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Veröffentlicht am 12.02.2020

Bewegend und tragisch

Tschernobyl
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Ein sehr bewegender, intimer und tragischer Bericht von verschiedensten Tschernobyl-Überlebenden. Svetlana Alexievich gibt denen eine Stimme, die viel zu lange schweigen mussten: Menschen, die ihre Partner ...

Ein sehr bewegender, intimer und tragischer Bericht von verschiedensten Tschernobyl-Überlebenden. Svetlana Alexievich gibt denen eine Stimme, die viel zu lange schweigen mussten: Menschen, die ihre Partner oder Kinder bei der schrecklichen Katastrophe bzwn deren Nachwirkungen verloren haben, Menschen, die ihre Heimat verloren haben, Menschen, die mitansehen mussten, wie andere litte und starben, Menschen, die trotz allem in die "verbotene Zone" zurückgekehrt sind, weil sie norgendwo anders hinkonnten. Menschen, die verachtet und ausgeschlossen, die falsch informiert und belogen wurden. Menschen, die krank wurden, Fehlgeburten hatten, die Dinge gesehen, gehört und erfahren haben, die sich andere kaum vorstellen können. Alle diese Monologe sind an Tragik kaum zu überbieten, aber sie verdienen es, gehört zu werden.

Außer diesen mündlichen Erzählungen bietet das Buch wenig Kontext - nur eine Einleitung mit Fakten sowie einen kurzen Epilog. Dies ist aber auch keine minutengetreue Nacherzählung der eigentlichen Katastrophe. Die Überlebenden gestalten die gesamte Geschichte. Oder zumindest versuchen sie es: Das Unerklärliche, Unvorstellbare zu beschreiben. Was ihnen passiert ist - oder eben nicht. Warum manche Leute sich freiwillig dazu meldeten (oder dazu gezwungen wurden), als "Liquidator" das Chaos aufzuräumen. Warum manche sich geweigert haben zu glauben, dass so etwas Schlimmes überhaupt passieren konnte. Warum das sowjetische System und dessen "Denke" es so leicht gemacht hat, die wahren Ausmaße dieser Tragödie für so lange Zeit so herunterzuspielen. Warum so viele Menschen das so lange und bereitwillig geglaubt haben.

Veröffentlicht am 29.10.2019

Ein Augenöffner

Die unbewohnbare Erde
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Wenn es in eurem Bekanntenkreis Menschen gibt, die den menschengemachten Klimawandel mit einem "Pffft, interessiert mich nicht", "Dann wird es halt etwas wärmer, na und?" oder ähnlichen wenig zielführenden ...

Wenn es in eurem Bekanntenkreis Menschen gibt, die den menschengemachten Klimawandel mit einem "Pffft, interessiert mich nicht", "Dann wird es halt etwas wärmer, na und?" oder ähnlichen wenig zielführenden Kommentaren abtun, schenkt ihnen dieses Buch. Vor allem, wenn besagte Menschen Kinder haben. Denn wenn es sie schon nicht interessiert, was der Klimwandel "denen da irgendwo" beschert, dann vielleicht, was sie selbst ihren Nachfahren hinterlassen. Abgesehen davon, dass das "denen da irgendwo" Quatsch ist, denn die weitreichenden Folgen werden überall spürbar sein.

Das ist es was, was David Wallace-Wells in seinem erschreckenden und schier unvorstellbarem Machwerk aufzeigt - die Welt in wenigen Jahren, Jahrzehnten und kommendem Jahrhundert. Natürlich ist das sehr spekulativ, und wie groß die Ausmaße der Veränderungen sein werden, hängt letzlich davon ab, um wieviel Grad sich die Erde bis zum Tag X erwärmt - doch selbst wenn wir die besten Prognosen einhalten und schon jetzt viel zu optimistische Ziele doch noch irgendwie erreichen, werden die Folgen verheerend sein. Nicht überall und nicht für alle gleich. Aber auch gemäßigte Mitteleuropäer dürften sich beklagen, wenn Primark, Zara und Co. bald mehr leere Regale als neue Polyesterkollektionen im Angebot haben, wenn Bangladesch schlimmstenfalls einfach weg ist.

