bei uns eines Tages aussehen, wenn durchgesetzt wird, was viele fordern: dass wir unsere Grenzen um jeden Preis schützen und keinen einzelnen Flüchtling mehr durchlassen. Die langweiligen, trostlosen, von Angst und Ungeduld geprägten Wachdienste auf der Mauer bringen einen ebenfalls zum Nachdenken. Minutiös schildert der Autor die gleichförmigen Tage, an denen nichts Nennenswertes passiert. Wir begleiten den Protagonisten dabei, wie er in Zeitlupe seinen Müsliriegel verspeist, wie er lernt, nicht mehr auf die Uhr zu schauen (weil die Zeit dadurch nur langsamer vergeht), wie er Freundschaften schließt und sich verliebt. Themen wie Kameradschaft, Überleben, Tod, Krieg, Verlust und Trauer stehen ebenfalls im Mittelpunkt der Geschichte. Wie viele andere LeserInnen hat auch mich die Mauer im ersten Moment an jene in „Game of Thrones“ erinnert – jedoch verschwindet dieses Gefühl schnell wieder – zu sehr unterscheiden sich die beiden Geschichten.

Auch wenn ich Kavanagh gerne auf seiner Reise begleitet habe und auch wenn uns John Lanchester hier eine wendungsreiche, unvorhersehbare, durchaus unterhaltsame Geschichte bietet: Um eine Gesellschaftskritik zu sein, behandelt das Buch seine eigentlichen Themen – Brexit, Isolationspolitik, Flüchtlingsströme und Klimawandel – jedoch viel zu oberflächlich. Der Autor geht hier nicht genug in die Tiefe, liefert kaum Hintergrundinfos, wie es zu dieser verfahrenen Lage kommen konnte. Meiner Meinung nach hat es sich der Autor auf diese Weise leicht gemacht – zu leicht. Das Ende fand ich – auch wenn es vielleicht nicht allzu kreativ war – gelungen. Ich mochte die Mischung aus Hoffnung, Ungewissheit und Trostlosigkeit, die mitschwang, sehr.

Haupt- & Nebenfiguren (-)

Die Figurenzeichnung ist meiner Meinung nach leider eine der größten Schwächen des Buches. Es war sehr schwer für mich, eine Bindung zum Protagonisten aufzubauen. Das lag am zu nüchternen, emotionslosen Schreibstil und an der farblosen, latent unsympathischen Hauptfigur Kavanagh selbst. Er hält sich – vor allem am Beginn des Buches – für etwas Besseres als seine KameradInnen, ist sehr arrogant (die letzte Generation hat alles falsch gemacht und seine alles richtig!), gewissenlos und unreflektiert, was seine Tätigkeit auf der Mauer und die „Dienstlinge“ (moderne Sklaverei!) betrifft. Nur langsam hat er sich positiv verändert und ebenso langsam habe ich mich ihm angenähert. Gerade als ich begann, mit ihm mitzufühlen und mitzufiebern, war das Buch zu Ende.

Auch die meisten Nebenfiguren blieben blass und eindimensional. Die oberflächlichen Dialoge und die wenige Zeit, die Joseph mit ihnen verbringt, machen es leider nicht möglich, sie näher kennenzulernen. Jedoch gibt es auch hier Ausnahmen – manche Figuren wie zum Beispiel der Hauptmann sind meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Richtig cool fand ich übrigens Hifa, die statt zum Gewehr immer lieber gleich zum Granatwerfer greift und damit allen zu Hilfe eilt.

Liebesgeschichte (+/-)

Gut gefallen hat mir, dass sich die Beziehung zwischen Joseph und Hifa nur langsam entwickelt, was unter solchen Umständen sehr glaubwürdig ist. Zuerst freunden sich die beiden an, erst später wird mehr daraus. Leider fand ich auch die Liebesgeschichte zu emotionslos – sie konnte mich leider nicht mitnehmen und berühren. Dafür war zu viel Distanz zwischen mir und den Figuren.

