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Veröffentlicht am 06.09.2019

Chapeau! Ein grandioses Epos!

Die Burg der Könige
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Hier war jemand mit Leidenschaft am Schreiben und Eintauchen in eine vergangene Zeit dabei, das merkt man sofort wenn man das "mit Liebe gemachte" Buch vom sich sebst als "hoffnungslos romantisch" bezeichnenden ...

Hier war jemand mit Leidenschaft am Schreiben und Eintauchen in eine vergangene Zeit dabei, das merkt man sofort wenn man das "mit Liebe gemachte" Buch vom sich sebst als "hoffnungslos romantisch" bezeichnenden Autor Oliver Pötzsch aufschlägt. Die Überschriften sind rot abgesetzt - der Buchstabe am Beginn jedes Kapitels ganz mittelalterlich hervorgehoben und eine Karte im Einband sowie der Anhang mit Erklärungen zur Protagonisten und Örtlichkeiten des Romans sowie einer Chronik zeugen von der Sorgfalt, mit der hier gearbeitet wurde.
Der Inhalt passt sich dann auch diesen paratextuellen Elementen an. Leidschaftlich wird die Geschichte der Burg Trifels und der Begehrlichkeiten erzählt, die sowohl von bäuerlicher als auch von adliger sowie vor allem von royaler Seite an sie herantreten. Wir schreiben die Jahre 1524/1525: Der Habsburger Kaiser Karl V ist 24 und plötzlich Herrscher über ein Weltreich, sein Thron steht allerdings auf wackligen Beinen, da auch andere Häuser Anspruch auf das Heilige Römische Reich erheben - allen voran der französische König Franz I. Nun tauchen auch noch Gerüchte auf, in deren Zentrum ein längst vergangenes und vermeintlich ausgestorbenes Geschlecht liegt und die Herrschaft Karls V bedroht: die Staufer.
Im Pfälzerwald liegt deren ehemalige Stammburg, der Trifels - wo auch die Geschichte von Agnes, der Vogtstochter beginnt. Die burschikose Sechzehnjährige dressiert lieber ihren Falken Percival und liest in der Bibliothek als sich einen Gatten zu suchen. Ihr Vater Philipp von Erfenstein, der Burgvogt des Trifels, ist Witwer und zwar stolz auf seine einzige Tochter, er hat aber Probleme die Burg finanziell über Wasser zu halten, da er die Bauern nicht noch mehr belasten möchte als ohnehin schon. Er hofft Agnes an einen Mann aus dem aufstrebenden Patriziertum verheiraten zu können oder an den Grafen von Löwenstein-Scharfeneck, der sein Auge auf die hübsche Agnes - und den Trifels - geworfen hat.
Agnes' Freund seit Kindertagen ist der Sohn des Burgschmieds, Mathis, der sich aber ebenfalls zum Unmut seines Vaters eher für Schießpulver und für demokratische Ideen als für die väterliche Schmiede interessiert.
Agnes und Mathis wissen, dass eine Ehe für sie beide ausgeschlossen ist - das Standesdenken verbietet eine solche Verbindung.
Das sind so die wesentlichen Konfliktfelder, die sich in "Die Burg der Könige" auftun. Oliver Pötzsch schafft es eine in historische Wirklichkeiten eingebaute Geschichte heraufzubeschwören, die auf 913 Seiten mitreissend und lebendig ist - ohne je langweilig oder dröge zu sein. Hier hat man es mit einem leidenschaftlichen Erzähler zu tun, der ein sehr szenisch aufgebautes Werk erschaffen hat. Man könnte sich den Roman perfekt auf der Kinoleinwand vorstellen. Allein die Dialoge zwischen Karl V. und Franz I. würden einen Schlagabtausch abgeben, der wunderbar verfilmt werden könnte. Die wenigen Figuren, die in der Handlung eine wichtige Rolle spielen, sind alle lebendig charakterisiert und haben dort wo sie sind auch ihren Platz - keine Nebenfigur ist überflüssig. Auch die vermeintlich "bösen" Figuren wurden nicht in ein schwarz-weiß-Schema gepresst, manche bleiben sogar bis zum Ende zwiespältig.
Ich musste beim Lesen oft an "Der Name der Rose" denken, denn Pötzsch folgt einem änhnlichen Schema - mit viel Mythos, Mord und Geheimnisträgereien.
Der Autor versteht es wundervoll die Spannung sehr lange aufrecht zuerhalten, indem er dem Leser die Geheimnisse nicht preisgibt und ihn mit den Protagonisten Agnes und Mathis mitfiebern lässt.
Alles in allem kann man wirklich sagen dass man es hier mit einem in sich perfekten Roman zu tun. Ich weiß jetzt mehr über die Bauernkriege, über die sagenumwobenen Staufer, den Zerfall des Rittertums und die Anfänge der Reformation und wurde dabei perfekt unterhalten - und der "Kleine Burgen- und Reiseführer durch meinen Roman" (den man natürlich erst nach selbigem lesen sollte ) regt auch noch dazu an auf den Spuren der Protagonisten zu wandeln - was will der gemeine Leser mehr? Chapeau Herr Pötzsch!