"Huch, nanu, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht" mag sich euer "Hauptsache im Sommer jeden zweiten Tag grillen"-Mitmensch nun denken, und David Wallace-Wells zeigt noch viele weitere Folgen, Verknüpfungen und damit zusammenhängende Auswirkungen auf (ganz allgemein: WAS für eine Rechercheleistung! WAS für ein Quellenstudium!). Seine Kaskaden bauen auf verschiedenen Faktoren auf, die er zunächst isoliert in zwölf Kapiteln betrachtet. Denn Klimawandel heißt ja nicht nur "zwei Grad wärmer" (und für küstennahe Städte den Unterschied zwischen Leben und Ertrinken). Es heißt auch: Hitze, Hungertod, Süßwassermangel, Wirtschaftskollaps, Konfilkte... Zwölf erschreckende Kapitel, zwölf gruselige Folgen. Und dann kommt am Ende alles zusammen - was diese Kaskaden auslösen können, nein, werden - ich weiß manchmal nicht, warum überhaupt noch fiktionale Horrordystopien geschrieben werden, wenn unsere eigene, nur allzu wahrscheinliche Zukunft, den Gruselschocker schlechthin in petto hat.

Im zweiten Teil des Buchs betrachtet Wallace-Wells den Klimawandel und kulturellen, wirtschaftlichen, politischen Gesichtspunkten - nicht ganz so nahbar und beeindruckend wie im ersten Teil, aber dennoch sehr lesenwert.

Auch stellt das Buch ein paar Lösungansätze vor, aber eher stichpunktartig. Es bietet keine allumfassende Lösung, aber das will es auch gar nicht. Es will wachrütteln, Bewusstsein schaffen, und das macht es wirklich gut. Der Autor selbst sagt, dass er sein Leben, so wie es ist, eigentlich total mag. Er ist kein Ethikapostel, er ist ehrlich und würde am liebsten genauso weiter machen, was soll's. Aber - und das ist der Unterschied - er weiß: Das ist nicht möglich. Das ist die Botschaft, und je mehr Menschen das endlich verstehen, akzeptieren und Konsequenzen folgen lassen, umso besser.

Veröffentlicht am 29.10.2019

Lesenwert!

HERKUNFT
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Ein Buch, eine Frage, "Bin das (alles) ich?", eine Antwort: "Ja, und noch viel mehr." Saša Stanišić nimmt uns mit auf eine Reise zurück zu den Wurzeln, zum Ursprung, zu den Orten, Menschen und Ereignissen, ...

Ein Buch, eine Frage, "Bin das (alles) ich?", eine Antwort: "Ja, und noch viel mehr." Saša Stanišić nimmt uns mit auf eine Reise zurück zu den Wurzeln, zum Ursprung, zu den Orten, Menschen und Ereignissen, die geprägt und gelenkt haben. "Write what you know" - Stanišić nutzt seine eigene Biografie als roten Faden seiner Überlegungen, auf verschiedenen Ebenen. Zum einen sind da die äußeren, geographisch-politisch bedingten Faktoren: Die "Vielvölker"geschichte seiner Familie, der Zusammenbruch des Geburtslands, die eigenen Migrationserfahrungen. Zum anderen die innere Reise, die Suche nach dem Ich, erzählt nicht nur anhand der Suche verschiedener Menschen zu ihrer Zugehörigkeit, sondern vor allem mittels der Großmutter und ihr Abgleiten in die Demenz.

Das Ganze vermengt sich zu einem einerseits sehr intimen-persönlichen Memoir. Gleichzeitig hält es Deutschland den Spiegel vor, und erschreckenderweise ist es fast gleich, ob es das im Jahr 1992 oder 2019 tut. Migration, Integration, Fremdenhass, Vorurteile - die Themen werden nicht weniger, nur (noch) lauter. Und die Gedanken, die sich dieser jugendliche Flüchtling vor mehr als 25 Jahren gemacht hat, sind auch heute noch gültig und wichtig.

