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Veröffentlicht am 29.03.2020

Ein einfach schönes All-Age-Buch über lebenslange Freundschaft

Bell und Harry
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Die Teesdales sind Farmer in einer Gegend, die ihren Namen von Jahren des Bergbaus unter Tage herleitet, von den Minen, die die Region zerlöchert haben wie einen Schweizer Käse: dem „Hohlen Land“, so auch ...

Die Teesdales sind Farmer in einer Gegend, die ihren Namen von Jahren des Bergbaus unter Tage herleitet, von den Minen, die die Region zerlöchert haben wie einen Schweizer Käse: dem „Hohlen Land“, so auch der Originaltitel, „The Hollow Land“, dieses ursprünglich aus dem Jahre 1981 stammenden Buches. Grandad Hewitson vermietet sein altes Haus, „Light Trees“, an Familie Bateman aus dem fernen London, „Freizeitfarmer“, die nicht viel vom Landleben verstehen und deren Lebensstil umgekehrt auch nicht verstanden wird. Wie kann jemand permanent alle Radios am Laufen haben, sich dann aber beschweren darüber, dass nun einmal das Heu dringend vor dem Regen gemacht werden muss?

Fast kommt es darüber zum Zerwürfnis und der Abreise der Batemans, doch die beiden jüngsten Söhne beider Familien, der 8jährige Bell und der jüngere Harry, greifen zu einer List. Die Geschichte begleitet die Jungs beim Heranwachsen in ihren Familien, erzählt von ihren Streichen und den skurrilen Dorfbewohnern. So gelingt es den Batemans nicht, den Schornsteinfeger und Fischer Kendal höflich hinauszukomplimentieren: „Sie wollen doch sicher nach Hause zu ihrer Frau?“ „Ach nein, sie kennt mich ja.“

Irgendwann sind Bell und Harry erwachsen und immer noch befreundet und weiter kommt Harry in den Ferien nach „Light Trees“. Doch die Idylle ist bedroht.

Das kleine feine Buch hat einen Preis gewonnen, als es erschienen war, den „Whitbread Children's Novel prize“, und es ließe sich sicherlich auch von Kindern wunderbar lesen, ist aber vor allem ein herrliches All-Age-Buch. Die hübschen Wiederholungen, wie brav Harry ist beispielsweise, kennt jedes Kind, aber sie lassen auch jeden Erwachsenen schmunzeln. Die besonderen Nachbarn haben mich in ihren Bann gezogen; wunderbar, wie eine untergegangene Welt vor meinem geistigen Auge entstand. Die Erzählung endet 1999, also achtzehn Jahre nach ihrem Erscheinen, in die Zukunft gedacht. Hier liegt vielleicht ihr einziges Manko, in einer imaginierten Zukunft, die so nicht kam, und die dadurch ein wenig befremdete.

Ungeachtet dessen: einfach schön. 5 Sterne.

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Veröffentlicht am 25.03.2020

Unbequem. Erhellend. Mir "fehlen" Erfahrungen des Rassismus

Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche
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O: Why I’m No Longer Talking To White People About Race
Ich bin eine weiße Frau. Ich habe noch nie Diskriminierung aufgrund meiner Hautfarbe erfahren, auch nicht von Personen mit einer anderen Hautfarbe. ...

O: Why I’m No Longer Talking To White People About Race
Ich bin eine weiße Frau. Ich habe noch nie Diskriminierung aufgrund meiner Hautfarbe erfahren, auch nicht von Personen mit einer anderen Hautfarbe. Vor der Lektüre dieses Buches habe ich darüber nie nachgedacht, es war für mich „normal“. Mit anderen Worten: ich hatte mein Weiß-Sein zur Norm erklärt. Reni Eddo-Lodge erläutert diese Haltung als Bestandteil von „White Privilege, als definiert durch die Abwesenheit der negativen Folgen von Rassismus. Ich hatte vorher zwar natürlich die Einstellung, dass Rassismus schlimm und verachtenswert sei – aber irgendwie nicht mein Problem, außer, wenn ich direkt Zeuge offensichtlicher Handlungen oder Aussagen bin. Dieses Buch hat mich sehr zum Nachdenken herausgefordert.