Veröffentlicht am 06.09.2019

Genialer Historienroman

Falken
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"Falken" bzw. "Bring up the Bodies" ist das beste Buch, das ich über die Tudors gelesen habe - getoppt werden kann es allenfalls noch von seinem Nachfolger, der noch nicht erschienen ist und der die Trilogie ...

"Falken" bzw. "Bring up the Bodies" ist das beste Buch, das ich über die Tudors gelesen habe - getoppt werden kann es allenfalls noch von seinem Nachfolger, der noch nicht erschienen ist und der die Trilogie um Thomas Cromwell komplett machen wird.
Ich muss sagen die Intensität und Nüchternheit, mit der die physisch und psychisch brutalen Vorgänge rund um die Hinrichtung von Anne Boleyn geschildert werden, sucht sicher ihresgleichen. Ein derat visuelles Leseerlebnis ist mir in einem historischen Roman eigentlich noch nicht untergekommen.
Während "Wolf Hall" viel Cromwell-zentrierter und gemächlicher daherkommt, geht es nun im Wesentlichen um die Zeit, in der Heinrich VIII seine Beziehung zu Anne Boleyn zu legitimieren versucht. Es geht um seine "Trennung" von Katharina von Aragon, die Annäherung an Anne und deren Aufstieg zur Königin von England. Die Ablösung Heinrichs von der katholischen Kirche, die in der Gründung der Anglikanischen Kirche gipfelt, ist dabei nicht wirklich vordergründig. Vielmehr geht es um den royalen Menschen und menschlichen Royal Heinrich, der einfach nur verzweifelt ist, weil er keinen männlichen Erben bekommt. Die Zukunft in Form seiner Töchter Mary und Elisabeth, die beide - wie der Leser ja bereits weiß - einmal England als selbstständige MonarchINNEN regieren werden, steht bereits am Horizont und lässt das Verhalten des strauchelnden Königs Heinrich nur noch verzweifelter und absurder erscheinen. Besonders wenn man bedenkt, dass vor allem Elisabeth England wie kaum ein anderer Souverän England prägen und das berühmte "Goldene Zeitalter" bestimmen wird... Jedenfalls wird der Aufstieg und Fall der Anne Boleyn in "Bring Up the Bodies" durch die Augen Thomas Cromwells - des bürgerlichen Emporkömmlings - gefiltert.
Natürlich wissen wir alle, was passieren wird, aber dennoch jagt es einem beim Lesen einen Schauer über den Rücken. Die Klarheit der Worte trifft auf die Grausamkeit der Vorgänge und konfrontiert den Leser mit einem Innuendo, das man nicht so schnell wieder vergisst...
Auch weniger Geschichtsinteressierte werden von diesem wahnsinnig intensiven Historienroman gepackt werden, den ich nur wirklich jedem empfehlen kann!

Veröffentlicht am 26.08.2019

Ein gelungener Debütroman

Lacroix und die Toten vom Pont Neuf
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Das Buch ist mir mit seinem roten Cover und dem gleichfarbigen Buchschnitt sofort ins Auge gefallen - Paris ist immer eine (literarische) Reise wert und ein neuer Kommissar, der an Maigret erinnert, klang ...

Das Buch ist mir mit seinem roten Cover und dem gleichfarbigen Buchschnitt sofort ins Auge gefallen - Paris ist immer eine (literarische) Reise wert und ein neuer Kommissar, der an Maigret erinnert, klang auch spannend! Ich wurde dann von diesem Debütroman auch nicht enttäuscht: ein sehr geradliniger Krimi mit einem spannenden Fall, ohne viel Chichi dafür Parisflair ohne Ende (man merkt dass der Autor die große alte Stadt an der Seine nicht nur von Internetstraßenkarten kennt).
Auch die Balance zwischen Kommissargeschichte und Krimihandlung ist sehr ausgewogen, so dass nichts über- bzw. untererzählt wird.
Ein tolles Buch, ich freue mich auf den nächsten Fall (und bin gespannt ob die Coverfarbgestaltung dann wechselt oder so bleibt).
Ich finde übrigens Hardcover toll, die ohne Schutzumschlag auskommen, weil das Hardcover selbst mit der Titelei geprägt ist. Einzig ein Lesebändchen hätte ich bei dem Preis noch schön gefunden.

