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Veröffentlicht am 03.05.2020

Das wirkliche Leben

Das wirkliche Leben
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CN: häusliche Gewalt, psychische Gewalt, Tierquälerei (viel davon... damit hatte ich nicht gerechnet)


Dieses Buch hat mich komplett gefesselt und ich habe es fast in einem Rutsch durchgelesen. Und ich ...

CN: häusliche Gewalt, psychische Gewalt, Tierquälerei (viel davon... damit hatte ich nicht gerechnet)


Dieses Buch hat mich komplett gefesselt und ich habe es fast in einem Rutsch durchgelesen. Und ich bin ganz froh, dass es nicht allzu dick ist, denn die Geschichte hat mich doch ziemlich mitgenommen.

Die namenlose Ich-Erzählerin lebt mit ihren (ebenfalls namenlosen) Eltern und dem kleinen Bruder Gilles zusammen. Der Vater ist ein Tyrann, der die Mutter schlägt und immer wieder Wutanfälle bekommt. Alle im Haus haben Angst vor ihm und laufen wie auf Eierschalen, um ihn nicht zu reizen.

Als eines Tages die Sahnemaschine des Eisverkäufers explodiert und ihm vor den Augen der Kinder das halbe Gesicht wegsprengt, bemerkt die Protagonistin eine Veränderung in ihrem Bruder. Aus dem lieben Jungen mit dem hübschen Lachen wird ein zurückgezogener Tierquäler, der später auch anfängt, die große Leidenschaft des Vaters (die Jagd) zu teilen. Die Protagonistin kennt nur eine Lösung: sie muss in der Zeit zurückreisen, um diesen Tag ungeschehen zu machen. Voller Hoffnung stürzt sie sich in die Physik. Dabei vergehen die Jahre und die Lage zuhause spitzt sich zu...

Das Thema häusliche Gewalt - grade Gewalt gegen Frauen - ist eines, das mich sehr umtreibt. Ich habe mich in letzter Zeit viel damit beschäftigt und darüber gelesen, grade auch zur Psychologie dahinter. Darum hatte ich anfangs schon die Befürchtung, das Buch würde in die typischen Klischees abrutschen. Die Protagonistin verachtet ihre Mutter dafür, dass sie sich so behandeln "lässt" und nie den Mut hat, für sich einzustehen. Sie wird immer wieder als "Amöbe" und als "Nichts" bezeichnet. Als der Vater seine Tochter jedoch einmal geistesabwesend "mein Schatz" nennt, glüht sie vor Freude. Das war für mich echt kaum erträglich. Zum Glück löst sich das alles später dann jedoch ein wenig auf. Die Protagonistin kommt selbst in die Situation gelähmt vor Angst, "das Nichts" und "die Amöbe" zu sein und kann ihre Mutter etwas besser verstehen. Die beiden entwickeln sogar eine kleine Verbindung und die Mutter hat tatsächlich Interessen und Wissen. Ein "Nichts" ist sie also nicht!

Trotzdem hätte ich mir noch ein ganz kleines bisschen mehr Einordnung gewünscht. Gewaltbetroffene Frauen müssen sich immer wieder Fragen lassen, warum sie das denn mitmachen (oder so lange mitgemacht haben). Dabei wird ausgeblendet, dass da ja oft eine sehr lange Zeit der psychischen Manipulation vorausgegangen ist. Die Frauen sind oft isoliert und wissen nicht wohin. Viele sind auch finanziell abhängig. Oft glauben sie, selbst Schuld zu sein, es zu verdienen, schämen sich. Und was auch oft vergessen wird: die Zeit um die Trennung herum ist die mit Abstand Gefährlichste für diese Frauen!

Die Mutter in der Geschichte hatte also auch ihre Gründe dafür, dieses Leben zu führen und ich hätte gerne mehr über sie erfahren, z.B. wie sie den Mann kennengelernt hat und wie es damals zur Hochzeit gekommen ist.

