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Veröffentlicht am 08.06.2020

Vielleicht nicht die spannendste, aber doch eine lohnenswerte Lektüre

Das Netz
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Sonja, Bragi, Agla: drei Personen, deren Leben schicksalhaft miteinander verknüpft werden. Bragi, Zollbeamter am Flughafen von Reykjavik: Seine Frau ist im Pflegeheim, seine Pensionierung steht kurz bevor, ...

Sonja, Bragi, Agla: drei Personen, deren Leben schicksalhaft miteinander verknüpft werden. Bragi, Zollbeamter am Flughafen von Reykjavik: Seine Frau ist im Pflegeheim, seine Pensionierung steht kurz bevor, doch noch mag er den Dienst nicht quittieren, noch will er seinen Platz nicht für einen jüngeren Kollegen räumen. Agla: ehemalige Bankerin. Seit dem Finanzcrash in Island blickt sie zunehmend nervös einer Ermittlung entgegen, die ihre Rolle bei einigen fragwürdigen Deals beleuchtet. Sonja: geschieden und finanziell am Ende. Um das Sorgerecht für ihren Sohn erstreiten zu können, lässt sie sich auf einen gefährlichen Auftrag ein, dem viele weitere, ebenso gefährliche folgen. Bald schon kreuzen sich Sonjas, Bragis und Aglas Wege. Sie haben ihre jeweils eigenen Pläne und Missionen, die sie jedoch zusehends tiefer in ein dichtgewebtes Netz der Kriminalität verstricken, aus dem es scheinbar kein Entkommen gibt.

„Das Netz“ ist der Auftakt einer isländischen Krimitrilogie und wurde vom New York Journal of Books bereits als „Thriller des Jahres“ gefeiert. Wie so oft bei Superlativen würde ich dem nur bedingt zustimmen wollen. Es ist zweifellos ein guter Thriller, der meiner Meinung nach jedoch weniger von seinen überraschenden Wendungen und seiner Spannung, sondern in erster Linie von seinen Figuren und der kühlen Sprache lebt.

Ein Beispiel: Gemeinhin genießen die Protagonisten eines Romans, gleich welchen Genres, das Privileg, sympathisch dargestellt zu werden. Sie sollen den Lesern bzw. Leserinnen oftmals als Identifikationsfigur dienen und so eine größere Anteilnahme an ihrem Schicksal ermöglichen. Lilja Sigurdardottir unterläuft diesen Mainstream auf höchst gekonnte Weise. Nein, Sonja ist keine reine Sympathieträgerin, zumindest habe ich sie nicht als solche empfunden. Ihre Motive mögen lauter sein, ihr Ziel, nach der schmutzigen Scheidung das Sorgerecht für den geliebten Sohn von ihrem schmierigen, niederträchtigen Ehemann zurückzuerlangen, ebenso. Selbst den Weg, den sie dazu einschlägt, mag man noch irgendwie gutheißen – was tut eine verzweifelte Mutter nicht alles, um ihr Kind bei sich zu haben? Aber macht sie das zum vom Schicksal gebeutelten, tief im Inneren unschuldigen Opfer widriger Umstände, dem man alles, alles Gute wünscht? Nein, eigentlich nicht. Denn dazu ist Sonja letzten Endes zu kaltblütig, zu kaltherzig, zu kaltschnäuzig. Und genau das ist das Faszinierende und Erfrischende an dieser literarischen Figur!

Der zweite große Pluspunkt dieses Thrillers ist seine Sprache (aus dem Isländischen von Anika Wolff): Sezierend, distanziert und schnörkellos erzählt die Autorin, wie Sonja sich immer tiefer in einen kriminellen Sumpf strampelt, wie Bragi bereitwillig sein Berufsethos über Bord wirft, wie Agla zusehends den Halt verliert. Ich habe während der Lektüre förmlich gefröstelt, so kühl werden die zunehmenden Verstrickungen und Gefahren, die Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen geschildert. Allein das ist ein Leseerlebnis auf hohem Niveau.

Fazit: Eine lohnenswerte Lektüre für Island-Fans, SprachästhetInnen und LeserInnen, die wenig sympathische Figuren zu schätzen wissen.

