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Veröffentlicht am 06.12.2019

Ein berührender Roman über die Seele der Menschen jenseits des Geschlechts

Die Wunder von Little No Horse
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Zuweilen zart, zuweilen deftig erzählt Louise Erdrich von Agnes, die die Identität des katholischen Priesters Damien Modeste annimmt, um sich ihren Lebenstraum zu erfüllen - sie möchte predigen.

»Als ...

Zuweilen zart, zuweilen deftig erzählt Louise Erdrich von Agnes, die die Identität des katholischen Priesters Damien Modeste annimmt, um sich ihren Lebenstraum zu erfüllen - sie möchte predigen.

»Als Nonne hatte sie gelernt, den Blick gesenkt zu halten. Jetzt reckte Father Damien das Kinn, verengte die Augen und schaute geradeaus.«

1912 lebt sie in “Little No Horse”, einem Reservat der Objiwe-Indianer. Während sie sich um die Einwohner kümmert, erfährt sie viel über ihre Kultur.

Die Autorin Louise Erdrich ist Tochter einer Objiwe und beschreibt die Protagonisten mit viel Liebe und Einfühlungsvermögen. Die Frauen des Stammes sind stolz und stark:
»Man kann einiges mit mir machen und ich mit anderen, ich gebe und gebe, aber irgendwann reißt das Band. Meine Liebe sitzt tief, solange man nur diese Grenze nicht überschreitet und mir nichts antut, das ich nicht bereit bin hinzunehmen.«

Erdrich lässt die verschiedenen indianischen Protagonisten selbst ihre Geschichten erzählen - über Geister, Erfahrungen mit Weißen, über absurde Situationen, Rivalitäten.

Um Gott zu dienen, hat Agnes auf das Leben als Frau und Mutter verzichtet. Eine Leidenschaft, die ihr geblieben ist, ist das Klavier. Beim Spiel fühlt sie sich durchdrungen von Gott:
»Die gestutzten Alleen von Haydn, Brahms oder selbst Schubert habe ich nie mit derselben Hingabe gespielt wie Beethovens wuchernde Wälder. Immer wollte ich noch tiefer ins Dickicht, habe die Intonation jeder Note problematisiert, jeden Zwischenton umgewendet und Bach nach der Wahrheit durchforstet.«

Die Geschichte reicht hinein bis in die 90er, als Agnes/Damien spürt, dass ihr Ende naht. Sie wusste, der Blick auf ihre Leistung würde sich verändern, wenn man nach ihrem Tod erfahren würde, dass sie eine Frau ist.

Der Roman war nicht immer bequem und hat auch leider meine Erwartung nach einer idyllischen Geschichte von naturnah lebenden Ureinwohnern nicht bedient. Ich habe von Armut und Hunger, Kälte, Alkoholmißbrauch und Kämpfen gelesen. Auch konnte ich nicht nachvollziehen, dass Agnes einer Institution dient, die das Weibliche als minderwertig ansieht.
Dennoch hat mich die Geschichte und bildhafte, poetische Sprache in ihren Bann gezogen und tief berührt.
Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 05.12.2019

Ein Buch, das zeigt, warum jede einzelne Stimme wichtig ist

Aufbruch
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Gloria Steinem, Journalistin und Feministin, hatte eine unkonventionelle Kindheit. Mit ihren Eltern und ihrer Schwester reiste sie durch die USA. Auch später behielt sie dieses Leben bei. Sie erzählt von ...

Gloria Steinem, Journalistin und Feministin, hatte eine unkonventionelle Kindheit. Mit ihren Eltern und ihrer Schwester reiste sie durch die USA. Auch später behielt sie dieses Leben bei. Sie erzählt von Reisen mit dem Auto, dem Flugzeug, Gesprächen mit Taxifahrern, Flugbegleiterinnen, Studentinnen und LKW-Fahrern.

Geprägt durch den Vater, der sich gegen Regeln auflehnte und ihrer Mutter, die in der Ehe verkümmerte, setzt sie sich bis heute für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit ein.

»Wir reden über eine Gesellschaft, in der keine anderen Rollen existieren werden als die, die man sich gewählt oder verdient hat; wir reden ernsthaft über Menschlichkeit.«

Beim Feminismus geht es nicht nur um Frauen, sondern auch um Menschen mit Behinderungen, Menschen verschiedener Nationalität und Hautfarbe und natürlich auch um Männer.