In sieben Kapiteln, dazu Vor- und Nachwort, erklärt die Autorin die wichtigsten Grundlagen, beginnend mit einem Kapitel über Geschichte. Es ist die britische Geschichte, hier hätte ich mir Ergänzungen zu Deutschland gewünscht – hier gab es keinen Commonwealth, keine derart weitreichende Beteiligung an der Sklaverei (ich suche seither manisch nach einer TV-Dokumentation darüber, wie sehr Großbritannien an der Sklaverei verdiente, die ich vor 1-2 Jahren sah; Tipps willkommen). Die Mechanismen sind dennoch übertragbar, zum Beispiel die genannten Untersuchungen über Bewerbungen, bei denen bei gleicher Qualifikation ein britisch, „weiß klingender“, Name den Job verspricht, jedoch ein „schwarzer Name“ eine Absage; ähnliche Studien gab es hier in Bezug auf türkische Namen. Da reden dann allerdings wir nicht über die Hautfarbe.

Einleuchtend, erhellend, entlarvend fand ich die Kapitel über „White Privilege“, über den strukturellen Rassismus, der dafür sorgt, dass von Beginn an für Weiße leichter ist, Erfolg zu haben, gute Jobs zu bekommen, auf die richtigen Schulen und Universitäten zu gelangen. Wieder, wie bei meiner Einschränkung für Deutschland zu türkischen Namen, fallen mir hier entsprechende Studien ein, in denen auch die Kinder von Arbeitern signifikant benachteiligt wurden. Ungefähr zwischen dieser Stelle (das Thema mit der Hautfarbe und der sozialen Klasse wird später von der Autorin selbst noch aufgegriffen) und dem Feminismusthema konnte ich der Autorin nicht mehr bei allen Argumentationen folgen.

Die Autorin definiert sich sowohl über ihre Haltung und ihren Kampf gegen Rassismus als auch als Feministin. Wenn nun Männer Vorteile haben gegenüber Frauen und Weiße gegenüber allen anderen, ergibt sich, dass schwarze Frauen in der schlechtesten Position sind. Werden dann noch weitere Faktoren hinzugefügt wie alleinerziehend, schlecht ausgebildet usw., verstärkt sich das Bild und, ja, einige der Faktoren bedingen einander (im Sinne von „wer alleinerziehend ist und Schwarz, bekomt eher eine schleche Ausbildung, wer eine schlechte Ausbildung hat, wird eher mehr diskriminiert usw). Ich habe zu Beginn bekannt, nie aufgrund meiner Hautfarbe Diskriminierung erfahren zu haben – bei Sexismus sieht es leider ganz anders aus, von blöden Sprüchen, Anzüglichkeiten, bis zu einer Welle von Entlassungen, die ausschließlich Frauen im „gebärfähigen“ Alter bei einem früheren Arbeitgeber betraf. Letztens habe ich hierzu den Kommentar gelesen, daran werde sich erst wirklich etwas ändern, wenn Männer dafür zu kämpfen beginnen. Ja, hier finden die Aussagen von Eddo-Lodge Eingang in meine Wirklichkeit; es funktioniert nicht, von denen, die von welcher Art der Benachteiligung auch immer betroffenen sind, zu verlangen, daran allein und durch ihre Leistung etwas zu ändern.

An dieser Stelle treffen die Ausführungen auf Analogien im Leben von Frauen, aber auch bespielsweise von Migranten, Behinderten, Alten,… - die Autorin hat es hier geschafft, mich zumindest kurz und teilweise in die Haut anderer zu versetzen, verbaut dann aber gleichzeitig diese Tür, indem sie einen Dreiklang erzeugt aus Frau-farbig-Arbeiterklasse, der die vorrangige Aufmerksamkeit verdiene. Das sie natürlich aus ihrer Sicht schreibt, ist gut und richtig und wichtig, auch ihr Zorn darüber, sich nicht dauernd erklären zu müssen, ist nachvollziehbar, für mich jedoch nicht diese Feminismusdebatte im Thema. Ja, ich kann nur die Benachteiligungen als Frau persönlich nachvollziehen, nicht die wegen der Hautfarbe – anscheinend darf ich aber mein eigenes Thema nicht erwähnen und muss angesichts der größeren Benachteiligung gar verstummen. Hm. Schwierig finde auch ich eine Verknüpfung mit Migration, für mich hat eine Begrenzung oder Öffnung der Zuwanderung an sich nichts mit Rassismus zu tun, es wandern ja auch bei weitem nicht nur Menschen einer bestimmten Hautfarbe ein, erst der Umgang mit Menschen an sich, Migrant oder nicht, legt unabhängig von anderen Themen fest, ob das Rassismus ist.