Die Ich-Erzählerin wird in den Lobgesängen für das Buch oft als stark beschrieben. Wahrscheinlich deshalb, weil sie sich "männlicher" Interessen bedient (Mathe, Physik) und immer wieder betont, dass sie nicht so werden will, wie ihre Mutter. Dabei fand ich sie grade in ihrer Schwäche großartig. Sie muss nämlich feststellen, dass auch sie sich nicht gegen den Vater wehren kann, weil der nun mal einfach körperlich viel stärker ist, als ein kleines Mädchen. Außerdem trägt sie eine ziemliche Arroganz in sich, weil sie klüger ist als andere - was wunderbar in das Gesamtbild dieses Charakters passt. Sie hat keine Freunde und wertet die anderen in der Schule immer wieder ab, um sich selbst aufzuwerten. Und irgendwie ist das auch typisch Teenie!

Hinten auf dem Buch steht etwas davon, dass sie sich "aus der weiblichen Opferrolle befreit". Da kann die Autorin wohl nichts für, aber das finde ich eine absolute Frechheit. Erstmal: weibliche Opferrolle? Was ist das? Und was ist eine männliche Opferrolle, wenn es die gibt? Außerdem spielt hier niemand eine Rolle! Die Frauen in diesem Buch sind wirklich Opfer und es wäre so schön, wenn dieser Begriff nicht so negativ besetzt wäre. Die Protagonistin sagt am Ende selbst, dass sie kein Opfer sein will, wie so viele Menschen, denen Gewalt angetan wurde. Aber warum eigentlich nicht? Wie konnte es so weit kommen, dass der Begriff als so schlimm empfunden und mit Passivität und Schwäche verbunden wird? Und: Wo kein Opfer ist, weil sich alle "befreien", gibt es dann überhaupt noch einen Täter? Das sind nur so meine Gedankengänge dazu, ich weiß es leider selbst nicht.

Übrigens, kleiner Spoiler: Ich fand nicht, dass sie sich am Ende selbst befreit hat. Aber wer weiß, wie andere das interpretieren.

Der Wissensdurst der Protagonistin hat mir gefallen. Ich mochte ihre Sitzungen beim alten Physiker. Ihre Motivation den kleinen Bruder zu retten, ist allerdings nichts Neues. In Büchern (und anderen Medien) werden Mädchen immer wieder zu Heldinnen, weil es um ihre Familie geht, selten um ihrer selbst willen. (Bekanntestes Beispiel Katniss, die sich freiwillig als Tribut meldet, um ihre Schwester zu beschützen.)

Die Geschichte der Frau des Physikers, hat mich zutiefst berührt. Auch hier spielt wieder geschlechtsspezifische Gewalt eine Rolle und ich musste richtig weinen. Das passiert mir so selten beim Lesen!

Eine Sache auf die ich hätte verzichten können, war die Sexszene. Die Protagonistin arbeitet als Babysitterin für ein junges Paar, die sie "die Feder" und "der Champion" nennt. Sie steht auf letzteren und dabei ist es ihr egal, ob sie erstere mag. Es kündigte sich schon eine Weile an, doch ich hatte trotzdem gehofft, dass die Autorin darauf verzichtet. Ein erwachsener Mann schläft also mit einem Teenie-Mädchen und mir persönlich dreht sich da komplett der Magen um. Das ist überhaupt nicht mein Ding, egal, ob es einvernehmlich war.

Der Schreibstil ist übrigens toll. Simpel, um die Kindlichkeit der Protagonistin zu unterstreichen und doch sehr fantasievoll. Das hat mir richtig gut gefallen. Hinzu kommt die bedrückende Stimmung, die Angst vor dem, was als nächstes passiert, weil man da schon so eine Ahnung hat... Man will das Buch weglegen und kann doch nicht aufhören zu lesen.

Insgesamt muss ich einfach sagen, dass mich die Geschichte total erreicht hat. Es ist aber verdammt harter Tobak und ich lag gestern noch lange wach und habe darüber nachgedacht. Und die besten Bücher sind doch die, die richtig nachhängen und auch nach der letzten Seite nicht loslassen wollen!

