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Veröffentlicht am 06.09.2019

Eine berührende, kirschfreie Geschichte

Das Kinderhaus
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New York 1997. Constance kann keine Liebe für ‚das Kind‘ empfinden. „Gabriel heißt er. „Es ist kein Name aus ihrem Land. Ein kongolesischer Pastor im Lager hat ihn ausgesucht. Sie hatte einen anderen Namen ...

New York 1997. Constance kann keine Liebe für ‚das Kind‘ empfinden. „Gabriel heißt er. „Es ist kein Name aus ihrem Land. Ein kongolesischer Pastor im Lager hat ihn ausgesucht. Sie hatte einen anderen Namen auf der Zunge, aber der Pastor meinte, das Kind brauche den Namen eines Engels. Und es sei ein guter Name für einen Jungen, der in Amerika aufwachsen würde.“ (Pos. 80)
Constance badet es. Sie füttert es, sie legt es schlafen, dieses zweijährige Wesen, das sie zur Welt gebracht hat. Aber lieben? Nein, das kann sie nicht. Denn das Kind ist „einer von ihnen“, einer von denen, die Constance in ihrem Heimatland Ruanda verfolgt, ihre Familie ermordet, ihre Nachbarn verstümmelt haben. Nun hat sie in New York Zuflucht gefunden, sie hat ihr Leben behalten – und „das Kind“.
Marina lebt ebenfalls in New York. Marina ist Hochschuldozentin, gutaussehend, gebildet, erfolgreich in dem, was sie tut. Und überdies glücklich verheiratet, sie hat einen Mann, einen halbwüchsigen Stiefsohn, eine liebe Schwiegermutter und ebenso liebe Schwägerin. Sie besitzen ein schönes Zuhause, alles könnte wunderbar sein. Wenn da nicht Marinas vergeblicher, unerfüllter Kinderwunsch wäre. Zufällig beobachtet sie die junge Frau und diesen kleinen, in ihren Augen hinreißenden Jungen, die Mutter und Sohn sein müssen – oder doch nicht? Marina kennt sich nur zu gut mit Müttern aus, die ihre Kinder nicht lieben können. Sie ist selbst ein solches Kind, aufgewachsen im Kinderhaus eines Kibbuz, getrennt von ihrer Mutter, die allerdings auch nach dem Verlassen des Kibbuz kein gesteigertes Interesse an ihrer Tochter und ihrem Sohn zeigte. Sie war eines jener Kinder, die wie Waisen, vernachlässigte oder missbrauchte Kinder auf einer „gierigen Suche“ sind – „nicht nach Nahrung oder Schutz, sondern nach Zuneigung. Nach einem Fetzen Anerkennung, kleinen Freundlichkeiten, die ihnen helfen konnten, ihren Platz in der Welt zu finden“ (Pos. 2548). Marina will der jungen Frau helfen – doch letztlich auch sich selbst.

„Das Kinderhaus“ von Alice Nelson ist eine Geschichte von Müttern, die ihre Kinder nicht lieben können, die gefangen sind in sich selbst, ihrer Biografie, ihren Schicksalen. Manches wird erklärt und verständlich, anderes bleibt im Dunkeln, kann nur vermutet, erahnt, erdacht werden. Und es ist eine Geschichte von Kindern, die nicht anders können, als ihre Mütter zu lieben, nach ihrer Liebe zu verlangen, sich nach ihr zu sehnen, um sie zu betteln und zu buhlen – einfach, weil sie Kinder sind. Manchmal werden diese Kinder ihrerseits zu Eltern, manchmal wollen sie es werden und können es nicht, manchmal wollen sie es nicht und werden es dennoch.