Ich bin weiß, Deutsche mit deutschen Eltern und Großeltern und Urgroßeltern und lebe als Zugezogene seit über zehn Jahren in einem kleinen deutschen Ort; man kann es mir anhören, dass ich hier nicht geboren wurde. Seit über zehn Jahren höre ich Fragen, woher ich den „eigentlich“ komme, warum ich hier „gelandet“ bin, womit ich so meinen Lebensunterhalt verdiene. Wenn diese Fragen auch Personen mit einer anderen Hautfarbe gestellt werden, mag ich allein hierin noch keinen Rassismus sehen, vielmehr das Bedürfnis der Menschen nach Zugehörigkeit und Zuordnung. Wer nachfragt, spricht mit den Menschen. Soll heißen: nicht alles ist Rassismus.

Ungeachtet dessen hat mich das Buch überzeugt damit, mir die Augen geöffnet zu haben für Dinge, die mir selbstverständlich erschienen aus weißer Perspektive. So wie ich als Kind sein wollte wie „George“ bei den Fünf Freunden, weil Mädchenfiguren in Büchern zu brav und langweilig waren, nie bestimmen durften, so wollte Reni Eddo-Lodge als Vierjährige weiß sein, so konnten sich viel zu viele die Hermine bei Harry Potter nur als weißes Mädchen vorstellen. Diese Angst wird die Angst vor dem „schwarzen Planeten“ genannt, die Angst der Weißen, selbst in der Minderheit zu sein. Warum denn, wenn doch alles in Ordnung ist?

„Es heißt, die Homophobie des heterosexuellen Mannes wurzelt in der Angst, dass schwule Männer ihn so behandeln könnten, wie er Frauen behandelt. Es ist der gleiche Mechanismus.“
Da bleibt noch viel Arbeit.

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Veröffentlicht am 11.03.2020

May God Have Mercy on Your Soul

Der letzte Pilger
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May god have mercy on your soul, sei Gott deiner Seele gnädig, mit diesem Satz wird die junge Agnes während des Zweiten Weltkriegs von Großbritannien aus auf eine Mission nach Norwegen geschickt. Das Land ...

May god have mercy on your soul, sei Gott deiner Seele gnädig, mit diesem Satz wird die junge Agnes während des Zweiten Weltkriegs von Großbritannien aus auf eine Mission nach Norwegen geschickt. Das Land ist von den Deutschen besetzt und sie arbeitet im Widerstand. Agnes' verstorbener Vater war Norweger, die wiederverheiratete Mutter ist Engländerin, begeistert von Hitler wie Schwester und Stiefvater, zu Agnes' Entsetzen. Die junge Frau ist mit diesem Familienhintergrund prädestiniert für einen Einsatz als Spionin, soll sich mit Männern einlassen, um Informationen zu liefern, doch wünscht sich bald wichtigere Aufgaben. Mit dem Unternehmer Gustav Lande lernt sie einen wichtigen Partner der Deutschen und dessen kleine Tochter kennen. Als sich der Witwer mit ihr verlobt, obwohl Agnes heimlich einen anderen liebt, steckt sie bald tiefer in einem gefährlichen Spiel, als sie sich je vorstellen konnte. 2003 wird ebenfalls in Norwegen ein grausamer Fund gemacht. Die drei Leichen liegen seit Jahren dort, zwei Erwachsene und ein kleines Mädchen. Eine Leiche hat auf einem Ringe eine Widmung mit dem Namen Gustav. Der Osloer Polizist Tommy Bergmann wird indessen zu einem aktuellen Mord geschickt. Carl Oscar Krug war ein bekannter Widerstandskämpfer und Unternehmer und wurde jetzt grausam ermordet mit einem Hitlerjugend-Messer. Tommy beginnt, Verbindungen zu sehen und verbeisst sich in den Fall.