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Veröffentlicht am 07.04.2020

Prinzessinnenjungs

Prinzessinnenjungs
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Fast alle von uns kannten oder kennen doch wenigstens einen Prinzessinnenjungen.

Prinzessinnenjungs, das sind die, die Glitzer mögen, sich die Kleider ihrer Schwestern anziehen und bunte Nägel toll finden. ...

Fast alle von uns kannten oder kennen doch wenigstens einen Prinzessinnenjungen.

Prinzessinnenjungs, das sind die, die Glitzer mögen, sich die Kleider ihrer Schwestern anziehen und bunte Nägel toll finden. Ich behaupte: Prinzessinnenjungs, das sind so gut wie alle Jungs. Denn eigentlich mögen doch alle Kinder Glitzer, flatternde Kleider und bunte Farben. Allerdings bremsen wir diese Interessen bei Jungs in der Regel aus, sobald sie aufkommen.

Nils Pickert ärgert dieser Umstand so sehr, dass er ein ganzes Buch dazu geschrieben hat. Und dabei geht es eben nicht nur um Jungs, die auf pinke Schleifen stehen (und warum das eben nicht "schwul macht"), sondern auch um die Auswirkungen unseres aktuellen Bildes von Männlichkeit. Dieser kritische Blick ist dringend notwendig.

Viel zu oft habe ich in Supermärkten mitbekommen, wie einem Jungen das rosa "Mädchen-Ü-Ei" von einem entsetzten Vater aus der Hand gerissen wird. Viel zu oft höre ich auf Spielplätzen und an Stränden ein "wirf nicht wie ein Mädchen".

Pickert beginnt ganz vorn, nämlich dort, wo eigentlich noch überhaupt kein Mensch geboren wurde, sondern jemand schwanger ist. Denn schon zu diesem Zeitpunkt geht es hauptsächlich um das eine: welches Geschlecht wird das zukünftige Kind haben? Sobald das klar ist, fangen wir im Kopf schon mal mit den Zuschreibungen an, Freunde und Verwandte richten ihre Geschenke danach aus, alles wird entweder rosa oder hellblau. Wenn man mal genauer drüber nachdenkt eigentlich vollkommen absurd. Alle Farben sind für alle da! Und nichts ist so einfach und binär, wie wir es gern hätten, schon gar nicht so etwas Kompliziertes wie die geschlechtliche Identität.

Dem Autor ist es bei seinen Ausführungen wichtig, sich nicht gegen Eltern zu stellen. Er betont immer wieder, dass Vorurteile und Unbehagen ein Stück weit normal sind und eben einfach nur mal genauer betrachtet werden müssen. Das war mir anfangs ein wenig zu vorsichtig, aber im Nachhinein verstehe ich es als Versuch, diese Themen auch einer breiteren Masse zugänglich zu machen.

Sehr gut gefallen hat mir der kompromisslose Umgang mit Homosexualität, die hier als nicht verhandelbar gilt. Pickert schildert eine Situation mit seinem Sohn und dessen Freunde im Auto. Einer benutzt "schwul" als Schimpfwort, Pickert hadert mit sich und überlegt, ob er nun was sagen soll oder nicht. Denn er will seinem Sohn den Tag nicht verderben. Am Ende ist das Thema aber eben doch zu wichtig und er erklärt, warum das nicht in Ordnung ist. Leider kommt die Bisexualität wie so oft zu kurz und wird nur mal am Rande erwähnt. Dabei haben grade bi Männer immer das Problem, für "heimlich doch schwul" gehalten zu werden. Lesbische und bisexuelle Frauen kommen gar nicht vor. Das erscheint in einem Buch über Jungs auch erstmal logisch. Allerdings geht es hier eben auch um bestimmte Männlichkeitsbilder und den Blick der hetero Männer. Da wäre ein kleiner Satz über die Sexualisierung queerer Frauen schon angebracht gewesen.