Eine solche Story birgt zweifellos die Gefahr, in Rührseligkeit abrutschen. Doch Alice Nelson erzählt die Lebensgeschichten und -erfahrungen ihrer Figuren behutsam und leise, sachlich und doch eindringlich. Sie erzeugt eine im besten Sinne herzergreifende und aus meiner Sicht vollkommen kitschfreie, versonnene, melancholische Stimmung, die mich immer wieder zum Nachdenken anregte: darüber, was es heißt, eine Mutter zu sein; was für ein Glück es ist, wenn man eine liebevolle oder überhaupt zur Liebe fähige Mutter zu haben; wie schwierig es sein kann, die (vermeintlich?) selbstverständliche Liebe für seine Kinder aufzubringen. Die Erzählerin wertet und verurteilt nicht, sie nimmt niemanden in Schutz und empört sich nicht. Sie beobachtet und berichtet. Und das macht sie richtig gut. Empfehlenswert!

Veröffentlicht am 18.07.2019

spannend und wunderbar undurchsichtig

Kalte Wasser
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Nach schier endlosen Wehen hat Lauren es endlich geschafft: Sie wird von zwei gesunden Söhnen entbunden. Die prophezeite Glückseligkeit will sich zwar nicht sogleich einstellen, dafür war die Geburt zu ...

Nach schier endlosen Wehen hat Lauren es endlich geschafft: Sie wird von zwei gesunden Söhnen entbunden. Die prophezeite Glückseligkeit will sich zwar nicht sogleich einstellen, dafür war die Geburt zu strapaziös, doch das wird noch kommen, da ist sie sich sicher. Stattdessen kommt etwas anderes, oder vielmehr: jemand anderes. In der ersten Nacht im Krankenhaus hört Lauren verstörende Geräusche aus dem Nachbarbett. Offenbar eine andere Zwillingsmutter. Doch am nächsten Morgen will die Schwester von einer anderen Zwillingsgeburt nichts wissen. Die vermeintliche andere Mutter taucht ein weiteres Mal auf, diese Begegnung ist noch verstörender. Lauren soll eines ihrer Kinder gegen eines der Frau tauschen. Lauren flüchtet mit ihren Babys auf die Toilette, ruft die Polizei – doch wieder ist von der anderen Frau keine Spur zu sehen. Wieder daheim, meint Lauren erneut, die Frau vor ihrem Haus bemerkt zu haben. Lauren erhält geschmacklose Geburtsgeschenke: die Porzellanskulptur einer grausigen Rattenfamilie. Ein antiquarisches Buch mit beängstigenden Zwillingsmythen. Sie fühlt sich bedroht, hat Angst um sich und vor allem um ihre Söhne. Wochenbettpsychose, diagnostiziert der Arzt sachlich. Einbildung, befindet ihr ungeduldiger Ehemann. Stress, meinen ihre mitfühlenden Freundinnen. Einzig die Polizistin Joanna Harper glaubt der zusehends panischen (oder doch paranoiden?) Mutter. Als Lauren sich nach Wochen endlich einmal aus dem Haus wagt, passiert das, wovor sie sich am meisten fürchtete: Ihre Kinder verschwinden mitsamt dem Kinderwagen. Zwar werden sie nach kurzer Zeit gefunden, eine Schuldige ist schnell ausgemacht, doch Lauren ist sich sicher: diese zwei Babys sehen zwar genauso aus wie ihre – doch sie sind es nicht. Wechselbälge. Lauren will jetzt nur noch eines: diese beiden kleinen Dämonen loswerden, und ihre eigenen Söhne finden.

