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Veröffentlicht am 04.08.2020

Ein bisschen wie Aschenputtel

Überredung. Die Liebe der Anne Elliot
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Das Buch:
Dies ist mein erstes Buch von Jane Austen, an das ich mich heran getraut habe. Auslöser dafür war eine Bemerkung im Film „Das Haus am See“, nämlich: Es ist ein Buch über das Warten. Und so ist ...

Das Buch:
Dies ist mein erstes Buch von Jane Austen, an das ich mich heran getraut habe. Auslöser dafür war eine Bemerkung im Film „Das Haus am See“, nämlich: Es ist ein Buch über das Warten. Und so ist es auch!
Es ist das letzte Buch, das die Autorin verfasst hat. Geschrieben wurde es vor 200 Jahren, angestaubt ist es deshalb aber längst nicht. Es ist anders, nicht zu vergleichen mit den Liebesromanen der heutigen Zeit, aber dennoch mochte ich das Buch bis zum Ende lesen.

Worum geht’s?
Vor 8 Jahren verlobte sich Anne Elliot mit Captain Frederick Wentworth, beugte sich dann aber der Meinung ihrer Freundin Lady Russel und löste diese Verlobung wieder. Grund hierfür war, dass Captain Wentworth nicht standesgemäß sei. Darunter litt Anne sehr. Als die beiden sich wieder begegnen ist das Verhältnis zueinander zunächst sehr kühl, geprägt von Unsicherheiten und manchmal beinahe ablehnend. Im Laufe der Geschichte nähern sie sich wieder an und offenbaren einander ihre Gefühle.

Die Charaktere:
Anne Elliot ist eine von drei Töchtern Sir Walter Elliots. Sie ist eine sehr bescheidene, gebildete Frau, die sich keineswegs etwas auf ihre Herkunft einbildet, dafür aber sehr genau beobachtet und ihre eigenen Schlüsse zieht. Ganz im Gegensatz zu Sir Walter und ihren Schwestern Mary und Elisabeth. Alle 3 sind eitel und bilden sich viel zu viel auf ihren Stand ein. Im Gegensatz zu Anne sind sie einfach nur oberflächlich. Anfänglich habe ich Sir Walter in seiner Eitelkeit noch belächelt, am Ende der Geschichte war er mir eher unsympathisch. Seiner Meinung nach ist lediglich das Aussehen wichtig. Das Wichtigste im Leben der Familie Elliot sind die richtigen Verbindungen. Diese stehen weit über der Zwischenmenschlichkeit.

Mary fühlt sich stets und ständig benachteiligt, schielt nur danach, was andere haben und meint, dass niemand sich genügend um sie kümmert. Sie ist ein furchtbar weinerlicher Typ und hat eine überaus herablassende Art an sich, wenn sie mit Anne interagiert. Herrlich fand ich es zu lesen, wenn Mary mal wieder ihre Meinung geändert hatte und Dinge plötzlich ins Gegenteil kehrte und Nachteiliges zu ihrem Vorteil auslegte. Ich gehe davon aus, dass dies ein Spiegel dieser Gesellschaft ist.

Auch Elisabeth und Sir Walter behandeln Anne überaus respektlos, weshalb sich mir der Vergleich zu Aschenputtel aufdrängte. Während sich der Rest der Familie um eigene Belange kümmert, wird von Anne erwartet, dass sie sich nach bestimmten Regeln zu verhalten habe. So wird von ihr erwartet, wenn es Mary schlecht geht (natürlich nur, weil diese sich wieder einmal benachteiligt fühlt), dass Anne ihr zur Seite steht und sich um deren Haushalt kümmert. Interessanter Weise bekommt man jedoch nicht den Eindruck, dass Anne sich wirklich benachteiligt fühlt. Sie ist überaus geschickt und diplomatisch in ihrer Ausdrucksweise und es ist eine Freude zu lesen, wie sie mit diesen Situationen umgeht. Anne muss man einfach mögen. Sie ist eine sehr umgängliche und liebenswerte Person, die viel darauf hält, dass die Menschen ehrlich sind. Diese Empathie hat ihr auch Mr. Elliot – ihren Cousin – als eher suspekt erscheinen lassen, obwohl alle anderen sehr angetan von ihm sind. Lange Zeit hat sie das Gefühl, dass er etwas verheimlicht und ein bestimmtes Ziel verfolgt, bis sie die Bestätigung aus einer Richtung erhält, die weder sie noch ich erwartet hätten.

Generell gibt es recht viele Figuren und es ist gar nicht so leicht, immer genau zu wissen um wen es sich gerade handelt. Manchmal musste ich noch einmal ein oder zwei Seiten zurück blättern und nachlesen um genau zu wissen, wer gerade gemeint ist. Die wichtigsten Figuren kann man jedoch gut im Blick behalten.

Schreibstil:
Der Schreibstil ist, obwohl die Geschichte schon so alt ist, herrlich leicht zu lesen. Natürlich muss sich der Leser auf eine etwas andere Wortwahl einlassen, natürlich werden Dinge und Situationen völlig anders beschrieben, als es heute üblich ist, aber dennoch kann man das Buch ohne Schwierigkeiten gut lesen.