Das Thema Gewalt bekommt viel Raum. Es geht darum, wie normal wir gewaltätige Jungs und Männer finden, um die Gewalt, die Männer Frauen antun, um die, die Männer Männern antun und natürlich auch um die, die Frauen Männern antun. Dem meisten kann ich wirklich zustimmen und ja, natürlich ist die Ohrfeige einer Frau auch Gewalt und nicht in Ordnung. Allerdings schreibt Pickert davon, dass wir im Glauben aufwachsen, Frauen wären eh nicht so stark und naja, zumindest durchschnittlich stimmt das nun mal auch. Das heißt aber natürlich trotzdem nicht, dass Frauen nie Gewalt ausüben und Männer nie Opfer sein können.

Immerhin, bei all diesen Themen behält der Autor die Zahlen und Machtgefälle im Blick und versucht nicht, Gewalt gegen Frauen klein zu reden (tatsächlich hat er eine sehr starke Abneigung gegen den typischen Whataboutismus der Männerfraktion, die immer dann mit Gewalt gegen Männern kommen, wenn es eigentlich grade um Frauen geht), bzw. bringt alles irgendwie mit unseren Männlichkeitsvorstellungen zusammen. Es wird sogar privat und Pickert nennt immer mal wieder Beispiele aus seiner eigenen Sozialisation und Erziehung. Er spricht offen darüber, was das mit ihm gemacht hat und welche Probleme er bis heute hat. Dadurch wird so manches ein wenig verständlicher und greifbarer.

Wir werden gebeten, Weiblichkeit nicht abwertend zu benutzen und einzugreifen, wenn unsere Jungs das tun. Hier hat mir allerdings ein kleiner Exkurs gefehlt. Warum ist weiblich sein das Schlimmste, was sich viele Jungs und Männer vorstellen können? Woher kommt das? Warum ist "du Mädchen" eine Beleidigung, "du Junge" aber nicht? Tatsächlich gelten als weiblich konotierte Dinge ja oft als oberflächlich, albern und dumm und das Ganze ist so schlimm, dass sich selbst manche Frauen gezwungen sehen, sich von ihrem eigenen Geschlecht abzugrenzen (man denke nur mal an die "Ich bin halt nicht so wie die anderen/typischen Frauen/Mädchen" Fraktion... auch Männer sagen "wow, du bist echt nicht wie andere Frauen" und meinen das auch noch als Kompliment). Vermutlich hätte das den Rahmen des Buches gesprengt, aber ich glaube, dass man durch solche Informationen ein größeres Aha-Erlebnis bei den Leser:innen rauskitzeln kann.

Es gibt viele weitere Themen, wie Aufklärung, Sex und Pornokonsum, Einvernehmlichkeit, Haushalt und Mental Load, Freundschaft und und und. Für mich war da zwar nicht ganz so viel Neues dabei, insgesamt ist vieles aber wirklich gut erklärt und grade auch für Neueinsteiger:innen in Sachen Feminismus sicher interessant.

Drei Kritikpunkte habe ich aber noch, für die ich einen Stern abziehe: Zum einen ist nicht ein mal die Rede von trans Jungs bzw. generell trans Identität. Wenn es schon darum geht, dass Homosexualität nicht abgewertet werden soll, muss es auch ums Transsein gehen und dass auch das legitim und nicht verhandelbar ist.

Außerdem kam mir die Eigenverantwortung der Männer zu kurz (die von Frauen ja immer so vehement verlangt wird). Ich habe immer noch zu häufig den Eindruck, dass einige Männer eben doch irgendwie von der aktuellen Situation (oder gar von vergangen Zeiten, die sie sich zurückwünschen) profitieren und gar keine Veränderung möchten. Sie sind eben nicht nur Opfer eines engen Korsetts an Männlichkeitsvorstellungen, sondern auch so oft Täter und Aufrechterhalter und Reproduzierer. Das wird zwar sehr zaghaft angerissen, war mir aber nicht deutlich genug. Da ja auch immer wieder betont wird, dass es im Buch nicht darum gehen soll, Jungs und Männer schlecht zu machen (was ich auch richtig und wichtig finde), wurde sich um manches ein wenig drum herum geschrieben.