Ist das ein spannendes Buch! Die Geschichte ist gut und schön zweideutig konstruiert, man fragt sich während des Lesens die ganze Zeit, ob es sich um einen perfiden Plan handelt, Lauren um den Verstand zu bringen, ob es nicht doch mysteriöse Ereignisse sind, die sich abspielen oder ob Lauren tatsächlich schlichtweg an einer Psychose leidet. Alles scheint denkbar. Die Figuren sind ebenfalls wunderbar undurchsichtig: Ist Lauren nur überspannt oder sieht sie wirklich Dinge, die außer ihr niemand wahrnehmen kann? Ist Laurens Ehemann Patrick einfach nur ein egozentrischer Pinsel oder verfolgt er ganz andere Hintergedanken? Was hat es mit Patricks seltsamer ‚Kollegin‘ auf sich? Bis zur letzten Seite bleibt auf höchst spannende Weise unklar, ob dieses Buch das Psychogramm einer labilen Mutter, ein Thriller oder doch ein Mysteryroman ist. Alles scheint denkbar. Deshalb von mir eine große Leseempfehlung!

Ach ja, zu guter Letzt noch eine kleine Warnung für die besonders zart Besaiteten unter uns. In den ersten Kapiteln werden (unter anderem) eine Zwillingsgeburt nebst Nachsorge beschrieben. Zwar nicht sooo ausführlich, aber recht realitätsnah. Wer bislang der Überzeugung war, Geburten spielten sich ab wie in Vorabendserien – sprich: die Gebärende stöhnt einmal anmutig auf und liegt im nächsten Moment frisch geföhnt und strahlend mit einem rosigen, schlummernden Säugling im Arm in gestärkter Bettwäsche –, könnte etwas verstört werden

Veröffentlicht am 11.07.2019

spannende Unterhaltung

Das Schweigemädchen
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Stella erlebt den schlimmsten Alptraum einer Mutter: ein Moment der Unaufmerksamkeit, und ihre kleine Tochter Alice ist verschwunden. Die Kleine muss ertrunken sein, ist sich die Polizei bald sicher, doch ...

Stella erlebt den schlimmsten Alptraum einer Mutter: ein Moment der Unaufmerksamkeit, und ihre kleine Tochter Alice ist verschwunden. Die Kleine muss ertrunken sein, ist sich die Polizei bald sicher, doch Stella mag das nicht glauben. Zwanzig Jahre später hat sie den Verlust noch immer nicht verwunden, doch ihr Leben wieder im Griff. Sie ist Psychologin, lebt in einem schönen Haus, ist verheiratet, ihr Sohn Milo macht das Glück eigentlich perfekt. Eigentlich. Denn Stella hält noch immer die Augen nach ihrer Tochter auf, sucht sie in jedem Gesicht in einer Menschenmenge, kann und will sich nicht damit abfinden, dass Alice tot sein soll. Da betritt eines Tages Isabelle ihre Praxis, sucht einen Therapieplatz, Stella sei ihr empfohlen worden. Isabelle? Nein, Stella ist sich sicher, dass ihre vermisste und für tot erklärte Tochter vor ihr steht. Doch niemand will ihr glauben und Stella riskiert alles - ihre Ehe, ihre Familie, ihre professionelle Reputation und schließlich ihren Verstand, um ihre Vermutung zu bestätigen.

Die Geschichte wird von verschiedenen Figuren aus der Ich-Perspektive erzählt, und trotz der dadurch geschaffenen Unmittelbarkeit bleiben die Motive der Figuren an vielen Stellen undurchsichtig und rätselhaft, auch wenn zunächst vieles eindeutig scheint - und zwar eindeutig im eigentlichen Wortsinn, also ‚nur eine Deutung zulassend‘. Diese vermeintliche Eindeutigkeit ging für mich am Anfang der Lektüre sogar so weit, dass ich mich insgeheim fragte, woher denn jetzt wohl noch die Spannung kommen solle ... (es war ja alles, nun ja, „eindeutig“). Doch kann ich so viel verraten, ohne zu spoilern: Nur, weil etwas eindeutig zu sein scheint, muss es das noch lange nicht sein ... Und je weiter ich las, umso mehr stellte ich in Frage, umso begieriger war ich darauf, endlich zu erfahren, ob und wie alles miteinander zusammenhängt, wer „die Gute“ und wer „die Böse“ ist, ob und was Stella sich einbildet, was Wirklichkeit ist und was Wahn. Das Ende des Romans habe ich schließlich in fast fieberhafter Hast gelesen, weil es so spannend, so fesselnd war.