Spannung (+/-)

Eines steht fest: „Die Mauer“ ist nur etwas für Fans (sehr!) ruhiger Bücher. Es gibt in dieser Geschichte nur wenige Dialoge, dafür aber viele Beobachtungen. Es passiert wenig auf der Mauer – und es passiert dementsprechend wenig im Buch. Ist es eigentlich genial, dass wir uns als LeserInnen vor allem im ersten Teil der Geschichte so durchs Buch quälen müssen wie die VerteidigerInnen sich durch ihre Wachdienste? Oder zeugen die fehlende Spannung, die statischen Beschreibungen des Alltages und die Langatmigkeit der Geschichte von schlechtem Handwerk und sind eher enttäuschend? Ich bin unschlüssig, tendiere jedoch eher zu Letzterem. In der zweiten Hälfte wird es dann endlich spannender (es passiert auch mehr) – diesen Teil fand ich sehr unterhaltsam. Auch die vereinzelten Cliffhanger und die kryptischen Vorausdeutungen haben mich absolut überzeugt.

Atmosphäre (♥)

Begeistert war ich jedoch von der Atmosphäre im Buch. Ich liebte diese düstere, beklemmende, trostlose, hoffnungslose (Kasernen-)Stimmung, die Sorgen und die Verzweiflung der VerteidigerInnen und dieses regungslose, aufgeladene, unruhige Warten auf das Unheil und die drohende Gefahr!

„Nachts, auf der Mauer, ist deine Fantasie dein Feind. […] Du siehst und hörst Dinge, die gar nicht da sind.“ E-Book, Position 900

Feministischer Blickwinkel (+)

Nur wenige Dinge haben mich hier gestört: Bei den Eltern von Joseph gibt es eine sehr traditionelle Rollenverteilung, bei der die Mutter sich um den Haushalt kümmert. Frauen werden entführt, um wahrscheinlich vergewaltigt zu werden (macht wütend, ist aber leider auch realistisch in einer solchen Situation) – stattdessen wird für sie entschieden, dass der Tod besser für sie ist. Ich bin unschlüssig, wie ich das finden soll! Andererseits sind auch viele Frauen auf der Mauer vertreten, die ihren männlichen Kollegen, was Mut und Einsatz betrifft, in nichts nachstehen und immer wieder ihre KameradInnen retten. Männer dürfen weinen, die Beziehung von Joseph und Hifa ist gleichberechtigt. Zudem gibt es auch keinerlei frauenfeindliche Sprache im Buch – danke dafür! In den Führungspositionen hätte ich mir allerdings ein ausgeglicheneres Verhältnis gewünscht (Politiker, Hauptmann, Sergeant etc.).

Mein Fazit

„Die Mauer“ ist eine düstere, beklemmende Dystopie am Puls der Zeit, die meine hohen Erwartungen leider nicht zur Gänze erfüllen konnte. Der Schreibstil ist einfach, flüssig und fängt die Ruhelosigkeit der VerteidigerInnen auf der Mauer gelungen ein, aber er zeigt sich oft auch zu nüchtern und emotionslos, die teilweise langen Sätze strengen im Laufe des Buches an. Ich habe die durchaus unterhaltsame, wendungsreiche und unvorhersehbare Dystopie über Liebe, Freundschaft, Überleben und Tod vor allem in der zweiten Hälfte sehr gerne gelesen. Um jedoch eine Gesellschaftskritik zu sein, behandelt das Buch seine Kernthemen – Brexit, Isolationspolitik, Flüchtlingsströme und Klimawandel – viel zu oberflächlich. Der Autor geht hier nicht genug in die Tiefe, liefert kaum Hintergrundinfos, wie es zu dieser verfahrenen Lage kommen konnte – und macht es sich auf diese Weise zu leicht. Die Figurenzeichnung ist meiner Meinung nach leider eine der größten Schwächen des Buches. Es war sehr schwer für mich, eine Bindung zum farblosen, arroganten, unreflektierten, latent unsypathischen Protagonisten aufzubauen. Auch von den anderen Figuren sind nur wenige besser gelungen. Die zweite große Schwäche des Buches ist seine fehlende Spannung und Langatmigkeit – zumindest im ersten Teil. Ich habe mich hier leider so durch die Geschichte quälen müssen wie Joseph sich durch seine Wachdienste. Großartig fand ich hingegen die düstere, beklemmende, trostlose Stimmung, dieses regungslose, aufgeladene Warten auf das drohende Unheil! Kurz: In „Die Mauer“ macht John Lanchester vieles richtig, aber leider auch bei wichtigen, grundlegenden Dingen einiges falsch. Seine Zukunftsvision konnte mich leider nicht auf ganzer Linie überzeugen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Hauptfigur: 2 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 2,5 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 22.04.2019