Zusammen mit der Autorin wirft man einen Blick zurück bis in die 60er. Steinem erzählt, dass 1971 den Studentinnen der juristischen Fakultät von Harvard nur am “Ladys Day” gestattet war in den Seminaren Fragen zu stellen. Sie schreibt über den Indian Removal Act, der das Land der Cherokee an weiße Sklavenhalter gab, das Eheverbot für Flugbegleiterinnen, die Nationale Frauenkonferenz 1977 und den Vietnam-Krieg. Sie schildert, dass die katholische Kirche Abtreibungen bis ist 19. Jahrhundert geduldet hat und diese erst später aus demografischen Gründen verboten wurden. Sie berichtet von Frauen, die einen Schwangeschaftsabbruch vornehmen ließen und sich anschließend wieder zurück vor die Klinik stellten, um weiter gegen Abtreibungen zu protestieren. Sehr interessant auch der Wahlkampf um das Präsidentenamt, bei dem Steinem Hillary Clinton unterstützte.

»Und kein Wunder, dass Frauenfeindlichkeit in den Medien kein Thema war. Die Medien selbst waren frauenfeindlich.«

Ein spannendes Buch, das uns daran erinnert, welchen Weg die Gesellschaft innerhalb der letzten 60 Jahre zurückgelegt hat. Vieles hat sich verändert und ist heute kaum mehr vorstellbar. Das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten ist gestiegen. Doch gleichzeitig scheint es, als würden an neuen Stellen die gleichen alten Probleme auftreten.

“Women have two choices: Either she's a feminist or a masochist.”

Veröffentlicht am 29.11.2019

Detailliert und interessant geschriebene Familien- und Zeitgeschichte

Die Mozarts
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Bisher wusste ich wenig über Mozart. Und scheinbar hatte ich mir unbewusst ein nicht ganz zutreffendes Bild gebastelt. Vielleicht geprägt von dem bekannten Porträt auf den Mozartkugeln - ein prominenter ...

Bisher wusste ich wenig über Mozart. Und scheinbar hatte ich mir unbewusst ein nicht ganz zutreffendes Bild gebastelt. Vielleicht geprägt von dem bekannten Porträt auf den Mozartkugeln - ein prominenter Mann in roter Jacke und mit gepuderter Perücke; der Komponist der Oper “Die Zauberflöte”.

Nach der Lektüre der Familienbiografie von Michael Lemster habe ich dieses Bild nicht nur korrigieren und erweitern können, sondern auch viel über die Lebensumstände im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit erfahren. Hätte ich Lemster als Geschichtslehrer gehabt, wäre der Unterricht sicher sehr viel spannender gewesen.

Mozart wurde nur 35 Jahre alt und hat in seinem kurzen Leben über 600 Werke komponiert. Er trat bereits im Alter von sechs Jahren am Hof auf und sprang der Kaiserin Maria Theresia im Schloss Schönbrunn auf den Schoß und herzte sie.

Die Familie Mozart führte vor 250 Jahren ein Leben wie manche der heutigen Künstler. Der Tourbus des 18. Jahrhunderts war die Postkutsche. Statt Instagram ließ man Kupferstiche anfertigen, erstellte davon Drucke und ließ sie zu Werbezwecken verteilen. Und das Alter des “Wunderkindes” Wolfgang wurde von Vater Leopold aus strategischen Gründen etwas niedriger angegeben.

Aber fangen wir ganz vorn an. Lemster erzählt vom ersten Träger des Namens “Motzhart” im 15. Jahrhundert, der vom Land in die reiche Stadt Augsburg zog. Der Autor beschreibt den Aufstieg der Nachfahren von Bauern über Handwerker zum Bildungsbürgertum. Besonders viel Raum gibt er Leopold Mozart und seiner Frau Anna Marie Pertl, dem Sohn Wolfgang und der Tochter “Nannerl” sowie Wolfgangs Ehefrau Constanze Weber und ihren Kindern.

Lemster schildert ausführlich die prekäre Finanzsituation und den täglichen Kampf des Vaters Leopold neue Einkommensquellen aufzutun. Obwohl sie sogar vor der Kaiserin Marie Antoinette in Versailles zur Christmette spielten, galten die Mozarts als fahrendes Volk. Die ausgedehnten Reisen waren kostspielig, unbequem, zeitintensiv und zuweilen gefährlich, der Lohn dagegen nicht immer angemessen.