Und dann gab es noch ein paar Wiederholungen, die mich ein bisschen gestört haben. Ich weiß ja, sowas kann helfen, Dinge zu verinnerlichen. Ich finde es auch in Ordnung, wenn der Autor einmal öfter darum bittet, dass Eltern ihrem Jungen bitte nicht das Lächeln aus dem Gesicht wischen sollen, wenn er ein "Mädchenspielzeug" haben möchte. Aber ich glaube, man kann der Leser:innenschaft hier schon zutrauen, dass sie es nach ein oder zwei mal verstanden hat.

Trotzdem ein sehr lesenswertes Buch, das mich immer mal wieder zum Nachdenken gebracht hat!

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Veröffentlicht am 13.10.2019

Solide

Strange the Dreamer - Der Junge, der träumte
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"Strange the Dreamer" ist der typische erste Band einer Reihe - und damit schließe ich mich den vielen Rezensionen an, in denen das bereits angesprochen wurde. Das Buch arbeitet hauptsächlich auf den nächsten ...

"Strange the Dreamer" ist der typische erste Band einer Reihe - und damit schließe ich mich den vielen Rezensionen an, in denen das bereits angesprochen wurde. Das Buch arbeitet hauptsächlich auf den nächsten Teil hin:
Wir lernen die Welt, ihre Regeln, ihre Geschichte und die Charaktere kennen.
Aber zum Glück verzichtet die Autorin auf übermäßigen Info-Dump und webt alles Wissenswerte stattdessen geschickt zwischen die Story.
Die startet mit Lazlo, einem Waisenjungen, der von Mönchen großgezogen wurde. Seine Jugend ist von Disziplin und Gebeten geprägt, Liebe und Geborgenheit gibt es wenig. Auch deswegen flüchtet sich Lazlo in die Geschichten der sagenumwobenen Stadt Weep, die ursprünglich einen ganz anderen Namen hatte, der aber mysteriöserweise verschollen ist.
Einst gab es Karawanen mit Waren aus Weep, aber die kommen schon lange nicht mehr und jeder Mensch, der sich auf den Weg gemacht hat, um die Stadt zu suchen, ist nie zurückgekehrt.
Lazlo beginnt, in einer Bibliothek zu arbeiten und verbringt sein Heranwachsen damit, alles über Weep zusammenzutragen und aufzuschreiben, was er finden kann.
Eines Tages bietet sich ihm dann die Gelegenheit, gemeinsam mit berühmten Kriegerinnen und Kriegern, sowie Expertinnen und Experten (in unterschiedlichen Bereichen) in die geheimnisvolle Stadt zu reisen, um dort ein Problem zu lösen...
Action und nägelkauende Spannung gibt es in diesem Buch eher nicht, dafür lebt es von einer kreativen Welt und wahnsinnig liebenswerten Charakteren.
Allen voran natürlich Lazlo, der trotz seiner lieblosen Erziehung ein sehr sanftmütiger und hilfsbereiter Mensch geworden ist und sogar denen zur Seite steht, die ihm nichts als Undank entgegen bringen.
Im Gegenüber steht der "Goldjunge" Thyon Nero. Die beiden verbindet ein Geheimnis, das Thyon unbedingt bewahrt wissen möchte. Er ist arrogant und unfreundlich, dabei jedoch kein eindimensionaler Gegenspieler. Auf seinen Schultern ruht eine große Last, die zumindest ein bisschen zur Erklärung seines Verhaltens beiträgt.
Die Nebencharaktere bleiben in diesem Band noch etwas blass, haben aber bereits großes Potenzial.
Ein für mich sehr positiver Aspekt waren die hinterfragten patriarchalen Strukturen der Welt. Die Autorin zeigt uns erst das typische "keinen Frauen als Kämpferinnen, keine Frauen in der Bibliothek" etc. Das wird dann jedoch von den eintreffenden Kriegerinnen und Kriegern aus Weep misstrauisch und verständnislos beäugt, bleibt also nicht unwidersprochen so stehen. Eine echt nette Abwechslung im Fantasy Genre!
Später beginnt noch ein zweiter Erzählstrang, aus der Sicht eines jugendlichen Mädchens, die mit anderen, sagen wir mal... in der Klemme hockt. Das wirkt im ersten Moment verwirrend. Wer sind diese Jugendlichen, wo befinden sie sich, was machen sie da und warum ist alles so trostlos?
Obwohl mir Lazlos Stellen deutlich besser gefallen haben, hat auch dieser Teil der Geschichte seinen Sinn und zum Ende hin werden beide zusammengeführt.
Mein einziger kleiner Kritikpunkt ist die sich andeutende Romanze zwischen Lazlo und dem Mädchen (ihr Name ist Sarai). Die erscheint mir ein bisschen langweilig, vorhersehbar und linear. Bei Lazlo und Thyon wäre hingegen einfach so viel mehr Spannung und Britzeln rausholbar... Für mich persönlich hat die Autorin hier eine super Chance für ein spannendes Enemies-to-Lovers verschenkt.
Der Schreibstil ist angenehm und flüssig. Man kann das Buch gut wie einen langen, aber nicht langweiligen Prolog zum zweiten Teil lesen. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht!