Leider nicht so berührend wie erhofft

Ein Song bleibt für immer
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Alice Martineau leidet schon seit ihrer Geburt an Mukoviszidose, einer vererbbaren Stoffwechselstörung, die vor allem zu Problemen mit den Atemwegen und der Verdauung ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Alice Martineau leidet schon seit ihrer Geburt an Mukoviszidose, einer vererbbaren Stoffwechselstörung, die vor allem zu Problemen mit den Atemwegen und der Verdauung führt. Wie lange sie noch zu leben hat, weiß sie nicht. Aber als sie eines Tages ihren Modeljob kündigt, beschließt sie, von nun an ihrem Herzen zu folgen und die ihr verbliebene Zeit zu nutzen, um sich endlich ihren größten Traum zu erfüllen: eine berühmte Sängerin zu werden und die Menschen mit ihrer Musik zu berühren. Eine anstrengende Reise voller Hindernisse und großer Hoffnungen beginnt…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 432
Erzählweise: Ich-Erzählerin, Präteritum und Präsens
Perspektive: aus weiblichen Perspektiven (Mutter und Tochter)
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: +/- Im Buch werden zwar keine Tiere verletzt oder getötet – im Gegenteil, Alice und ihre Familie kümmern sich sehr liebevoll um ihre zwei (juhuu! Endlich mal keine Einzelhaltung) Katzen. Jedoch wird im Buch Pelz getragen und viel Fleisch gegessen.

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang so interessant, dass ich das Buch unbedingt lesen wollte. Zudem hat es natürlich auch mein Interesse geweckt, dass Robbie Williams dieses Buch als „Inspirierend“ bezeichnet hat. Nach dem Lesen wurde mir auch klar, warum gerade er am Cover zitiert wird: Er hat selbst eine kleine „Rolle“ im Buch. Ein geschickter Schachzug der Autorin!

Meine Meinung

Einstieg (+/-)

„Ich lebe seit sechsundzwanzig Jahren mit Mukoviszidose. Wenn ich aufwache, spüre ich meine Lungen und meine Brust und sonst gar nichts. Bevor ich das Haus verlasse, muss ich immer eine Handvoll Pillen schlucken und bestimmte Wirkstoffe aus Maschinen inhalieren, die mir das Atmen erleichtern. Mein Husten ist immer da. Es ist mein ständiger Begleiter, Tag und Nacht.“ E-Book, Position 162

Der Einstieg ist mir leicht gefallen, da sich die Geschichte sehr flüssig lesen lässt. Jedoch hat es trotzdem lange gedauert, bis ich in der Geschichte angekommen war und sie mich in gewissem Maße fesseln konnte.

Schreibstil & Aufbau (+/-)

Die Geschichte wird hauptsächlich aus Alices Sicht erzählt, doch dazwischen gibt es immer wieder Tagebucheinträge ihrer Mutter zu lesen, die uns ihre Sichtweise der Ereignisse und ihre Sorgen mitteilt. Es muss sehr schwer sein, ein todkrankes Kind zu haben und zu wissen, dass man es in nicht allzu ferner Zeit verlieren wird.

Einerseits ist der Schreibstil sehr einfach, flüssig und angenehm zu lesen. Alice Peterson schreibt anschaulich, aber geht bei ihren Beschreibungen nicht zu sehr ins Detail, wodurch sich die Geschichte sehr schnell lesen lässt. Leider wirkte die Sprache auf mich durch die geringe Komplexität und die einfache, wenig abwechslungsreiche Wortwahl ein wenig oberflächlich. Sie erinnerte mich stellenweise (nicht immer) an diesen „Chick-Lit“-Stil, den ich leider nicht besonders mag. Auch die pathetische, teilweise sehr kitschige Art der Autorin, Vorkommnisse zu schildern trug zu diesem Eindruck bei. Manche Szenen haben bei mir daher zu innerlichem Augenrollen geführt.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Als sie mich auf meine schlanke Figur ansprach, hätte ich ihr erzählen können, dass ein Teil meines Darms entfernt worden ist – inzwischen fehlen mir bestimmt drei Viertel. Ich bin so schlank, weil ich Nahrung nicht richtig verdauen und daher auch nicht ausreichend verwerten kann; dazu kommen das ständige Husten und das mühsame Atmen. Das alles verbrennt in jeder Sekunde meines Lebens Tausende Kalorien.“ E-Book, Position 175