Mein Fazit: Leseempfehlung für jede*n, der/die (psychologische) Thriller schätzt.

Veröffentlicht am 11.07.2019

Fesselnd, beklemmend - mit gewöhnungsbedürftiger Sprache

Raum
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Rezension: Emma Donoghue: Raum
Der kleine Jack liebt seine Ma über alles. Schließlich ist sie alles, was er hat – und das buchstäblich, denn Jack und Ma leben in „Raum“, einem 12 Quadratmeter großen, ...

Rezension: Emma Donoghue: Raum
Der kleine Jack liebt seine Ma über alles. Schließlich ist sie alles, was er hat – und das buchstäblich, denn Jack und Ma leben in „Raum“, einem 12 Quadratmeter großen, schalldichten und ausbruchsicheren Zimmer, das alles beherbergt, was die beiden zum Leben brauchen: Möbel. Küchengeräte. Die Toilette. Und ganz wichtig: einen Fernseher. Jack liebt es fernzusehen, dort sind seine ‚Freunde‘, die Figuren der Cartoons, die Jack so gern anschaut. Natürlich weiß Jack, dass das, was er im Fernsehen sieht, nicht ‚in echt‘ ist. ‚In echt‘ sind nur er, Ma und ‚Raum‘. Und ‚Old Nick‘, der beinahe jede Nacht zu Ma kommt und „macht, dass das Bett quietscht“, während Jack sich im Schrank verstecken muss. Kurz nach Jacks fünftem Geburtstag eröffnet Ma ihm, dass es eine Welt außerhalb von ‚Raum‘ gibt, in der all das existiert, was Jack aus dem Fernsehen kennt: „Wälder und Dschungel auch und Wüsten und Straßen und Wolkenkratzer und Autos“. Doch erst nachdem Old Nick ihnen für einige Tage zur Bestrafung den Strom abstellt und Ma wieder einmal die Gefahr, in der sie und ihr Sohn schweben, bewusstwird, fasst sie einen waghalsigen Fluchtplan …

Das Buch ist, anders als die Inhaltsangabe vermuten lässt, kein Thriller, sondern vielschichtiger, es ist Kammerspiel und Entwicklungsroman, Familiendrama und Psychogramm, denn die Handlung endet nicht etwa mit der Flucht, sondern beschreibt das Leben von Mutter und Kind auch nach der traumatischen Gefangenschaft. Und beide Teile haben mich in ihren Bann gezogen: Da sind einerseits die Enge von ‚Raum‘, die Einförmigkeit des Alltags, die Angst der beiden vor ‚Old Nick‘, die Unentrinnbarkeit – aber auch die Liebe der Mutter zu ihrem Sohn und ihre unglaubliche Kreativität, mit der sie versucht, Jack das eingeschränkte Leben in der Gefangenschaft so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Und da ist andererseits die Rückkehr der Mutter bzw. der Eintritt des Jungen in die Freiheit. Vor allem für Jack ist die Welt außerhalb von ‚Raum‘ ein einziges Jamais-vu-Erlebnis: Alles ist laut und hell und grell und einfach zu viel. Er weiß für sein Alter unglaublich viel, scheitert aber an Selbstverständlichkeiten wie Treppen steigen (in Raum gab es keine Treppen, seinen Beinen ist diese Bewegung fremd) oder in Schuhen zu gehen (in Raum gab es auch keine Schuhe – wozu auch?). Und so weiß er diese Freiheit zunächst nicht zu genießen, im Gegenteil: Er sehnt sich zurück an den Ort, der für ihn sein ganzes bisheriges Leben lang seine einzige Welt, sein Zuhause war.