Ich bin gerade sehr begeistert vom Ende des Krimis, von den völlig unerwarteten Wendungen, mit denen ich so nie gerechnet hätte. Ab einem bestimmten Punkt hatte ich eine Ahnung vom Fortschritt der Handlung und lag doch völlig daneben. Häufig liegt es bei Spannungsliteratur so, dass ich das Gefühl einer künstlich aufgebauten Spannung habe, im Sinne von "Wenn jetzt diese eine Person zur Abwechslung die Wahrheit sagte, könnte man sich das ganze Buch sparen - laaaangweilig". Hier jedoch ist die gesamte Handlung sehr komplex. Zuerst sah ich den Zusammenhang zwischen dem alten und dem neuen Mord nicht, dann gab es einen Zusammenhang, aber keine sinnvolle Erklärung. Dann hatte ich einen Mordverdächtigen, aber das Motiv passte mit der Tat nicht zusammen. Das ist so clever gemacht und so sinnvoll eingebettet in die reale Situation während der Besatzungszeit, dass der Autor wirklich großes Lob verdient.

Ich mag Krimis mit historischen Komponenten und hatte wirklich ganz durch Zufall kurz zuvor von Jo Nesbø "Rotkehlchen" gelesen mit einem ganz ähnlichen Plot, auch Norwegen, eine neuer und alter Fall, die durch eine Tat aus der Zeit von Besatzung und Widerstand miteinander verbunden sind. Nesbøs Roman ist eine Gangart härter (beim Pilger ist die Beschreibung des aktuellen Mordes die brutalste Situation am ganzen Buch - mit dem Messer gemetzelt und mit ausgestochenen Augen, schlimmer wird es später nicht; die Spannung speist sich stark aus den Ängsten Agnes'), dafür finde ich das Buch von Sveen deutlich logischer, realistischer hinsichtlich von Tat und Tatmotivation. Empfehlen kann ich beide. Bemerkenswert am "Pilger" war für mich, dass sich die Wechsel zwischen den Zeitebenen für mich gut anfühlten, üblicherweise ist mir so etwas zu künstlich voller Cliffhanger oder ich mag eine Ebene deutlich lieber oder man erzählt mir alles zu langsam. Hier ist das so mysteriös, das hat mich immer weiter getrieben.

Womit ich ein Problem hatte, war zu einem gewissen Zeitpunkt der Ermittler. Endlich einmal wieder kein "beschädigter" Typus - dachte ich. Ich fing an, den rauchenden Einzelgänger zu mögen, der sich vorsichtig in die Mutter von einem der Mädchen aus der Kindermannschaft, die er trainiert, zu verlieben beginnt - bis ich hören durfte, woran seine vorige Beziehung gescheitert war. Tommy hatte seine frühere Lebensgefährtin geschlagen, Besserung gelobt, es wieder getan. Uff. Das ist jetzt nicht so wirklich eine Identifikationsfigur und hätte beinahe zum Abbruch gehört, was schade gewesen wäre. Dennoch frage ich mich ernsthaft, welcher Autor sich gerade so etwas antut?? Und den Lesern?

Ich habe den Krimi gehört gelesen von Detlef Bierstedt und bin von seinem Vortrag begeistert, die nuancierte Sprechweise mit sinnvollen Pausen half beim Verständnis des recht komplexen Texts, definitiv aber kein Hörbuch für nebenbei - seitdem jäte ich gerne Unkraut mit Hörbuch.