Veröffentlicht am 26.08.2019

Blutig, düster und hochgradig komplex

Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle
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Goethe hat einmal gesagt: "Alles Gescheite ist schon gedacht worden. Man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken."
Diesen Satz hat sich Stuart Turton mit "Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle" ...

Goethe hat einmal gesagt: "Alles Gescheite ist schon gedacht worden. Man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken."
Diesen Satz hat sich Stuart Turton mit "Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle" wohl indirekt zu Herzen genommen, indem er literarische Genres und Motive neu gedacht, zusammengewürfelt und etwas originär Neues geschaffen hat, was an Komplexität und Imaginationskraft seinesgleichen sucht.

Die Einflüsse und literarischen Vorlagen, die der Autor verarbeitet, sind zahlreich.
Zum einen Agatha Christie. Turton sagt im Nachwort, dass sie sein Vorbild war. Christie hat den englischen Kriminalroman als "Whodunit" (Wer ist es gewesen?) gleichsam erfunden und perfektioniert, es gibt wohl kaum eine Motiv-Mörder-Kombination die sie nicht beschrieben hat. Nicht immer aber sehr häufig ist der Schauplatz ihrer Krimis ein typisch englisches Herrenhaus, also der Landsitz eines Mitglieds der britischen Oberschicht bzw. des (Land-)Adels. Wo sonst kann man so wunderbar Angehörige der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten an einem Ort zusammenführen (“Upstairs and Downstairs” ist das Stichwort) - vor allem dann, wenn eine Party gegeben wird. Hier ist es der Landsitz der Familie Hardcastle, Blackheath Hall.
Auch Turtons Personalkarussell gibt von der verarmten Adelsfamilie, über den Wildhüter (ich erinnere nur an den seinerzeit skandalösen Bestseller “Lady Chatterley’s Lover”), den Künstler, die Vermögensverwalter und Anwälte und den obligatorischen Polizisten bis hin zu alten Freunden und natürlich dem restlichen Hauspersonal alles her, was der Liebhaber solcher Christie-Settings (dazu zähle ich mich auch) kennt und erwartet.

Ist das Landhaus schon etwas verfallen, ist das die perfekte Brutstätte für allerlei dunkle Geheimnisse in der Tradition des englischen Schauerromans ("Gothic novel"). Auch das greift Stuart Turton mit dem degenerierten Herrenhaus, das bezeichnenderweise "Blackheath" (Emily Brontës Heathcliff lässt grüßen) heißt, auf: die Zeichen des Verfalls wurden für die Party nur notdürftig renoviert, hinter der aufgeputzten Fassade fällt alles auseinander, denn - die Hardcastles haben kaum noch Geld. Eigentlich wohnen sie auch nicht mehr auf Blackheath, ein morbider Jahrestag ist der Anlass, weshalb Lord und Lady Hardcastle zum Maskenball laden. Somit ist der heimliche und doch so offensichtliche Protagonist dieses Buches das unheimliche, verlassene und verschachtelte Herrenhaus sowie seine (Jagd-)Gründe - der Ursprung allen Übels.

Wer aber jetzt einen etwas gruseligen, aber unblutigen "Cosy Krimi" erwartet, bei dem viel Tee im Salon getrunken und wie nebenbei ein Mord gelöst wird - weit gefehlt! Dieses verschachtelte Werk hat mehr mit einem Psychothriller gemeinsam, als man denkt und es gibt explizite Gewaltszenen. Psychoterror, dunkle Geheimnisse, Angst und Schuld bilden ein Geflecht seelischer Abgründe, zwischen denen sich der Plot bewegt.

Die Handlung lehnt sich neben den genannten literarischen Genres an Filme wie “Groundhog Day” an, der das Thema “Zeitschleife” und das schwierige Unterfangen, dieser zu entfliehen, populär gemacht hat. Humor, selbst schwarzer, ist aber hier im Gegensatz zum Hollywoodklassiker kaum zu finden. Aiden Bishop, das Individuum dass sich in diesem Roman in der Zeitschleife befindet und unser Ich-Erzähler, muss außerdem neben dem Tag im September, den er immer wieder erlebt, auch noch durch verschiedene Körper reisen, um sein Ziel zu erreichen: den Mord an Evelyn Hardcastle aufklären um dem “time loop” zu entfliehen.