Sehr auffällig im Gegensatz zu heutiger Literatur ist die Erzählweise. Jane Austen beschreibt viel, erzählt über die Figuren. Es gibt vergleichsweise wenige Dialoge, die zumeist eher der Aneinanderreihung von Monologen gleichen. Dialoge machen in moderner Literatur u.a. das Tempo aus und so erscheint die Geschichte in ihrer Erzählweise sehr langsam. Das gefällt mir gut, eben weil es so herrlich anders ist, als das, was man eigentlich gewohnt ist. Austen gewährt dem Leser viel mehr einen Blick in die Gedankenwelt ihrer Charaktere – vieles wurde zu dieser Zeit, in dieser Gesellschaftsschicht eben nicht gesagt sondern nur gedacht.

Wirklich toll ist die feine Ironie, der Sarkasmus mit dem die Autorin die damalige – ihre – Zeit beleuchtet. Erst im Laufe der Zeit bemerkt man, worin diese besteht, nämlich durch die Wiederholung bestimmter Eigenschaften der einzelnen Charaktere. Auf diese Art und Weise zeichnet die Autorin ganz bestimmte Bilder über deren Lebensweise. Mir hat es sehr gefallen, ganz gemächlich in die Gesellschaft der Elliots und Musgroves einzutauchen. Wenn die Autorin einmal Eindringlichkeit erreichen möchte, dann tut sie dies mit Aufzählungen – langen Aufzählungen!

Schwer gefallen ist es mir, den Überblick über die einzelnen Figuren zu behalten. Auslöser hierfür ist die Gleichheit der Namen und der Umstand, dass Figuren oftmals nicht bei ihren Vornamen benannt werden. So kann es passieren, dass sich Elisabeth und Anne in der gleichen Szene bewegen und beide als Miss Elliot betitelt werden. Auch gibt es mehrere Männer mit dem Vornamen Charles. Es bedarf einer gewissen Konzentration des Lesers heraus zu finden – abhängig von der beschriebenen Situation – wer genau gerade gemeint ist.

Ebenso muss sich der Leser bisweilen konzentrieren, wenn komplexe Gedanken der gebildeten Menschen dargelegt werden, weil diese öfter in sehr langen Passagen – nur getrennt durch Kommata – erzählt werden. Hin und wieder musste ich solche Passagen mehrmals lesen. Dies jedoch bringt dem Lesevergnügen keinen Abbruch, man muss sich aber darauf einlassen, denke ich.

Fazit:
Eine alte Geschichte, die dennoch auch heute noch zu lesen wert ist. Dieses Buch ist nicht zum Konsumieren geeignet – sondern zum Genießen. Die Geschichte gibt einen tollen Blick auf die gehobene Gesellschaft dieser Zeit und man liest sie mit allerhand unterschiedlichen Gefühlen. Ich werde das Buch sicherlich noch einmal lesen und mich auch noch an weitere Werke dieser Schriftstellerin heran wagen.
Wirklich lesenswert.

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Veröffentlicht am 29.03.2020

Was, wenn plötzlich ein Gerücht Dein Leben bestimmt?

Das Gerücht
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Das Buch:
Mir gefiel auf Anhieb die Grundidee der Geschichte, die hier erzählt werden soll. Ein Gerücht macht in einer kleinen Stadt die Runde. Wie werden sich jetzt deren Einwohner verhalten? Da jeder ...

Das Buch:
Mir gefiel auf Anhieb die Grundidee der Geschichte, die hier erzählt werden soll. Ein Gerücht macht in einer kleinen Stadt die Runde. Wie werden sich jetzt deren Einwohner verhalten? Da jeder von uns schon einmal mit einem (oder mehreren) Gerüchten in Berührung kam und davon mehr oder weniger selbst betroffen war, interessierte mich einfach, wie die Geschichte hier ihren Lauf nehmen würde.

Worum geht’s?
Joanna zieht mit ihrem Sohn Alfie zurück in ihre Heimatstadt Flinstead– eine kleine Stadt am Ufer des Meeres – weil sie hofft, dass Alfie sich hier besser zurecht findet, als im großen und wühligen London. Dafür gibt sie einen guten Job auf und gibt sich mit einer Stelle als Maklerin zufrieden. Eines Tages hört sie auf dem Schulhof von Alfies Schule ein schier unglaubliches Gerücht über eine Kindermörderin. Auch durch Joannas Schuld nimmt dieses Gerücht bald eine ungeahnte Größe an und die Einwohner der kleinen Stadt reagieren...

Die Charaktere:
Joanna ist eine liebenswerte, junge Frau, die sich um ihren Sohn Alfie sorgt. Manchmal erscheint sie vielleicht etwas übervorsichtig, aber im Großen und Ganzen kann ich sie schon verstehen. Damit Alfie glücklich sein kann, arrangiert sie sich mit dem Leben in der kleinen Stadt und ist immer wieder froh und dankbar dafür, dass sie nun wenigstens ihre Mutter in der Nähe weiß. Auch Alfie schätzt die Nähe zur Oma sehr.
Unglücklicherweise ist es für Alfie gar nicht so leicht, Freunde in der Schule zu finden und Joanna tut alles dafür, dass sich dies ändert. Dazu gehört auch, sich unterschiedlichen Gruppen wie z.B. der Babysitter-Gruppe oder dem ansässigen Buchclub anzuschließen. Die Mütter in der Babysitter-Gruppe haben ihre eigenen Regeln und wirken auf mich einigermaßen spießig und selbstverliebt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sich Joanna dort besonders wohl fühlt, aber Alfie hat nun Freunde in der Schule...
In diesen Gruppen berichtet Joanna – aus unterschiedlichen Gründen – über das gehörte Gerücht und ziemlich schnell bereut sie dies, da es sich relativ schnell verbreitet und jeder, der es weiter erzählt, offenbar etwas hinzudichtet – ob es nun wahr ist oder nicht. Joanna ist im Grunde keine Klatschtante, weshalb ihr bald klar wird, dass es ein Fehler war, das Gerücht weiter zu tragen. Viel schlimmer finde ich aber zu sehen, wie schnell die Menschen in der kleinen Stadt bereit waren, mit dem Finger auf eine Person zu zeigen, nur weil sie sich anders benimmt als die anderen Einwohner der Stadt. Interessant fand ich auf jeden Fall, wie sehr Joanna darauf aus ist, mehr Informationen zu bekommen. Stundenlang sitzt sie vor dem Rechner und sucht.
Ich kann nicht sagen, dass mir besonders viele der Einwohner von Flinstead sympathisch wären. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass die meisten Fremden – und Joanna ist ja noch nicht einmal wirklich fremd – einfach nur ablehnend gegenüber stehen. Und so liegt meine Sympathie ganz eindeutig bei Joanna, die mit ihrem schwarzen Sohn ganz sicher eine Außenseiterin ist.