5 Sterne und direkt Griff zu einem der Folgebände, der schon kurz vorher hier lag, bis ich von den Vorgängern erfuhr.

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Veröffentlicht am 05.02.2020

Sprachlich brilliantes + absolut nicht rosarotes Buch über eine Schwangerschaft

Jesolo
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Gelegentlich darf man von einem Buch den Klappentext lesen, so bei diesem. Es steht genau das darin, was passiert, nicht mehr, nicht weniger. Aber wie es dann im Buch steht, das ist die Kunst.

Urlaub ...

Gelegentlich darf man von einem Buch den Klappentext lesen, so bei diesem. Es steht genau das darin, was passiert, nicht mehr, nicht weniger. Aber wie es dann im Buch steht, das ist die Kunst.

Urlaub in Jesolo. Sie liest Dostojewski, er heißt Georg 35, und es ist o.k., auch wenn es letztes Jahr besser war. Seit Weihnachten trägt sie seinen Ring, aber es ist kein Verlobungsring, darauf wird Wert gelegt. Er will, dass sie zu ihm zieht. Sie hat das Gefühl, dass man sich zu gut kennt. „Jetzt bist du in die Speisekarte vertieft. Du wirst ein großes Bier und eine Diavola bestellen, wie immer. Zuerst musst du dir aber die gesamte Karte ansehen und minutenlang überlegen, was du nehmen könntest. … Ich würde dir gerne sagen, dass es nicht darum geht, ein Theater zu machen oder nicht, sondern darum, dass wir stundenlang laufen müssen, obwohl gleich neben dem Hotel ein Restaurant wäre, das genauso nett und genauso gut wie dieses hier ist. Aber ich sage es nicht, weil ich mir einen schönen Abend mit dir wünsche.“

Autorin Tanja Raich hat es auf den ersten Seiten geschafft, dass ich mich ertappt fühlt, wenn auch in meinem Leben mit etwas geteilten Rollen. Diese Dialoge sind so herrlich aus dem Leben. Überhaupt, sprachlich ist das klasse, ich liebe besonders diese Listen, mit dem Wirbel und Kopfkino oder Aussagen, die da auf die Hauptfigur hereinprasseln: „Ihre Fragen steuern zuerst zaghaft, dann immer bestimmter auf uns zu. Seit wann. Warum erfahren wir das erst jetzt. Ist es gesund. Ist es ein Mädchen. Man sieht ja noch gar nichts. Wann ist der nächste Kontrolltermin. Wer ist dein Frauenarzt. Wann zieht ihr ein. Wann renovieren wir. Wann gehst du in Mutterschutz. Wie lange bleibst du zu Hause. Wann kaufen wir die Einrichtung. Wohin soll das Kinderzimmer. Braucht ihr ein zweites Auto. Habt ihr schon einen Namen. Warum isst du so wenig.“

Aus der kleinen Reibung wird nach der Heimkehr ein großer Streit. Sie will mit ihm reden, er ist nicht da. Danach entdeckt sie, schwanger zu sein. Sie hadert, lange, erzählt ihm erst nichts, dann reden sie doch und sind wieder ein Paar, glücklich wie lange nicht. Bald jedoch beginnt, ja was? Der Alltag? Die Umsetzung von Georgs Wünschen? Die Einordnung von Andi in die Realität – oder die Selbstaufgabe, oder von beidem etwas?

Ich war sehr angetan von diesem Buch, das einmal nicht alles rosarot darstellt oder alternativ als Glück unterbrochen von einem kleinen Drama, das mal so eben gelöst wird, oder als Drama, das zwingend zum Glück führt. Die Ich-Erzählerin hadert lange und immer wieder, mit der Beziehung, mit der Schwangerschaft, mit dem, was danach kommen soll. Währenddessen erzählen ihr wirklich alle, dass Kinder immer nur ein großes Glück sind. Kein Platz für Wochenbettdepressionen oder einfach andere Lebenskonzepte, nicht einmal für geteilte Elternzeit. Dass die Frau Andi heißt, Andrea, erfährt man erst sehr spät. Ich denke, dass passt, für mich verschwand sie irgendwann als eigenständige Persönlichkeit.