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Veröffentlicht am 08.06.2020

Netter Schmöker nach bewährtem Muster

Die verlorene Frau
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1960. Es ist eine stürmische Nacht, in der die Eltern der damals 13-jährigen Rebecca in dem malerischen, am Meer gelegenen Cottage „Seaview“ gewaltsam ums Leben kommen. Wie viel hat das zutiefst verstörte ...

1960. Es ist eine stürmische Nacht, in der die Eltern der damals 13-jährigen Rebecca in dem malerischen, am Meer gelegenen Cottage „Seaview“ gewaltsam ums Leben kommen. Wie viel hat das zutiefst verstörte Mädchen mitbekommen? Und wer war der geheimnisvolle Besucher, der kurz zuvor an die Tür geklopft hat? Gibt es ihn überhaupt?
2014. Unmittelbar nach der Entbindung verschwindet Jessie mit ihrem Neugeborenen aus der Klinik in die eisige Novermberkälte. Die junge Frau befindet sich in einer seelischen Ausnahmesituation, das Baby braucht dringend medizinische Hilfe. Jede Sekunde zählt.
Jessies Halbschwester, die Journalistin Iris, macht es sich zur Aufgabe, Mutter und Kind zu finden. Doch dazu ist sie auf die Hilfe ihrer gemeinsamen Mutter angewiesen: Rebecca. Sie ist die Einzige, die weiß, was in jener schicksalhaften Nacht vor über fünfzig Jahren wirklich geschehen ist. Und sie ist die Einzige, die wertvolle Hinweise auf den möglichen Verbleib ihrer älteren Tochter und des Enkelkindes geben kann. Doch dazu muss sie ihr jahrzehntelanges Schweigen brechen.

Emily Gunnis‘ Roman „Die verlorene Frau“ (Deutsch von Carola Fischer) wird, wie schon ihr vorheriger Roman „Das Haus der Verlassenen“, auf verschiedenen Zeitebenen erzählt. Und das macht den Einstieg in die Geschichte etwas schwer, denn auch innerhalb der unterschiedlichen Zeitebenen werden Zeitsprünge vollführt. Auch die damit einhergehende Vielzahl an Figuren erschwert es, der Handlung von Anfang an zu folgen. Allerdings gibt sich das Problem mit fortschreitender Lektüre, nach den ersten Kapiteln findet man sich in den Handlungssträngen gut zurecht. Das ist jedoch nicht das Einzige, was die beiden Romane der Autorin miteinander verbindet. Hier wie dort steht eine junge Journalistin im Fokus, die eine lange zurückliegende tragische Familiengeschichte aufdecken muss, um die Ereignisse der Gegenwart zu begreifen. Des ungeachtet ist „Die verlorene Frau“ ein Schmöker, der insbesondere ab der zweiten Hälfte zu fesseln vermag und angenehme Lesestunden beschert. Allerdings würde ich empfehlen, die Romane nicht in kurzer Zeit aufeinanderfolgend zu lesen, dafür ähneln sie sich in ihrem Aufbau und der Figurenzeichnung dann doch zu sehr.

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Veröffentlicht am 05.05.2020

Nicht ganz, was ich erwartete

Erlöst
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„‚Ich bin in einem Kult aufgewachsen‘, sagte ich. […] Wir trugen Kopftücher. […] Wir durften uns das Haar nicht schneiden. Fernsehen, Zeitungen, Radio, Kino, Ferien, Haustiere, Armbanduhren, das alles ...

„‚Ich bin in einem Kult aufgewachsen‘, sagte ich. […] Wir trugen Kopftücher. […] Wir durften uns das Haar nicht schneiden. Fernsehen, Zeitungen, Radio, Kino, Ferien, Haustiere, Armbanduhren, das alles war verboten.‘“ (S. 24)

Rebecca Stott hat ihre Kindheit und Jugend bei den „Plymouth Brethren“, einer fundamentalistischen christlichen Sekte, der ihre Familie seit Generationen angehört, in Brighton verbracht. Während ihre Altersgenossen die freiheitsliebenden, bunten Sechziger und Siebzigerjahre genossen, war ihr Leben geprägt von strengen Regeln und drakonischen Strafen, von wortführenden, bestimmenden Männern und kuschenden, devoten Frauen. Ihre im Titel genannte „Erlösung“ hat sie ihrem Vater zu verdanken, der der Sekte schließlich den Rücken kehrte und seinen Kindern damit einen Weg in die Normalität ermöglichte. Auf dem Sterbebett bittet er seine Tochter, ihm bei seinen Memoiren zu helfen, um die Geschichte ihrer Familie, die mit der Geschichte der Sekte auf das Engste verbunden ist, festzuhalten.