Michael – Alfies Vater – ist Journalist und als Joanna ihm von dem Gerücht erzählt, ist er sofort Feuer und Flamme. Er versucht heraus zu finden, was dahinter steckt, wie viel Wahrheit in diesem Gerücht steckt und es dauert gar nicht all zu lange, bis er und Joanna die doch ziemlich haarsträubende Wahrheit heraus finden. Michael ist ein recht sympathischer Typ, er kümmert sich um seinen Sohn und war nie wirklich weit weg, wenn Joanna ihn brauchte. Dass er im Laufe der Zeit beginnt Geheimnisse vor Joanna zu haben, hat ihn mir etwas zwielichtig erscheinen lassen, aber das legt sich bis zum Ende des Buches auch wieder. Dann nämlich behält er die Nerven.

Schreibstil:
Der Text ist in der ich-Form geschrieben und lässt sich angenehm leicht lesen. Die Autorin schreibt sehr anschaulich, sodass man sich die kleine Stadt und die Menschen darin gut vorstellen kann. Durch die gewählte Perspektive in der ich-Form fühlt man sich irgendwie näher in der Geschichte.

Es gelingt Kara immer wieder falsche Fährten zu legen, den Leser ins Grübeln zu bringen. Mehr als einmal habe ich mich dabei ertappt, wie ich mir die Frage stellte: „Könnte sie es sein?“ und versucht habe, zu ergründen, ob ich mit den gelieferten Informationen ein sinniges Bild zusammen bringen könnte. Es macht Spaß, der Geschichte zu folgen und sich eben diese Fragen zu stellen.

Lässt man sich darauf ein, muss man sich allerdings auch beinahe zwangsläufig die Frage stellen, wie man selbst in einer solchen Situation reagieren würde. Als Mutter eines schulpflichtigen Sohnes das Gerücht zu hören, dass in der Heimatstadt eine Kindermörderin leben soll, ist ja schon erst mal ein ziemlicher Schock. Aber würde ich mich wohl darauf verlassen, dass die Justiz ihren Job richtig gemacht hat oder würde ich fortan jeden verdächtigen, der auch nur im Ansatz ins Bild passen würde?

Mit den falschen Fährten gelingt es der Autorin also, dass der Leser auch über sein eigenes Verhalten nachdenken kann. Das gefällt mir ausgesprochen gut. Nicht zuletzt deswegen, weil einem die Geschichte so doch deutlich realer erscheint, es viel wahrscheinlicher erscheint, dass man selbst auch einmal in eine solche Situation geraten könnte.

Die Spannung im Roman hält die Autorin stets hoch, lediglich am Ende erscheint es so, dass die Autorin vielleicht etwas zu viel wollte. Mir war es nicht glaubwürdig genug, dass eben diese Charaktere, die sie auswählte, solche Abschlussaktionen hätten liefern können.
Zwischen den Kapiteln erfährt der Leser von der wirklichen Täterin hin und wieder kleine Berichte aus ihrem Leben, die vielleicht (kennt man die Auflösung, ist es ganz sicher so) auch Hinweise auf sie liefern. Diese Einschübe haben mir sehr gut gefallen und hätten aus meiner Sicht deutlich öfter kommen können. Ebenso die Zeitungsausschnitte, derer sich die Autorin bedient. Denn eben diese Elemente sind es, die die Täterin sehr gut beschreiben.

Die Auflösung erfolgt erst am Schluss in einer ziemlich emotionalen Szene, die mir gut gefallen hat. Bis dahin mag der Leser seine Verdachtsmomente haben, aber mit dieser Lösung hätte ich auf gar keinen Fall gerechnet. Nun sollte man glauben, alles ist klar. Aber der allerletzte Satz des Buches brachte mich dann doch wieder ins Grübeln. Ich glaube, die Autorin überlässt es hier dem Leser selbst, wem er was glauben möchte. Ein großartiger Abschluss des Buches!

Fazit:
Ein lesenswertes Buch für Zwischendurch, das sich die Auflösung bis zum Schluss aufspart, in dem der Leser miträtseln kann und über das er im Nachgang sicherlich auch noch nachdenkt. Eine sympathische Protagonistin mit einem leichten Hang zur Dramatik runden die Geschichte ab. 4 von 5 Sternen.

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Veröffentlicht am 16.02.2020

Ist es wirklich nur ein Schulprojekt?