Das klingt alles sehr nüchtern und politisch, tatsächlich ist Herkunft aber ein sehr warmes, liebevolles Buch. Respekt, Liebe, Verständnis, Sehnsucht, Verbundenheit - das sind Begriffe, die mir beim Lesen durch den Kopf geisterten. Und die kleinen Beobachtungen, die mir am besten gefallen haben, und bei denen Stanišić so schön formuliert, dass auch mir ganz warm ums Herz wurde. Erzählt wird nicht linear, sondern sehr fragmentarisch, in kleinen Geschichten, die zeitlich hin- und herspringen. Das macht einen Großteil des Charms aus - dennoch hätte ich hier und dort gerne noch etwas länger verharrt, anstatt direkt weiter zu springen und mich wieder neu zu sortieren.

Ein Wort noch zum Format: "Hör das Hörbuch", habe ich so oft zu hören (ha!) bekommen, "der Saša liest so sympathisch." Ja, hätte ich gerne, aber das Hörbuch gibt's nur gekürzt - für mich ein No-Go. Also habe ich doch zum ebook gegriffen. Und siehe da: Das Sympathische kommt auch geschrieben sehr gut rüber, und im letzten Fünftel des Buches wurde auch deutlich, warum dieser Teil für das Hörbuch gekürzt werden musste: Denn da erwartet die Leserschaft ein ziemlich üppiges "Choose your own adventure". Also genau das Format, das der Autor selbst beschreibt, als er von seiner Jugend berichtet (Stichwort "Das schwarze Auge" und so). Auch ich habe mit 11, 12 ein paar dieser Bücher gelesen/gespielt und mich entsprechend sehr über dieses Gimmick gefreut. Augenscheinlich geht es um ein Abenteuer von Saša und seiner Oma Kristina, die den Opa suchen und Drachen jagen gehen. Ein bisschen Flucht aus dem Altenheim, ein bisschen Höhlen erkunden, ein bisschen Rapier zücken - und dann scheint immer wieder mal die Realität durch: der schließliche Tod der Oma, die Trauerzeit und letztlich die Beerdigung. Ich weiß nicht, inwieweit diese finalen "Realpassagen" im Hörbuch überhaupt erwähnt bzw. beachtet wurden (falls nicht, Proftipp: Diese finalen Seiten dem Hörbuch als pdf zugeben). Gerade die Beschreibung der Beerdigung waren für mich ein sehr "stimmiger" Abschluss.

Ob liebevolle Familienerinnerung oder intime Migrationsgeschichte - ein lesenswertes Buch, das auf vielen Ebenen wirkt.

Veröffentlicht am 13.10.2019

Sehr bewegend und empfehlensweret

Einer von uns
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22. Juli 2011, Anders Breivik und seine zwei Terrorakte, erst in Oslos Regierungsviertel, dann auf der Insel Utøya, wo er gnadenlos vor allem Teenager im Sommerlager der Arbeiterpartei niedermähte.
Das ...

22. Juli 2011, Anders Breivik und seine zwei Terrorakte, erst in Oslos Regierungsviertel, dann auf der Insel Utøya, wo er gnadenlos vor allem Teenager im Sommerlager der Arbeiterpartei niedermähte.
Das zentrale Thema in Åsne Seierstad's sehr beeindruckendem Buch: Der Mörder war "Einer von uns", wie konnte das passieren? Wie wurde ein eher regulärer Norweger so radikalisiert, und das in einem eher friedlichen und harmonischen Land?

Seierstad erzählt die Geschichte anhand von Fakten, geht jedem Schritt in Breiviks Leben nach. Von seiner Geburt und frühesten Kindheit, seinen komplizierten Familiendynamiken und Beziehungen, seine vielen vergeblichen Versuche, besonders zu sein, dazu zu gehören und dann doch nichts davon zu erreichen.