Ich muss gestehen, dass „Erlöst“ mich nicht so gefesselt hat, wie ich es erwartet hatte. Ich vermutete eine Lebensgeschichte, die Deborah Feldmans „Unorthodox“ ähnelt – doch das ist sie nicht. Rebecca Stott beschreibt ausführlich die Geschichte der Sekte von ihren Anfängen bis zu ihren heutigen Ausprägungen. Und es ist zweifellos wichtig, die Charakteristika dieser Glaubensgemeinschaft ausführlicher zu beleuchten, da sie den wenigsten Leser*innen geläufig sein dürften. Diese chronikartige Abhandlung verquickt sie mit der generationenübergreifenden Geschichte ihrer Familie, ihren eigenen Lebenserfahrungen in der Bruderschaft sowie der Entstehungsgeschichte des Buches. Damit erschafft sie ein umfassendes und zugleich persönliches Panorama – das mich indes gerade aufgrund dieser vielen Facetten, die einander thematisch abwechseln, leider nicht wie erhofft berühren konnte.

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Veröffentlicht am 05.05.2020

Fesselnd und mit einer verblüffenden Auflösung, sprachlich leider nicht ganz überzeugend

In den Fängen des Waldes
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Nein, er hat sich nicht einfach abgesetzt. Auch wenn die Tragödie, die die Familie heimgesucht hat, ein plausibles Motiv ergäbe. Nein, das hätte er nie getan, das hätte er ihr nie angetan. Und schon gar ...

Nein, er hat sich nicht einfach abgesetzt. Auch wenn die Tragödie, die die Familie heimgesucht hat, ein plausibles Motiv ergäbe. Nein, das hätte er nie getan, das hätte er ihr nie angetan. Und schon gar nicht hätte er die gemeinsame kleine Tochter mitgenommen. Ella ist fest überzeugt: Wochenendtrip, den ihr Mann vor einigen Wochen in die undurchdringlichen Wälder Eschheims in Begleitung der kleinen Tochter unternommen hat und von dem beide nicht zurückkehrten, hat ein furchtbares Ende genommen. Auch wenn der Kommissar mit dem gegelten Haar keinerlei Anhaltspunkte für ein Verbrechen findet und Ella mit schwindender Geduld zu beruhigen versucht. Ella macht sich selbst auf den Weg, um auf eigene Faust nach ihrem Mann und ihrer Tochter zu suchen – die nicht die ersten sind, die in den Wäldern spurlos verschwunden sind. Was ist mit der merkwürdigen Kommune, die weltabgeschieden im Wald haust und deren Mitglieder kaum jemand sieht? Könnten sie etwas mit dem Verschwinden ihrer Familie zu tun haben? Und was hat es überhaupt mit diesen Wäldern auf sich, in denen es zu spuken scheint? Schnell hat Ella einen Verdächtigen ausgemacht. Hat sie mit ihrer Vermutung recht? Ist ein Verbrechen geschehen? Und wie könnte sie ihre Vermutung beweisen? Ella erhält Hilfe von unerwarteter Seite – und bringt sich selbst in Gefahr …

„In den Fängen des Waldes“ ist zweifellos ein gelungener Thriller: spannend, lange Zeit undurchsichtig und ein bisschen gruselig. Die sich nach und nach enthüllende zugrundeliegende Geschichte ist überaus originell und bildet eine frische und neue Abwechslung zu den üblichen Thriller-Strickmustern.