Staat X
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Das Buch:
Dass dieses Buch gewisse Parallelen zum Buch „Die Welle“ haben würde, war mir klar bevor ich die erste Seite aufschlug. Und ja, das Prinzip ist sicherlich vergleichbar, aber dennoch ist dieses ...

Das Buch:
Dass dieses Buch gewisse Parallelen zum Buch „Die Welle“ haben würde, war mir klar bevor ich die erste Seite aufschlug. Und ja, das Prinzip ist sicherlich vergleichbar, aber dennoch ist dieses Buch ein Eigenständiges und absolut lesenswert. Abgesehen davon ist die Quintessenz aus dem Projekt in der heutigen Zeit aktueller denn je und stimmte mich, nachdem ich die Buchdeckel zugeklappt hatte, sehr nachdenklich.

Die Geschichte wird aus 4 unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt – und enthält zudem Kapitel, die Allgemeines zu Staat X enthalten. Die Kapitel sind jeweils entsprechend überschrieben, sodass eine Orientierung für den Leser zu jeder Zeit möglich ist.

Worum geht’s?
Auf dem Johannes-Gutenberg-Gymnasium wird das Projekt „Staat X“ gestartet. Zwei Jahre lang wurde dieses Projekt von den Schülern selbst vorbereitet. Es gibt Geschäfte, eine eigene Währung, Steuern, Personalausweise und natürlich die notwendigen Ämter in Politik, Wirtschaft und Justiz. Bis auf den Präsidenten sind diese Ämter bereits besetzt. Das Amt des Präsidenten wird per Wahl vergeben. Die Schüler des Gymnasiums werden eine Woche lang ihren eigenen Staat führen – ohne Einmischung der Lehrer. Relativ schnell nehmen Manipulation und Intrigen ihren Lauf und das Projekt entwickelt sich in eine Richtung, die so ganz sicher nicht gewollt war.

Charaktere:
Hauptsächlich wird die Geschichte aus der Sicht von Adrian (Polizeipräsident), Lara (Journalistin), Vincent (Polizist) und Melina (Inhaberin der Büchereule) erzählt. Während Lara aus einem relativ behüteten Elternhaus stammt, jedoch ständig umziehen musste, haben die anderen drei Charaktere schwere, persönliche Päckchen mit sich zu tragen. Bereits nach dem Lesen der ersten Kapitel bauten sich in mir die ersten Fragen auf, wie diese Jugendlichen in einem Projekt wie „Staat X“ bestehen werden. Damit gelingt der Autorin ein wunderbarer Einstieg in ihre Geschichte und bindet den Leser an sie.

Auch schafft Carolin Wahl es sehr zügig Sympathie und Antipathie zu erzeugen. Erste Konflikte, deren Ursprünge dem Leser unbekannt sind, werfen weitere Fragen auf und das Verhalten der unterschiedlichen – noch unbekannten Schüler – wecken die uneingeschränkte Neugier auf den Rest der Geschichte.

Wahls Charaktere entwickeln sich teilweise überraschend anders, als der Leser es anfänglich vermuten würde. Da sie am Anfang recht genau beschreibt, wie ihre Hauptfiguren leben und aufgewachsen sind, was sie mögen und vor allem, was sie nicht mögen, bildet man sich als Leser recht schnell eine Meinung – oder jedenfalls ging es mir so. Deshalb erstaunt es dann zu einem späteren Zeitpunkt, welche Charaktereigenschaften nun plötzlich präsent sind. Dies betrifft im Übrigen positive wie negative Eigenschaften. Der Gedanke „Das hätte ich ihm (oder ihr) gar nicht zugetraut“ wurde mein ständiger Begleiter. Auch kam meine Sympathie für den einen oder anderen Charakter stark ins Wanken! Hätte es dieses Ende nicht gegeben, hätte ich meine Meinung vom Anfang diesbezüglich sicherlich revidiert.

Eine sehr zentrale Frage stellte sich bei mir nach etwa 2 Dritteln des Buches ein: Glauben die wirklich, dass das nach Ablauf des Projektes keine Konsequenzen hat? Immerhin war dieses Projekt auf eine Woche begrenzt. Aber es gab Figuren, die erschienen wie im Wahn, fühlten sich offenbar unantastbar und taten Dinge, die in einem Rechtsstaat nichts verloren haben. Die Konsequenzen folgten aber selbstverständlich!

Schreibstil:
Die Autorin überzeugt mit einem jugendlichen Schreibstil. Ihre Formulierungen passen perfekt in die Welt eines Gymnasiums, wie ich finde. Gestelztes Deutsch – Fehlanzeige. Eher gibt es auch mal eine Formulierung wie „Fresse polieren“. Eben so wie Jugendliche miteinander sprechen würden. Das gefiel mir ausgesprochen gut, alles andere wäre weniger authentisch gewesen.

Auf der anderen Seite bedient sie sich Formulierungen, die das Umfeld des Projektes bildhaft vor dem inneren Auge des Lesers auferstehen lassen. Die gekonnte Nutzung von Vergleichen und Adjektiven ohne sich in Details zu verlieren machen die Geschichte lebendig. Zitat S. 63 „Jetzt blätterte sein Innerstes ab wie die Konturen der Abziehbildchen nach dem Duschen.“

Auch die Veränderung der Persönlichkeiten stellt sie mithilfe toller Formulierungen dar, sodass beim Leser kein Zweifel bleibt, was sie sagen will. Sie schafft es auch dem Leser ein Gefühl zu vermitteln, was in den Figuren selbst vor sich geht und wie sie von ihrer Umwelt wahrgenommen werden. Ich mochte diese unterschiedlichen Blickwinkel sehr. Mal schaut man von innen nach außen und dann wieder von außen nach innen. So kann man das Verständnis oder auch Unverständnis der Charaktere für sich selbst und die Anderen besser verstehen.