Viele Dinge haben mir, was den Inhalt betrifft, sehr gut gefallen. Zum einen gefiel mir, wie sensibel und doch ehrlich die Autorin das Leben mit dieser furchtbaren Krankheit beschreibt. Dabei konnte ich sehr viel dazulernen. Die Lebensfreude, die Alice und ihre ebenfalls erkrankten Freundinnen trotz allem haben, ist stets spürbar, und Alice Peterson zeigt in ihrem Roman, dass Kranke viel mehr sind als ihre Krankheit: Sie sind ebenso komplex, emotional, humorvoll und launisch wie gesunde Menschen. Im Buch geht es um Liebe, Freundschaft, Hoffnungen und Träume, Familie, den Alltag mit einer tödlichen Krankheit, den Umgang mit der eigenen Sterblichkeit und den Wunsch, der Nachwelt etwas von sich zu hinterlassen und somit in gewisser Weise unsterblich zu werden.

Alices Kraft und ihren Ehrgeiz, es trotz aller Hindernisse bis ganz nach oben zu schaffen, haben mich sehr beeindruckt! Ihre Hoffnungen, Ängste und Zweifel wurden zudem glaubwürdig und tiefgründig geschildert. Sehr überrascht war ich, als ich am Ende des Buches herausgefunden habe, dass das Buch auf einer wahren Geschichte und Person basiert. Alice Martineaus Lieder kann man sich auf „Youtube“ tatsächlich anhören. Das Ende kam dann überraschend schnell; ich fand es (auch wenn ich mir ein anderes gewünscht hätte) dennoch rund und gelungen.

Leider hat es auch Aspekte gegeben, die mir nicht gefallen haben. Zum einen kam es im Mittelteil durch Alices gesundheitliche Probleme und durch andere Rückschläge immer wieder zu inhaltlichen Wiederholungen, was manche Abschnitte etwas langatmig machte. Hier hätte man kürzen können, um dem Buch mehr Spannung und Tempo zu verleihen. Außerdem fand ich das Buch trotz allem sehr deprimierend, es hat mich beim Lesen runtergezogen, obwohl die Autorin doch eigentlich inspirieren, berühren und die Hoffnung in den Mittelpunkt rücken wollte. (Das das nicht sein muss, auch wenn ein Buch ein deprimierendes Thema behandelt, hat John Green mit „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ eindrucksvoll gezeigt. Falls ihr es übrigens immer noch nicht gelesen habt (Schande! ;) ) – ich möchte es euch hiermit wärmstens ans Herz legen.) Obwohl das Buch einige traurige und berührende Momente beinhaltet, gab es leider auch Stellen, die mich kaltgelassen haben. Zum Weinen gebracht hat mich das Buch nicht ein einziges Mal, und ich bin eigentlich eine emotionale Leserin. Das Buch konnte mich somit leider nicht durchgehend überzeugen.

Protagonistin und Figuren (+)

„‘Ich möchte etwas hinterlassen, wenn ich sterbe, etwas, das mir wichtig ist und anderen, etwas, bei dem man sich an mich erinnert, etwas, das bleibt…‘“ E-Book, Position 987

Alice hat mir als Protagonistin gut gefallen. Sie ist eine starke, ehrgeizige Frau, die nicht aufgibt, egal wie viele Steine ihr vom Leben auch in den Weg geworfen werden. Zudem habe ich ihren Humor geliebt, der manchmal durchaus recht schwarz ist. Dennoch konnte sie mich nicht ganz erreichen, ständig war da eine gewisse Distanz zu ihr. Leider konnte sie mir daher nicht ans Herz wachsen und zu einer unvergesslichen Heldin für mich werden. Ich habe zwar teilweise mit ihr mitgelitten und um sie gebangt, aber oft auch nur moderat mitgefühlt. Das ist ein schade, hier hätte ich mir mehr erwartet. Genervt hat mich zudem die irritierende Häufigkeit, mit der sie von anderen Personen als „wunderschön“ beschrieben wurde. Ja, wir haben es langsam verstanden – sie ist schön, auch wenn sie krank ist!

Die anderen Figuren sind verschieden gut gelungen. Manche von ihnen bleiben blass und eindimensional, andere werden greifbar und wirken sehr lebendig und echt. Besonders gerne mochte ich Alices Familie. Sie hat wirklich Glück, solche Eltern zu haben.