Was mich allerdings gestört hat, ist die Sprache. Nein, ein Thriller muss nicht pulitzerpreisverdächtig geschrieben sein. Er soll in erster Linie spannend und unterhaltsam erzählen. Doch die zahlreichen – und bisweilen etwas verrutschten – Sprachbilder, Metaphern und Vergleiche riefen bei mir das eine oder andere unwillige Stirnrunzeln hervor. Da trifft eine Erkenntnis die Protagonistin „wie eine Tracht Prügel in die Magengrube“, in ihrem Kopf „wirbeln Schmerzen und Schwindelgefühle herum wie Wäsche in einer Waschmaschine“, Horrorszenarien „sausen wie Papierflieger“ durch ihren Kopf, jemand „summt ein Lied, so düster wie die schwarzen Tasten am Klavier“. Dazu kommt eine streckenweise recht eigenwillige Kommasetzung und der eine oder andere Schreibfehler. Das ist ausgesprochen schade, denn es hat meinen Lesegenuss doch ein wenig getrübt – und wäre gleichzeitig mit einem etwas sorgfältigeren Lektorat zu vermeiden gewesen. Wer sich indes, anders als ich, an solchen Feinheiten nicht stört, großzügig über sie hinwegliest oder sie nicht bemerkt, wird mit einer ausgesprochen fesselnden Geschichte und einer verblüffenden Auflösung belohnt.

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Veröffentlicht am 19.03.2020

Leichte Unterhaltung nach bewährtem Rezept

Die Kleider der Frauen
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Paris, 1940: Die 22jährige Estella arbeitet gemeinsam mit ihrer Mutter als Schneiderin für die großen Modeschöpfer. Nebenbei verdient sie sich ein wenig Geld dazu, indem sie heimlich die neuesten Modelle ...

Paris, 1940: Die 22jährige Estella arbeitet gemeinsam mit ihrer Mutter als Schneiderin für die großen Modeschöpfer. Nebenbei verdient sie sich ein wenig Geld dazu, indem sie heimlich die neuesten Modelle kopiert und ihre Skizzen an amerikanische Modehäuser verkauft. Doch viel lieber würde Estella selbst designen, sie hat Talent und ein schier unerschöpfliches kreatives Potenzial. Kurz bevor die Wehrmacht in Paris einmarschiert, gerät Estella unbeabsichtigt in eine Aktion der Résistance – und muss aus Paris fliehen. Von ihrer Mutter erfährt sie erst jetzt, dass ihr Vater Amerikaner war, und so reist Estella nach New York. Sie hofft, sich dort ihren großen Traum vom eigenen Modehaus erfüllen zu können.

New York, 2015: Estella ist mittlerweile weit über neunzig. Ihre Enkelin Fabienne, die zu ihrer Großmutter ein sehr enges, liebevolles Verhältnis hat, plagt nicht nur die Sorgen um Estellas zusehends schwächere Konstitution, sondern überdies die Trauer um ihren kürzlich verstorbenen Vater. Beim Sichten seiner Unterlagen stößt Fabienne auf seine Geburtsurkunde – und die wirft einige Fragen zu seiner und damit auch ihrer Herkunft auf. Fabienne möchte Antworten von ihrer Großmutter, doch die fordert eine Gegenleistung: Ihre schüchterne Enkelin soll nach Estellas Tod ihre Modemarke weiterführen …

„Die Kleider der Frauen“ ist ein Roman, wie er derzeit zuhauf zu finden ist: Ein oder mehrere schöne Schauplätze, mindestens ein Handlungsstrang, der in der Vergangenheit spielt, ein Familienimperium, das weitergeführt werden muss, ein Familiengeheimnis, das gelüftet werden will – dazu die unverzichtbare Liebesgeschichte (selbstredend mit einem gutaussehenden Unbekannten) und eine Menge glücklicher Zufälle (so schließt Estella auf dem Schiff, das sie nach Amerika bringt, Freundschaft mit einem jungen Mann, der – ach, was? – in New York in der Modebranche arbeitet).

All das ist nicht neu und, um ehrlich zu sein, auch nicht allzu originell – doch alles in allem bietet „Die Kleider der Frauen“ eine, wenngleich nicht allzu anspruchsvolle, so doch durchaus unterhaltsame Lektüre: ein perfektes Buch zum „Wegschmökern“ – nicht mehr … aber auch nicht weniger.

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