Was mir am Ende aber doch fehlte:
Ich habe mich während des Lesens gefragt, worauf das Projekt „Staat X“ basierte, warum die Schüler es ins Leben gerufen haben. Leider wird der Vorlauf zu dem Projekt gar nicht erwähnt. Das ist ein bisschen schade, denn dann hätte man vielleicht auch verstanden, weshalb die Lehrer sich so völlig zurückgezogen haben, obwohl ja durchaus damit zu rechnen war, dass sich ein solches Projekt auch unangenehm verselbständigen kann.

Von Anfang an hegt Johanna eine tiefe Abneigung gegen Adrian. Warum das so ist, wird aber nicht erzählt. Da beide als Präsident des Staates kandidiert haben, wäre es vielleicht schon interessant gewesen zu wissen, woher dieser Konflikt rührt. Ganz offensichtlich hat Johanna viel Herzblut in das Projekt gesteckt, während Adrian eher Nutznießer ist. Weshalb hat er sich also überhaupt zur Präsidentenwahl gestellt?

Stephan, der ursprüngliche Polizeipräsident, hat Lara Insiderinformationen darüber zugespielt, warum er von seinem Amt zurück trat. Ich fand es ein bisschen schade, dass dies nur sehr kurz erwähnt wurde. Hier hätte ich mir mehr Aufklärung zu den politischen Machenschaften hinter den Kulissen gewünscht. Immerhin waren ihre Recherchen ja der Grund, warum Lara von den Polizisten angegriffen wurde.

Fazit:
Man muss dieses Buch sacken lassen! Ich war am Ende weit davon entfernt, irgendeinen der Schüler für sein Verhalten zu verurteilen, denn man muss sich zwingend die Frage stellen: „Was hätte ich vielleicht getan?“. Können wir uns zweifelsfrei davon distanzieren, in einem solchen Strudel der Macht zu eben diesen Mitteln zu greifen? Ich glaube nicht. Ein tolles Buch! Da ich am Ende aber doch zu viele Fragen hatte, gebe ich 4 Sterne.

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Veröffentlicht am 05.11.2019

Eine Geschichte mit und fürs Herz

Wenn der Morgen die Dunkelheit vertreibt
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Das Buch:
„Wenn der Morgen die Dunkelheit vertreibt“ von Brittainy C. Cherry erzählt die Geschichte zweier Menschen, die oberflächlich und auf den ersten Blick betrachtet unterschiedlicher nicht sein könnten. ...

Das Buch:
„Wenn der Morgen die Dunkelheit vertreibt“ von Brittainy C. Cherry erzählt die Geschichte zweier Menschen, die oberflächlich und auf den ersten Blick betrachtet unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf den zweiten Blick erzählt das Buch die Geschichte einer amerikanischen Kleinstadt, deren Einwohner es sich zur Aufgabe gemacht haben, jeden, der auch nur im Ansatz anders zu sein scheint, auszugrenzen. Dabei ist es unwichtig, wie beliebt oder unbeliebt ein Mensch in der Vergangenheit war. Das Buch erzählt die Geschichte einer angeblich gläubigen Gemeinschaft, die darauf pocht, dass ihre Moralvorstellungen gelebt werden. Einzelschicksale sind dabei zweitrangig und die Gefühle der Menschen scheinen keine Rolle zu spielen… solange nur der Eindruck nach außen hin passt.

In der Leseprobe haben mich der wirklich flüssige und leicht lesbare Schreibstil der Autorin und ihre Fähigkeit, einen sofort in die Geschichte zu katapultieren, beeindruckt. Darüber hinaus hat der kurze Buchanfang in mir Emotionen geweckt, die mich – als jemand, der nicht in erster Linie Konsument von Liebesromanen ist – dazu brachten, dass ich das Buch in Gänze lesen wollte und dies bitte immer mit einem Paket Taschentüchern dabei. Und ich wurde nicht enttäuscht.

Ich habe dieses Buch im Rahmen einer Leserunde bei Lesejury gelesen, wofür ich mich recht herzlich bedanke.

Worum geht’s?
Grace und Finley Braun haben ihre Ehe beendet, verkaufen ihr Haus und ziehen getrennt in ihre Heimatstadt Chester zurück. Während Grace ganz offensichtlich über das Ende ihrer Ehe trauert, hat man bei Finley den Eindruck, als zöge er mit fliegenden Fahnen von dannen in sein neues Leben. In Chester angekommen, streikt Grace‘ Auto und beinahe verursacht sie einen schlimmen Unfall, wenn da nicht der Automechaniker Jackson wäre, der sie durch beherztes Handeln vor eben diesem Unfall bewahrt. Blöderweise ist Jackson „das Monster“ von Chester, mit dem man sich besser nicht abgibt und schon gar nicht, wenn man die Tochter des Pastors und eine Harris ist. Ebenso wie sein Vater hasst Jackson die Familie Harris seit Kindertagen und will schon deshalb mit Grace besser nichts zu tun haben. Aber obwohl sich die beiden eigentlich meiden wollen, begegnen sie sich immer wieder und ziemlich schnell bemerken sie, dass sie gar nicht so verschieden sind.