Was ich fast spannender fand als die Berichte über die Konzerte und Reisen, die Liste der Einnahmen, der Kosten und der Schulden waren die Schilderung der damaligen Lebensumstände: Die schweren, oft tödlichen, Krankheiten wie Pocken, Typhus und Scharlach; die hohe Säuglingssterblichkeit; die Zensur durch die Kirche; die Entwicklung der Städte Augsburg und Salzburg; der Wandel der Zeitalter über die Reformation zur Aufklärung; dem statusbesessenen Rokoko und der dereinst vorherrschenden Moral.

Da der Klappentext eine Biografie der Familie versprach, hoffte ich, auch mehr über das Leben von Frauen in der damaligen Zeit zu erfahren. Leider wurde aufgrund fehlender Quellen wenig über Anna Maria und die Tochter Nannerl berichtet. Erst von Constanze wird ausführlicher erzählt.

Nannerl hatte die gleiche Erziehung genossen wie Wolfgang. Mit elf Jahren stellte man sie zusammen mit dem sechsjährigen Wolfgang als Wunderkind am Hof vor. Doch das Mädchen wurde älter...

»Nannerl wird in einem Monat zwölf. Sie hat das Alter erreicht, in dem ›honette‹ Eltern ihren Töchtern Zurückhaltung und Scham auferlegten. Ihre Rolle ist neben der der Virtuosin die der wachen, aber stummen Beobachterin. Sie notiert das, was ihr besonders auffällt (...).«

Lemster ergänzt seine Erzählungen mit Zitaten aus Briefen sowie Stichen und Gemälden.

Ein spannendes Buch überquellend von Informationen über das Leben und die Geschichte vom 15. bis zum 19. Jahrhundert und eine faszinierende Familie.

Veröffentlicht am 29.11.2019

Detailliert und interessant geschriebene Familien- und Zeitgeschichte

Die Mozarts
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Bisher wusste ich wenig über Mozart. Und scheinbar hatte ich mir unbewusst ein nicht ganz zutreffendes Bild gebastelt. Vielleicht geprägt von dem bekannten Porträt auf den Mozartkugeln - ein prominenter ...

Bisher wusste ich wenig über Mozart. Und scheinbar hatte ich mir unbewusst ein nicht ganz zutreffendes Bild gebastelt. Vielleicht geprägt von dem bekannten Porträt auf den Mozartkugeln - ein prominenter Mann in roter Jacke und mit gepuderter Perücke; der Komponist der Oper “Die Zauberflöte”.

Nach der Lektüre der Familienbiografie von Michael Lemster habe ich dieses Bild nicht nur korrigieren und erweitern können, sondern auch viel über die Lebensumstände im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit erfahren. Hätte ich Lemster als Geschichtslehrer gehabt, wäre der Unterricht sicher sehr viel spannender gewesen.

Mozart wurde nur 35 Jahre alt und hat in seinem kurzen Leben über 600 Werke komponiert. Er trat bereits im Alter von sechs Jahren am Hof auf und sprang der Kaiserin Maria Theresia im Schloss Schönbrunn auf den Schoß und herzte sie.

Die Familie Mozart führte vor 250 Jahren ein Leben wie manche der heutigen Künstler. Der Tourbus des 18. Jahrhunderts war die Postkutsche. Statt Instagram ließ man Kupferstiche anfertigen, erstellte davon Drucke und ließ sie zu Werbezwecken verteilen. Und das Alter des “Wunderkindes” Wolfgang wurde von Vater Leopold aus strategischen Gründen etwas niedriger angegeben.

Aber fangen wir ganz vorn an. Lemster erzählt vom ersten Träger des Namens “Motzhart” im 15. Jahrhundert, der vom Land in die reiche Stadt Augsburg zog. Der Autor beschreibt den Aufstieg der Nachfahren von Bauern über Handwerker zum Bildungsbürgertum. Besonders viel Raum gibt er Leopold Mozart und seiner Frau Anna Marie Pertl, dem Sohn Wolfgang und der Tochter “Nannerl” sowie Wolfgangs Ehefrau Constanze Weber und ihren Kindern.