Die Autorin gibt weder diesen äußeren Umständen noch der Gesellschaft die Schuld, dennoch haben sie ihren Teil dazu beigetragen: Seien es die Grenzen des norwegischen Jugendhilfe- bzw. Sozialsystems, die unfähige Mutter, des Fehlen psychologischer Unterstützung für sie und/oder die Familie. Am Ende fiel Breivik auf die platte "Der Untergang des Abendlandes steht bevor"-Masche herein und reagierte darauf auf die schlimmste aller denkbaren Arten.

77 Todesopfer - die Zahl alleine ist schlimm genug. Seierstad gibt ihnen eine Stimme, verschafft ihnen Gehört, lässt uns an ihren Träumen, Hoffnungen und letztlich ihrem Schicksal teilhaben. Auch sie waren "Eine(r) von uns".

Veröffentlicht am 13.10.2019

Gerne wieder, gerne mehr!

Nach Notat zu Bett
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Das vorliegende "Tagebuch" beschreibt ein Jahr im Leben eines misanthropischen, sich nach mehr Anerkennung sehnenden Autors. Angelegt an die Tagebücher "großer Männer aus der Vergangenheit" (von F. Kafka ...

Das vorliegende "Tagebuch" beschreibt ein Jahr im Leben eines misanthropischen, sich nach mehr Anerkennung sehnenden Autors. Angelegt an die Tagebücher "großer Männer aus der Vergangenheit" (von F. Kafka über R. Burton bis hin zu A. Speer), verkommt der Inhalt größtenteils zur wahnwitzigen Nichtigkeit: Was wurde gegessen (fast ausschließlich Gerichte, die in ihrer alltäglichen Dekadenz an Mahle vergangener Zeiten erinnern), mit wem wurde kommuniziert (ferndmündlich oder per Brief), wem wurde die Aufwartung gemacht, wie war der (Durch)schlaf, wie das aktuelle Gesundheitsbefinden, wie lief der Fortschritt am aktuellen Buch? Was wurde außerdem konsumiert? Jede Menge Alkohol (Eichmaß etwa "heute nur eine Flasche Rotwein"). Dazu die gewohnten Alltagsbeobachtungen à la Strunk: Kommentare von und zu anderen Menschen, Personengruppen, Fernsehsendungen, Prominenten, Büchern. Der typische biographische Hauch schimmert hier und da durch, aber zumindest beim Alkoholkonsum hoffe ich, um des Autors willen, auf maßlose Übertreibung. Cheers!

Klingt vielleicht öde, belanglos, ohne Überraschungen - hätte es auch werden können, wenn sich irgendwer daran versucht hätte. Aber das ist Strunk, und was soll ich sagen? Auf amazon habe ich in der Rezension von "UlivonBoedefeld" diesen treffenden Satz gelesen: "Wer Strunk begreift, kann die Zeit zwischen Geburt und Tod recht erbaulich gestalten." Und so ist es. Humor ist Ansichtssache usw. usf., aber für Strunk braucht es vermutlich mehr als eine bestimmte Geschmacksfrage, es braucht die Bereitschaft, dahin zu gehen, wo es weh tut, für alle Beteiligten. Umso schöner, wenn der Schmerz dann nachlässt. Ergibt wenig bis gar keinen Sinn? Macht nichts, tut die "Intimschatulle" auch nicht. Dann aber irgendwie doch. Strunk eben.

Sicher nichts für das erste Kennenlernen mit dem Heinzer, es ist schon speziell. Für mich als mittlerweile halbwegs erprobte Strunk-Kennerin war jeder Blick in die Schatulle ein Genuß. Helmuth Zierl, Ficksahne, die "Fragen des Tages", die Google-Suchverläufe, Spock undundund oderoderoder. Highlighteinspieler: der Jugendflirt Meike Kohl-Richer. Grandios.

Gehört wie immer, na klar, als Audiobuch. Gelesen wie immer, na klar, vom Autor selbst. Diese Worte! Diese Schnauze! Diese Sprüche! Gerne wieder, gerne mehr!