Charaktere:
Der Autorin gelingt es glänzend Grace und Jackson als „die Guten“ zu beschreiben, während viele andere Charaktere einfach als spießig, wütend und im Fall von Grace‘ Mutter einfach als verabscheuungswürdig dargestellt werden.

Loretta Harris verkörpert in den ersten 2 Dritteln des Buches in der Tat eine Frau, der man besser aus dem Weg gehen sollte. Sie sprüht Gift in alle Richtungen, hat kein Erbarmen und erklärt all diese Eigenschaften mit ihrem Glauben. Dennoch erscheint sie mir verlogen und schon recht bald bekommt man den Eindruck, dass hinter dieser giftigen Fassade mehr stecken muss. Die Figur der Loretta Harris ist meiner Meinung nach der perfekte Antagonist und so sehr ich sie auch verabscheut habe, wütend auf sie war und ihre Argumentationen nicht verstehen konnte, so sehr kann ich nur den Hut ziehen, dass die Autorin mit einer solchen Überzeugung diese Figur geschrieben hat.

Die liebreizende Grace hingegen entwickelt sich im Laufe der Geschichte zu einer selbstbewussten jungen Frau, die auf dem Weg der Selbstfindung ist und dabei eine nie enden wollende Unterstützung von Jackson erhält. Er ist es, der ihr beibringt, dass es nicht darauf ankommt, immer allen gefallen zu müssen sondern darauf, für sich selbst einzutreten. Auf dem Weg ihrer Selbstfindung übertritt Grace Grenzen, die sie normalerweise noch nicht einmal erahnt hätte und sie lernt sehr schnell, dass es in ihrem Leben als Erstes wichtig ist, dass sie glücklich ist – und nicht zuerst die anderen. Sie lernt auch, dass die Menschen, die wirklich zu ihr stehen, diesen Weg mitgehen und sie unterstützen. Ihre Mutter gehört allerdings nicht dazu!

Jackson wurde mit 10 Jahren von seiner Mutter verlassen. Seither hängt sein Vater am Alkohol, sodass er im gleichen Moment quasi Vater und Mutter verloren hat. Als Ex-Junkie kümmert er sich um seinen Vater, dessen Autowerkstatt und seinen Hund Tucker. Mehr braucht er nicht und mehr will er nicht in seinem Leben. Ansonsten ist er damit beschäftigt, wütend und für die Gesellschaft in Chester das Monster zu sein.
Gemeinsam mit Grace findet er aber heraus, dass er okay ist, dass es okay ist andere zu brauchen und vor allem zu mögen. Und ganz langsam, mit Höhen und Tiefen, nähern sich Grace und Jackson an und öffnen sich füreinander.

Natürlich muss der Leser Grace und Jackson mögen. Man kann sich dem nicht entziehen. Die Geschichte zwischen den beiden ist manchmal ein bisschen klischeehaft, aber nicht nervig kitschig, sondern irgendwie schön. Darüber hinaus spricht die Autorin einfach Themen an, die sehr tiefgreifende Veränderungen in Menschen zur Folge haben können, als da wären: der Verlust wichtiger Menschen, Fehlgeburten, Untreue…

Was mich am meisten erschreckt hat, ist die Oberflächlichkeit der Einwohner von Chester. Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich eine komplette Gemeinde so reagieren würde. Vielleicht musste diese Eigenschaft aber auch einfach so überzeichnet werden, damit Jacksons und Grace‘ Schicksale diese Wirkung haben konnten, die sie auf den Leser zwangsläufig haben.

Schreibstil:
Brittainy C. Cherry schreibt sehr flüssig, bedient sich der jungen Sprache (oder zumindest ihre Übersetzerin) und somit passen Thema und Sprache sehr gut zusammen und der Roman lässt sich sehr leicht lesen.
Was mich etwas irritiert hat, ist das Faktum, dass Grace älter als Jackson ist, was meiner Meinung nach in solchen Romanen doch eher selten vorkommt und darüber hinaus, dass Grace bereits 30 ist. Die Geschichte und Verhaltensweisen als solche sähe ich eher bei Protagonisten die Anfang 20 sind. Dann allerdings wäre mindestens ein Schicksalsschlag schon nicht mehr so glaubhaft möglich gewesen, wie er beschrieben wurde.

Ein bisschen abstrus und unglaubwürdig fand ich das Ende, wenngleich auch hier eine Menge Emotionen drin steckten. Aber da war plötzlich an mancher Stelle – und zu schnell für meine Begriffe – Friede, Freude, Eierkuchen. Ganz so, als hätte es die Vorgeschichte nicht gegeben oder man sei zu alten Verhaltensmustern zurückgekehrt.

Ansonsten hat der Roman meinen Erwartungen aber voll entsprochen. Ich war darauf aus, etwas leichte Kost fürs Herz zu bekommen, ein paar Tränen fließen zu lassen (okay, ich gestehe, manchmal waren es auch ein paar mehr) und mich in die Geschichte fallen lassen zu können. Das hat sehr gut funktioniert!

Fazit:
Für Liebhaber der Kategorie Liebesroman ist das Buch bestens geeignet! Es dient mit Emotionen, Klischees und einer Geschichte, die bis auf das teilweise zu schnelle Ende glaubwürdig ist. Von mir gibt’s 4 von 5 Sternen für die leichte, lockere Unterhaltung.

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Veröffentlicht am 03.11.2019

Auf der Suche nach der Wahrheit!