Sie hatte nie vor, bei den Schwiegereltern zu wohnen, nie vor, so zu werden. Doch es kommt anders. Georg übernimmt den Hausbau mit seinem Vater, die Schwiegermutter plant, welche Möbel in der Wohnung stehen sollen, das Geld kommt von den Schwiegereltern und einem plötzlich viel höheren Kredit als je geplant. Und bei der Heimkehr von der Arbeit putzt Schwiegermama im Bad, ist ja alles gut gemeint (also gut gemeint als Gegenteil zu gut?). Und sie wird doch natürlich ein paar Jahre daheim bleiben, das ist gut für die Kinder. Kinder? Noch ist sie schwanger mit dem ersten.

Früh kommt bei mir Beklemmung auf. Was bilden die Menschen sich ein mit ihren Einmischungen? Da gibt es Tipps zu allem möglichen, jeder weiß es besser. Das ist leider sehr realistisch. Ab irgendeinem Zeitpunkt mutiert mir das ganze aber zu sehr zu einer Art „Stepford Wives“. Nie setzt sich Andi für sich selbst ein. Als die Frau von Georgs Bruder „endlich“ schwanger ist, erteilt Andi die Ratschläge. Und was kommt nach dem Ende des Buchs? Wird sie so wirklich dauerhaft glücklich sein? Ja, es gibt ausreichend Menschen, die das genau so wollen. Die wollten das aber meist schon vorher. Welchen Freiraum gibt es für sie? Für mich hinterlässt das Ende ein ungutes Gefühl, ich bin mir nicht sicher, ob das zum Buch passt oder gerade nicht.
5 Sterne.

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Veröffentlicht am 04.02.2020

Ich hätte ewig weiterlesen wollen

Hundesohn
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Wow. Warnung: wenige Besprechungen lesen, hier darf nichts vorab verraten werden.

Was für ein Buch. Ich hatte mit nichts gerechnet und alles bekommen. Diese Sprache, diese Bildhaftigkeit, diese Figuren, ...

Wow. Warnung: wenige Besprechungen lesen, hier darf nichts vorab verraten werden.

Was für ein Buch. Ich hatte mit nichts gerechnet und alles bekommen. Diese Sprache, diese Bildhaftigkeit, diese Figuren, die Handlung, die Wendungen.

„Über dem Hafen hing der Nebel. Er schluckte die Kräne in der Ferne, vielleicht hatte es sie auch nie gegeben, er verschluckte Hawks Schritte, schluckte das Echo, kühlte alles aus. Die Lichtkegel der Laternen kämpften sich durchs milchige Grau. Hier konnte einer abhauen und wiederkommen, dem Hafen war’s egal, und wenn du krepierst, macht das auch keinen Unteschied, dann komen andere und torkeln über das glattgestoßene Kopfsteinpflaster, die Ritzen voll mit Kronkorken, Kippen und vermasselten Leben.“

Herbert Hawk war aufgebrochen aus so einem vermasselten Leben nach Hamburg, um später von dort zu flüchten. Doch als sein geliebter Alfa Romeo abgefackelt wird und er später eine Streichholzschachtel findet, die ihn an die Vergangenheit erinnert, weiß er, er muss zurück. Jemand will ihn fertig machen.

Dieses feine Stück Literatur schrammt haarscharf an der Grenze zur Spannungsliteratur und ist gleichzeitig Milieustudie wie ein Stück Zeitgeschichte. Es berichtet über die Zeit der Nachkriegsjahre, von Vätern, die den Drill nie hinter sich gelassen hatten, von Hoffnungen und falschen Idealen und richtigen Lieben. Es ist die Welt, in der man sagt: „Ich bin die Treppe heruntergefallen“, es ist die Welt der Schausteller, Seeleute, der Schaubuden, kleinen Leute und großen Dealer. „Wenn nichts Hartes da war, schnüffelte sie Lackverdünner. Sie hätte auch in die Steckdose gefasst, um auf Törn zu gehen, sie war die offene Wunde und schrie nach dem Salz.“

Und dann der Erzählstil. Es fängt an im Jetzt des Jahres 1989, dann geht es in Zeitblenden zurück, bis die Geschichte auch für Hawk rund wird. Wunderbar.

Ich hätte ewig weiterlesen mögen. 5 Sterne

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