Jack ist der Dreh- und Angelpunkt der Handlung, alle
Geschehnisse werden aus seiner Perspektive beschrieben – und das ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche des Romans. Die Sprache ist die eines Fünfjährigen (bzw. die Sprache, die die Autorin einem Fünfjährigen zudenkt) und das ist insbesondere im ersten Teil des Romans irritierend. Von den kleinen grammatischen Schnitzern, die Jack unterlaufen, und den bisweilen extrem kindlichen Formulierungen einmal abgesehen, hat Jack die Angewohnheit, Appellativa wie Eigennamen zu verwenden, z. B.:

„Ich springe auf Schaukestuhl, damit ich aus Kästchen auf Regal eine Stecknadel holen kann.“

„Jeden Morgen haben wir tausend Sachen zu erledigen, zum Beispiel Pflanze Wasser zu geben, und zwar in Becken, damit nichts verschüttet. Dann stellen wir ihn wieder auf seiner Untertasse auf Kommode.“

Dadurch werden die Gebrauchsgegenstände und Möbel scheinbar personifiziert, und wenngleich ich mir die Motivation dahinter vorstellen kann, sind die fehlenden Artikel doch sehr gewöhnungsbedürftig. Ich hatte mich nach einigen Seiten in diese besondere Sprache hineingehört und wusste sie irgendwann sogar als Stilmittel zu schätzen, doch könnte ich mir vorstellen, dass manch eine*r davon vollkommen genervt ist. (In der zweiten Hälfte des Romans legt es sich übrigens zunehmend, da mehr Figuren in die Handlung eintreten und folglich abwechslungsreichere Dialoge wiedergegeben werden.) Deshalb: ja, große Leseempfehlung, aber lest das Buch bitte unbedingt an und schaut, ob ihr euch mit Jacks speziellem Sprachduktus anfreunden könnt.

Veröffentlicht am 01.04.2019

Ein Buch, das einen durchdringt

Die Züchtigung
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„Wenn wir versuchen, uns zu definieren, wenn uns andere mit Worten zu fassen suchen, greifen wir auf unsere Mütter zurück.“ (S. 133)

Marie wächst als Kind einer Bauernfamilie in einem österreichischen ...

„Wenn wir versuchen, uns zu definieren, wenn uns andere mit Worten zu fassen suchen, greifen wir auf unsere Mütter zurück.“ (S. 133)

Marie wächst als Kind einer Bauernfamilie in einem österreichischen Dorf auf, ungeliebt und misshandelt, ausgebeutet und einer auch nur ansatzweise harmonischen Kindheit beraubt. Sie heiratet und zieht mit ihrem Mann in die Stadt, doch ihrer traumatisierenden Kindheit kann sie nicht entfliehen. Sie wünscht sich, dass ihre Tochter Vera einst ein besseres Leben als sie selbst führt, und diesen ‚Wunsch‘ bläut sie Vera buchstäblich ein, die vermeintliche Undankbarkeit der Tochter treibt sie ihr aus. Täglich. Unberechenbar. Unausweichlich. Marie schlägt ihr Kind aus den nichtigsten Anlässen, sie überschüttet ihre Tochter mit derselben Gnadenlosigkeit und Lieblosigkeit, die sie erlebt hat.

In ihrem Roman "Die Züchtigung" schildert Anna Mitgutsch den Liebesentzug, die Aggressivität und Brutalität der Mutter und die Hilflosigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins aus Veras Sicht. Der Verzicht auf Anführungszeichen, die streckenweise langen Absätze und die Erzählperspektive verleihen dem Roman eine Unmittelbarkeit und Intensität, dass ich während des Lesens meinte, sie am eigenen Leib und der eigenen Seele zu spüren. Ein Beispiel: Als kleines Kind spielt Vera im Küchenschrank, ihrem „Haus“, den Schlüssel verbummelt das kleine Mädchen. Typischer Alltag mit einem Kleinkind? Nicht bei Marie:

„Wo ist der Schlüssel, fragt Mama, wo hast du den Schlüssel versteckt? Schlüssel weg, sage ich und will weiterspielen. Sie hält mich am Arm, daß es weh tut, wo ist der Schlüssel, bring sofort den Schlüssel her, sagt sie drohend. Ich habe Angst, aber keine Erinnerung an den Schlüssel. Schlüssel weg, sage ich weinend, während sie mich hin und her schüttelt. Ich möchte ihr ja helfen, aber ich weiß auch nicht, wo der Schlüssel ist, und ich weiß nur diese zwei Worte dafür, Schlüssel weg.“ (S. 80)

Die titelgebenden Züchtigungen werden immer strenger und schlimmer (die Zitate erspare ich euch und mir an dieser Stelle), doch auch die Schilderungen des bewussten, vorsätzlichen Liebesentzugs waren für mich nur schwer zu ertragen. Vera ist mittlerweile Gymnasiastin:

„Vor dem ersten Vierer durfte ich noch auf ihrem Schoß sitzen und mit den Fingern ihr Gesicht berühren, ich durfte sie küssen und mich in ihrem Arm geborgen fühlen. Aber der erste Vierer kam am Ende der ersten Klasse Gymnasium, und damit brach unerbittlich der letzte spärliche Körperkontakt, die letzten Spuren von Zärtlichkeit ab. Ich war damals elf Jahre alt. Es dauerte zwölf Jahre, bis ich wieder ein menschliches Gesicht berührte.“ (S. 162)

Die körperlichen und seelischen Misshandlungen gehen nicht spurlos an Vera vorbei. Auf der Suche nach Liebe und Zuwendung entwickelt sie ausgeprägte Essstörungen: „Zuerst aß ich um der Liebe willen, später fastete ich um der Liebe willen.“ (S. 176), und gelangt zu folgender bitterer Selbsterkenntnis: „Immer wieder habe ich mich ausgelöscht und Befehle an mir vollstreckt, ich bin ein gehorsames Opfer.“ (S. 179)

Vera versucht – verständlicherweise und gleichzeitig ironischerweise genau wie ihre Mutter zuvor – ihrer Tochter eine bessere, eine andere Mutter zu sein als Marie:

„War deine Mutter so wie du, fragt meine zwölfjährige Tochter, während sie sich an die Badezimmertür lehnt und mich beim Kämmen betrachtet. […] Nein, sage ich, nein, deine Großmutter war ganz anders. Wie anders? Stell dir das Gegenteil vor. Sie zögert, sieht mich fragend an. Wie soll sie sich das Gegenteil vorstellen, wenn ich ihr ein Rätsel bin. Ein Rätsel und eine Selbstverständlichkeit. Wie meine Mutter für mich, bis heute.“(S. 5)

Doch es scheint, als wiederhole sich die Geschichte wieder und wieder, fast, als sei die Toxizität der Mutter-Tochter-Beziehung in die Zellstruktur der Vor- und Nachfahrinnen gesickert, um dort unauslöschlich und generationenübergreifend ihr Unwesen zu treiben:

„Ich will nicht mehr leben, sagt mein Kind, und dreht den Kopf zur Wand. Sie stößt mich von sich, wenn ich sie berühre, sie sagt, laß mich, du verstehst mich nicht. Sie hat dunkle Schatten unter den Augen und einen vom Weinen zerronnenen Mund. Dein Essen kotzt mich an, sagt sie, deine Ideen kotzen mich an, dein Getue. Ich stehe in der Tür mit hängenden Armen.“ (S. 211)

"Die Züchtigung" ist ein Roman, den man keinesfalls lesen sollte, wenn man sich gerade in einer etwas dünnhäutigen Phase befindet. Es ist buchstäblich eindringliches, ein in die Leserin eindringendes, ein, ich möchte fast sagen: übergriffiges, Buch – und gerade deswegen unbedingt lesenswert.