Die Schuld jenes Sommers
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Das Buch:
Ich durfte das Buch „Die Schuld jenes Sommers“ von Katherine Webb im Rahmen einer Leserunde lesen, wofür ich mich beim Diana Verlag und Lovelybooks bedanke. Das Cover ist interessant gestaltet ...

Das Buch:
Ich durfte das Buch „Die Schuld jenes Sommers“ von Katherine Webb im Rahmen einer Leserunde lesen, wofür ich mich beim Diana Verlag und Lovelybooks bedanke. Das Cover ist interessant gestaltet und macht neugierig, nicht zuletzt deshalb, weil es sich nicht in die sonst so üblichen Covers historischer Romanen einreiht.

Frances‘ Geschichte wird in diesem Buch auf 2 Zeitebenen erzählt – 1942 und 1918. Die Kapitel der Gegenwart und Vergangenheit sind deutlich getrennt, verzahnen sich in ihrer Handlung im Laufe der Erzählung aber immer mehr ineinander – bis hin zu dem Moment, in dem sie sich treffen.

Worum geht’s?
Die englische Stadt Bath wird 1942 von deutschen Fliegern bombardiert. Mitten in den Wirren dieser zweitägigen Angriffe geht der 6jährige Davy verloren. Frances, die eigentlich auf ihn aufpassen sollte, hatte ihn zu einem befreundeten Ehepaar gebracht, weil sie selbst Zeit für sich brauchte. Eine nervenaufreibende Suche nach dem Jungen beginnt, während der sich viele Beziehungen zur Familie des Jungen offenbaren und ein lange verborgenes Stück Vergangenheit wortwörtlich an die Oberfläche katapultiert wird. Frances sucht nun nicht mehr nur nach Davy sondern auch nach ihrer eigenen Vergangenheit.

Bath 1918: Die 8jährige Wyn – Frances‘ beste Freundin – verschwindet und kann trotz intensiver Suche nicht gefunden werden. Nichts deutet auf den Verbleib des kleinen Mädchens hin, aber Frances‘ hat seit dem tiefe Schuld- und Schamgefühle, die sie sich selbst nicht oder nur unzureichend erklären kann.

Charaktere:
Frances Parry ist eine junge Frau, die unter ihren Schuld- und Schamgefühlen beinahe zusammen zu brechen droht. Zunächst ist mir als Leser keineswegs bewusst, warum sie diese Gefühle haben sollte. Sie behauptet sich in einem Männerberuf, hat sich – obwohl dies in jener Zeit sicher nicht als üblich zu bezeichnen ist – von ihrem Ehemann getrennt und kümmert sich liebe- und aufopferungsvoll um den kleinen Davy, der nicht ihr eigenes Kind ist. Ich habe sie am Anfang des Buches als eine Frau ohne jegliches Selbstwertgefühl wahrgenommen und konnte mir kaum erklären, welche Schuld sie auf sich geladen haben könnte, die diese Charaktereigenschaft untermauern würde. Im Laufe des Romans beginnt der Leser aber zu verstehen, worin Frances‘ Problem liegt. Als die Leiche ihrer damals besten Freundin Wyn auftaucht, begibt sich Frances auf eine Reise in ihre eigene Vergangenheit um Wyns Tod und die Umstände aufzuklären, wie es dazu kam. Dabei reißt sie in ihrer Seele alte Wunden auf und stellt sich ihren größten Dämonen, bis sie die Erklärung (und hoffentlich ihren Frieden) findet.

Die deutlich ältere Carys, Davys Mutter, ist eine alkoholabhängige, furchtbar verlebte und unsympathische Frau, die Frances Schuldgefühle nährt, indem sie sie für das Verschwinden des kleinen Davy verantwortlich macht. Während Frances jedoch Tag um Tag nach Davy sucht, tut Carys gar nichts dafür, gibt den Jungen sogar auf und behauptet, er sei tot. Die ständig wütende Carys wirkt so abstoßend, dass sie mich mit ihrer Selbstgerechtigkeit und ihrer fordernden Art bisweilen wirklich wütend hat werden lassen. Mehr als einmal hatte ich die Frage im Kopf, was sich diese Frau eigentlich einbildet, dass sie so mit Frances umgehen darf. Letztlich hat aber auch sie ihr Päckchen zu tragen, sodass ich sie am Ende des Romans zwar verstehen kann, ihr verzeihen kann ich jedoch nicht. Sie hätte etwas tun können und tat es nicht, möglicherweise weil sie sich für ihr Wissen schämte, und macht stattdessen Frances in gewisser Weise mitverantwortlich.

In Bezug auf Frances bin ich hin- und hergerissen, ob ich sie mag oder nicht. Im Nachhinein erscheint mir diese Figur aber absolut authentisch. Ich denke, jeder wird nachvollziehen können, was in der kleinen Kinderseele kaputt gegangen war und wie schwer es ist, als Erwachsener an solche tief vergrabenen Erinnerungen wieder heran zu kommen um diese zu verarbeiten. Ebenso empfinde ich Carys zwar als widerlich, aber lebensecht. Ihre Erlebnisse in einem lieblosen Elternhaus mit einem trinkenden und gewalttätigen Vater und die Umstände von Wyns Verschwinden haben sie hart und ungerecht werden lassen.