Strukturell erinnert das Buch auch an ein Computer- bzw. ein Exit-Room-Spiel. Anhand der Karte am Anfang kann der Leser versuchen sich zu orientieren - und das ist gar nicht so einfach. In diesem Buch reiht sich eine Metaebene an und über die andere, überall Zeichen und Zeichenhaftigkeit, rote Fäden, die doch oft ins Leere laufen. Roland Barthes, der große Semiologe, hätte seine wahre Freude an diesem Roman.

Wie Aiden Bishop muss der Leser sich nicht nur im Herrenhaus, sondern auch erstmal in jedem Gastkörper zurechtfinden, muss seine Möglichkeiten, die Psyche und die Physis der jeweiligen Person ausloten, in die er geschlüpft ist. Und dann muss er sich in Blackheath seiner Aufgabe stellen, bevor die Stunde schlägt, in der Evelyn Hardcastle stirbt. Die Zeit ist der eigentliche Feind Bishops, den wir nur als körperloses Individuum kennenlernen, das sich selbst nicht mehr an sich erinnern kann. Nur die kursiv gesetzte nüchterne Stimme im Kopf, die in Zeiten größter Agitation auftritt, ist ein Traumrest seiner Persönlichkeit.

Turton stellt in diesem meisterhaften Buch auch philosophische Menschheitsfragen - sind wir determiniert oder frei, machen wir uns unser Gefängnis selbst, was passiert mit unserer Seele, etc.

Ich denke, dieser Roman polarisiert - für mich funktioniert er, auch wenn ich ihn mir persönlich weniger blutig und düster gewünscht hätte. Dennoch ist die literarische Qualität dieses Romans unbestritten!


Veröffentlicht am 26.08.2019

Ein großer amerikanischer Roman

Der Gesang der Flusskrebse
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In ihrem Debütroman befördert Delia Owens den Leser nicht nur in die Vergangenheit (die 1950er bzw -60er Jahre), sondern auch in eine geo-topografische Zone, die den meisten fremd sein dürfte: ...


In ihrem Debütroman befördert Delia Owens den Leser nicht nur in die Vergangenheit (die 1950er bzw -60er Jahre), sondern auch in eine geo-topografische Zone, die den meisten fremd sein dürfte: das Marschland an der Küste North Carolinas - wo Land und Meer ineinander übergehen, dort spielt sich Kyas Geschichte ab.

Auf den ersten Blick ist das Buch rau wie die Naturgewalten. Es beginnt mit dem Auffinden einer Leiche im Prolog und dem harten Alltag des Mädchens Kya in den Sümpfen, die bereits mit sieben Jahren zur Eremitin und absoluten Außenseiterin wird. Verlassen von Mutter und Geschwistern, der Willkür des gewalttätigen Vaters ausgeliefert, als "Sumpfgesindel" von den Dorfbewohnern abgestempelt - eine "Nell" 2.0 gewissermaßen. Man hat als Leser pures Mitleid mit der zunächst Siebenjährigen.

Im Kontrast zur Handlung steht allerdings von Anfang ab die poetische Prosa bzw. der unglaublich zarte, vorsichtig-zurückhaltende Erzählton, vor allem in den malerischen Naturbeschreibungen. Dieser Ton scheint die Geschichte wie ein Rettungsnetz zu überlagern, um sie gleichsam davor zu schützen in den Verdacht zu geraten, ein banaler Justizkrimi mit Lokalkolorit und einer vom Südstaaten-Slang der Figuren geprägten Dialoge zu sein.

Nein, ein einfacher Whodunit-Krimi ist es nicht, der hier auf zwei Zeitebenen - ab 1952 (Kyas Kindheit und Heranwachsen) und 1969 (nach dem Mord, später gibt es noch einen Ausblick in die Zukunft) - erzählt wird, es gibt zunächst kaum offensichtliche Spannungselemente, der Mord spielt erstmal eine Nebenrolle.