Lemster schildert ausführlich die prekäre Finanzsituation und den täglichen Kampf des Vaters Leopold neue Einkommensquellen aufzutun. Obwohl sie sogar vor der Kaiserin Marie Antoinette in Versailles zur Christmette spielten, galten die Mozarts als fahrendes Volk. Die ausgedehnten Reisen waren kostspielig, unbequem, zeitintensiv und zuweilen gefährlich, der Lohn dagegen nicht immer angemessen.

Was ich fast spannender fand als die Berichte über die Konzerte und Reisen, die Liste der Einnahmen, der Kosten und der Schulden waren die Schilderung der damaligen Lebensumstände: Die schweren, oft tödlichen, Krankheiten wie Pocken, Typhus und Scharlach; die hohe Säuglingssterblichkeit; die Zensur durch die Kirche; die Entwicklung der Städte Augsburg und Salzburg; der Wandel der Zeitalter über die Reformation zur Aufklärung; dem statusbesessenen Rokoko und der dereinst vorherrschenden Moral.

Da der Klappentext eine Biografie der Familie versprach, hoffte ich, auch mehr über das Leben von Frauen in der damaligen Zeit zu erfahren. Leider wurde aufgrund fehlender Quellen wenig über Anna Maria und die Tochter Nannerl berichtet. Erst von Constanze wird ausführlicher erzählt.

Nannerl hatte die gleiche Erziehung genossen wie Wolfgang. Mit elf Jahren stellte man sie zusammen mit dem sechsjährigen Wolfgang als Wunderkind am Hof vor. Doch das Mädchen wurde älter...

»Nannerl wird in einem Monat zwölf. Sie hat das Alter erreicht, in dem ›honette‹ Eltern ihren Töchtern Zurückhaltung und Scham auferlegten. Ihre Rolle ist neben der der Virtuosin die der wachen, aber stummen Beobachterin. Sie notiert das, was ihr besonders auffällt (...).«

Lemster ergänzt seine Erzählungen mit Zitaten aus Briefen sowie Stichen und Gemälden.

Ein spannendes Buch überquellend von Informationen über das Leben und die Geschichte vom 15. bis zum 19. Jahrhundert und eine faszinierende Familie.

Veröffentlicht am 26.11.2019

Was ist böse, was ist gut? Ein unerwartet vielschichtiger Roman.

Wolf
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Südschwarzwald, 1820 - ein unbekannter, verwilderter Junge taucht im Kloster auf. Als es zu einem Zwischenfall kommt, wird er vom Abt in die Obhut des Steinhauser Bauernhofes gegeben.
Das attraktive Äußere ...

Südschwarzwald, 1820 - ein unbekannter, verwilderter Junge taucht im Kloster auf. Als es zu einem Zwischenfall kommt, wird er vom Abt in die Obhut des Steinhauser Bauernhofes gegeben.
Das attraktive Äußere des heranwachsenden Jungen zieht nicht nur die Familie und die Dorfbewohner schnell in ihren Bann. Doch spiegelt sein Äußeres auch seinen Charakter wieder?

Mehr mag ich gar nicht von der Handlung verraten, denn die Autorin Marie Brunntaler brachte mich dazu, immer wieder neue Vermutungen über die Auflösung anzustellen und sie wieder zu verwerfen. Auch war ich mir nie sicher, wer denn nun der Böse und wer der Gute war.

Gedanklich derart von einer Geschichte gefesselt, war ich zuletzt bei “Terror” von Ferdinand von Schirach. (Ein Pilot schießt ein entführtes Passagierflugzeug ab, um eine noch größere Anzahl von Menschen zu retten.)

Mit jeder neuen Information wandelte sich meine Meinung. Auch von meiner Beschreibung, solltet ihr nicht vorschnell auf die Auflösung schließen!

Besonders gefallen hat mit die Figur des Jungen, der selbst gar nicht viel tat, sondern allein durch seine Anwesenheit in anderen viel auslöste.

Wo kam der Junge her und warum hatte er so gute Kenntnisse der Naturheilkunde?
Und wer war der Lehrer, der plötzlich im Dorf auftauchte?

Ein Roman über Äußerlichkeiten, Sprache, Vorurteile und noch ein paar andere zutiefst menschliche Beweggründe, die ich der Spannung wegen noch nicht verraten möchte.

Wer “Der Name der Rose” mochte, dem könnte auch dieses Buch gefallen.
Ein spannender Roman über moralische Fragen, der zum Nachdenken anregt.
Leseempfehlung!