Liebesgeschichte (+/-)

Alice Petersons Geschichte ist eine Mischung aus Roman und Liebesroman. Sehr gut gefallen hat mir, dass die Liebesgeschichte sich langsam und glaubwürdig entwickelt. Sie ist nicht perfekt, es gibt Streit und Meinungsverschiedenheiten. Gerade das fand ich sehr erfrischend und authentisch. Dennoch ist es der Autorin nicht gelungen, dass ich beim Lesen auch ein Kribbeln spürte und mich ebenfalls in Tom verliebte. Deshalb hielt sich die Begeisterung leider trotzdem in Grenzen.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Auch was diesen Unterpunkt betrifft, hat der Roman seine Stärken und Schwächen. Einerseits enthält die Geschichte sehr spannende Momente und Passagen, bei denen ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht. Manchmal weil ich Angst um Alice hatte, manchmal weil ich auf den erhofften Durchbruch wartete. Andererseits gab es auch Abschnitte in der Mitte, die sich für mich sehr zogen, weil es inhaltliche Wiederholungen gab oder weil wenig (Neues) passierte. Was die Atmosphäre betrifft, so hatte das Buch, wie schon weiter oben angesprochen, eine deprimierende Wirkung auf mich, die mich beim Lesen eher runtergezogen hat. Daher auch meine Empfehlung: Wenn ihr gerade selbst depressiv oder traurig seid, solltet ihr um dieses Buch eher einen Bogen machen.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Im Zentrum von Alice Petersons Buch steht eine sehr starke und selbstbewusste Heldin, die sich nicht unterkriegen lässt. Zudem werden toxische Beziehungen und Gewalt gegen Frauen thematisiert und scharf kritisiert, was ich toll finde! Jedoch werden Geschlechterstereotypen (die immerhin einen Risikofaktor für Gewalt gegen Frauen darstellen) teilweise (nicht immer!) gefördert, was gar nicht gut bei mir ankommt. Beispielsweise sind es immer die Frauen, die bei jeder Gelegenheit kochen. Warum? Zudem ist die Rollenverteilung in der Familie sehr klassisch: Die Mutter hat ihren Job und ihre Träume aufgegeben, um für ihre Tochter zu sorgen, der Mann ist Anwalt. Sehr problematisch finde ich, dass es so dargestellt wird, als würde der Ehemann überhaupt keine Ahnung vom Haushalt haben. Cool! Also bleibt neben der Pflege der Tochter auch noch der ganze Haushalt (auch am Wochenende) an der Mutter hängen. Ernsthaft? Es wird auch für „berührende Romane“ Zeit, im Jahre 2019 anzukommen.

Mein Fazit

„Ein Song bleibt für immer“ hat durchaus seine gelungenen, emotionalen und berührenden Momente, konnte mich jedoch leider nicht so bewegen und mitreißen, wie ich mir das gewünscht hätte. Taschentücher brauchte ich beim Lesen jedenfalls keine. Auf sensible und doch sehr ehrlich Weise beschreibt die Autorin den Alltag mit Mukoviszidose, einer unheilbaren Krankheit, die zu Alices Tod führen wird. Themen wie Liebe, Freundschaft, große Träume, der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit und der Wunsch, der Nachwelt etwas von sich zu hinterlassen, stehen dabei im Zentrum der Geschichte und werden tiefgründig behandelt. Alice ist eine sympathische, lebensfrohe und sehr starke Heldin, die mich dennoch nicht immer erreichen konnte. Die anderen Figuren sind großteils gelungen, die authentisch unperfekte Liebesgeschichte konnte mich nicht ganz überzeugen. Der Schreibstil ist zwar flüssig und angenehm lesbar, leider war er mir aber auch oft zu oberflächlich, kitschig und pathetisch. Nicht so gut gefallen hat mir außerdem, dass das Buch eine sehr deprimierende Wirkung auf mich hatte und mich beim Lesen runtergezogen hat, auch wenn es mich eher inspirieren und mich hoffnungsvoll zurücklassen hätte sollen. Auch inhaltliche Wiederholungen und Spannungseinbrüche führen dazu, dass ich Sterne abziehen muss. Fazit: Insgesamt ist „Ein Song bleibt für immer“ ein Buch mit vielen guten Momenten, aber auch Schwächen, von dem ich mir schlussendlich doch mehr erwartet hätte.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 3 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 3,5 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: + / -

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Lilien!