Ganz langsam baut sich diese Coming-of-Age-Geschichte auf, in der wir erfahren wie das "arme", isolierte Mädchen Kya und der "reiche", privilegierte Junge Chase zu Opfern (und/oder Tätern) wurden - jede/r auf seine bzw ihre Art. Hier wird mit dem alten literarischen Antagonismus männliches versus weibliches Prinzip gespielt, schon bei Goethe ein beliebtes literarisches Motiv und aktueller denn je. Kya (deren eigentlicher Name Catherine Danielle Clark lautet) steht für die ewig weibliche "Mutter" Natur, das Ursprünglich-Echte, wohingegen der Mann Chase Andrews für die entfremdete Kultur der modernen Welt steht, den Menschen in seiner von der Natur abgewandten Differenziertheit, der aber im tiefsten Inneren, so interpretiert es die Naturforscherin Kya, seinen tierischen Trieben folgt (Frauen sind für ihn Trophäen, er jagt um des Jagens willen, den Frauen und auch dem Glück hinterher). Diese Diskrepanz führt dazu, dass er Kya gleichsam anzieht und gleichzeitig aufgrund ihrer Außenseiterposition in der Gesellschaft, abstößt.
Kya hingegen geht völlig in der Natur auf, sie ist eins mit ihr. Alle Versuche, ihr die erzwungene Kultur der sich von allem Natürlichen entfremdeten Gesellschaft, in der Frauen unpraktische Kleidung und Stöckelschuhe tragen, aufzudrücken, schlagen fehl. Vorurteile, Rassentrennung, der schnöde Mammon, bigotte Religion, Unechtheit (die Natur ist dort eine Fake-Natur aus Farbe und Plastik, nur eine Chimäre und wird, wo es geht, zurückgedrängt um gleichförmige Häuser zu bauen) prägen diese moderne, ach so kultivierte Welt, in der Kya nicht sein möchte und mit der sie doch immer wieder auf negative Weise konfrontiert wird, mit der sie sich auseinandersetzen muss und von der sie teilweise auch angezogen wird. Kya sieht die menschliche Gesellschaft zunehmend mit der Brille der Naturforscherin und weiß, dass alles künstliche Verhalten die eigentlich natürlichen Instinkte und Triebe des Tieres Mensch nur übertünchen und nicht ausrotten kann.

Dann ist da noch Tate, der Dritte im Bunde, der die Dreiecksbeziehung komplettiert. Er verkörpert die positiven Seiten der Kultur, allen voran Bildung und Wissen. Tate verhilft Kya zu sich selbst zu finden, zu Autonomie und Emanzipation. Er ist der Geradlinige, der Gute, doch auch er ist zunächst ganz modern zerrissen zwischen Gefühl und Verstand und den Möglichkeiten, die sich ihm bieten, seine Rolle als (gebildeter) Mann in einer von Männern dominierten Welt zu erfüllen und seine Bestimmung zu finden. Ist Kya seine Bestimmung?

Der Roman ist nicht zuletzt ein "Ökoroman". Das Ökosystem Marsch, das Kyas Heimat und Forschungsgegenstand ist, spielt die zentrale Rolle, ist der eigentliche Protagonist. Was für die meisten Menschen dreckiges Brachland ist, ist Kyas Lebenselixir und Heimat. Das Überleben des Systems Marsch ist schicksalhaft für das "Marschmädchen", das eigentlich eine Marschforscherin ist. Delia Owens, die selbst studierte Biologin ist, beschreibt diese Natur so wunderbar, dass man darüber nicht viele Worte verlieren muss.

Gute Literatur regt zum Nachdenken an und lässt den Leser nicht unbeeindruckt zurück, spielt mit immer gültigen Menschheitsthemen und ist doch aktuell. Ich würde sagen, dieser komplexe Roman schafft das, in all seinen Facetten.

Ich brauchte dennoch mehrere Anläufe und es fiel mir anfangs schwer, mich auf die Geschichte und ihre scheinbar ausweglose Trostlosigkeit einzulassen. Sehr langsam, aber umso intensiver konnte ich mich schließlich ganz in die doch an vielen Stellen traurige Erzählung vertiefen. Nicht nur, aber auch dank der metaphorischen Lichtblicke (wie den Lutscher am Boden der Plastiktüte, die Federn im Baumstumpf, die Möwen auf Kyas Füßen, die Wiesen voller Schneegänse in Kyas Gedanken, etc.), die das Buch erhellen wie vereinzelte Sterne das dunkle Marschland, wie die Hand, die einen letztendlich doch aus dem Sumpf zieht.

Das Ende und die Auflösung des Falls haben mich etwas irritiert, wenn auch überrascht. Leider driftet die Autorin mit diesem Ende etwas zu sehr ins Kitschige, Unglaubwürdige ab, was dem Gesamtbild aber dennoch keinen Abbruch tut.
Ein schöner, ein besonderer, ein nicht alltäglicher Roman. Traurig und doch versöhnlich.