Wyn Hughes ist 8 Jahre alt und Frances‘ beste Freundin in 1918. Sie ist ein fröhliches, neugieriges und vor allem angstfreies Kind. Sie reißt die eher schüchterne Frances mit und nimmt sie so, wie sie ist. Im Gegensatz zu Frances, deren Elternhaus sicher nicht wohlhabend, im Gegensatz zu den Hughes aber besser situiert ist, wächst Wyn in ärmlichen und lieblosen Verhältnissen auf. Beide Mädchen verbindet ein Geheimnis, das sie keineswegs verraten dürfen. Zunächst empfinden sie dieses Geheimnis als aufregend und neu, aber irgendwann kommt der Tag, an dem es für die Mädchen eher zur Belastung wird. Dennoch halten beide weiterhin den Mund.
Für Frances unverständlich ändert sich Wyns Verhalten ihr gegenüber kurz vor ihrem Verschwinden drastisch. Frances fühlt sich ausgeschlossen und abgeschoben, kann aber mit ihren 8 Jahren kaum erklären, woran dies liegen könnte. Als Wyn ausgerechnet nach einem Streit mit Frances verschwindet, macht sich Frances schreckliche Vorwürfe und traut sich dennoch nicht davon zu erzählen – nicht einmal der Polizei sagt sie die ganze Wahrheit.
Ich mag die beiden Mädchen, wie sie ihren Sommer verbringen, wie sie miteinander umgehen und vor allem wie einfach das Leben erscheint, obwohl die Verhältnisse alles andere als einfach sind. Wyns verändertes Verhalten hat mich zunächst ebenso ratlos sein lassen wie Frances. Aber recht schnell kann man sich eine eigene Theorie entwickeln, woher diese Veränderung rührt und dann mit bangen, ob die Wahrheit ans Licht kommen wird.

Es gibt recht viele Nebencharaktere, die alle sehr glaubwürdig dargestellt sind. Als Leser kann man sich in diesen Ort, in diese Gemeinschaft der Familien hinein denken und zu großen Teilen auch verstehen. Besonders schön fand ich hierbei, dass der Täter erst sehr spät zu entlarven ist. Die ersten Verdachtsmomente schafft die Autorin mit sehr kleinen Details, sodass ich als Leser die Chance hatte, mit Frances gemeinsam die Wahrheit aufzudecken. Sie wurde nicht einfach präsentiert!

Historischer / Psychologischer Hintergrund:
Die Kategorie historischer Roman ist für mich mit diesem Buch nicht gegeben. Zwar sind beide Zeitstränge in der Vergangenheit angesiedelt, aber abgesehen von den Bombenangriffen, die zeitlich korrekt ins Jahr 1942 fallen, hätte man die gleiche Geschichte auch in der Gegenwart erzählen können. Über den ersten und zweiten Weltkrieg erfährt man im Grund nichts, obwohl beide Familien von beiden Kriegen berührt waren. Auswirkungen scheinen sie aber kaum gehabt zu haben, wenn man von der Zerstörung durch die Bomben absieht. Dieser Umstand macht die Geschichte als solche nicht schlechter, jedoch hatte ich mir etwas mehr geschichtlichen Hintergrund erhofft.

Dafür punktet die Autorin meiner Meinung nach mit feinfühliger Erzählung in Bezug auf die psychologischen Hintergründe ohne diese wirklich zu erklären. Gerade Kinder können schlimme Erlebnisse so weit verdrängen, dass sie meinen, sich daran gar nicht mehr zu erinnern. Nur die Gefühlswelt bleibt an der Oberfläche und sehr deutlich wahrnehmbar. Durch die mangelnde Erinnerung sind diese Gefühle aber nur schwer erklärbar. Heute kann einem bei einer solchen Aufarbeitung ein guter Psychologe helfen. Den hatte Frances nicht und macht sich auf Anraten der einzigen Polizistin, die ihr überhaupt helfen will, auf die Suche nach den Orten ihrer Kindheit. Das Ergebnis ist m.E. sehr gut beschrieben – einfühlsam und nachvollziehbar. So merkt der Leser sehr schnell, dass hinter Frances Schuldgefühlen deutlich mehr steckt als Unsicherheit.

Schreibstil:
Ich mag den Schreibstil von Katherine Webb. Er ist einfach zu lesen und sehr flüssig, sodass man sich auf die Geschichte einlassen kann. Etwas schwierig mag es erscheinen, dass Häuser in England Namen haben, dass Straßenzüge u.U. recht ähnliche heißen usw. Aber dies ist eben in England so und man gewöhnt sich daran, insbesondere weil nach einer gewissen Zeit nur noch wenige Örtlichkeiten wirklich relevant sind.

Die Suche um Davy ist die einzige Teilgeschichte, die mir etwas zu umfassend erscheint, da sie später einfach in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Ich denke, sie dient dazu die persönlichen Verhältnisse zwischen Frances und Carys darzustellen, aber ich glaube, das hätte die Autorin entweder kürzer oder mit anderen Erlebnissen tun können. Andererseits zeigt die Ausführlichkeit der Suche natürlich auf, wie nervenaufreibend dies für Frances gewesen ist.
Alle anderen Teile der Geschichte sind spannend geschrieben und relativ wenig vorhersehbar. Natürlich kann man mit seinen Vermutungen richtig liegen, oft genug lag ich aber auch daneben und war überrascht, wenn dann die Lösung ans Licht kam.

Fazit:
Dieses Buch ist zwar nicht wirklich ein historischer Roman, erzählt aber eine spannende Geschichte über die Suche nach der Wahrheit und der eigenen Vergangenheit auf zwei Zeitebenen. Die Geschichte konnte mich absolut fesseln. Aber aufgrund des mangelnden historischen Aspekts und der etwas ausschweifenden Suche nach Davy vergebe ich 4 von 5 Sternen.