Ich bin aber auch etwas verwirrt: hat man für die deutsche Version einen Teil weggelassen? Die englische Version hat über 500 Seiten. Deutsche Wörter sind länger und sperriger, deswegen sind die Übersetzungen meist etwas dicker. Hier haben wir aber 200 (!) Seiten weniger. Außerdem habe ich grade englische Rezis gewälzt und dort werden für Band 1 Dinge eschrieben, die in der deutschen Version noch gar nicht vorkommen... Versucht man hier aus einer Dilogie eine Trilogie zu machen?

Veröffentlicht am 28.08.2019

Klasse Krimi

Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle
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Turton erfindet mit seinem Debüt das Rad nicht neu und bedient sich hemmungslos bei bekannten Krimiautorinnen. Allerdings nehme ich ihm das nicht allzu übel. Seine Geschichte liest sich nämlich ein bisschen ...

Turton erfindet mit seinem Debüt das Rad nicht neu und bedient sich hemmungslos bei bekannten Krimiautorinnen. Allerdings nehme ich ihm das nicht allzu übel. Seine Geschichte liest sich nämlich ein bisschen wie eine Hommage an eben diese Frauen.

Und worum geht's?
Ein alter entlegener Landsitz. Eine Schar von Gästen, die schon einmal dort waren, vor vielen Jahren, als ein Mord passierte. Und am Ende des Tages wird es wieder einen geben...
In dieser Welt erwacht unser Protagonist, ohne Namen, ohne Erinnerungen. Das einzige Wort, das im Kopf herumspukt ist "Anna".
Nach und nach erfährt er, dass sich dieser Tag wiederholen wird und zwar acht mal. Jeden dieser Tage wird er in einem anderen Menschen verbringen, seinem "Wirt". Sein Ziel ist es, den Mord an Evelyn Hardcastle aufzuklären, der wie ein Selbstmord aussieht - nur so kann er aus dieser Endlosschleife entkommen.

Die Story profitiert wahnsinnig davon, dass man anfangs genauso wenig weiß, wie der Hauptcharakter (der in der Ich-Form erzählt) und alles gemeinsam mit ihm herausfindet.
Deshalb mag ich diese "Ohje-Gedächtnisverlust-was-ist-hier-nur-los"-Bücher so: es schweißt unwahrscheinlich zusammen, gemeinsam mit dem Prota verwirrt zu sein und sich an jede neue Erkenntnis zu klammern. Eine Bindung entsteht unter diesen Umständen einfach sehr leicht.
Außerdem geht es sofort los. Keine ellenlangen Erklärungen, keine langatmige Hintergrundgeschichte. Alles entfaltet sich im laufe der Geschichte und man fliegt nur so durch die Seiten.

Dass unser Held den Tag aus der Sicht verschiedener Personen erlebt und somit auch zahlreiche Möglichkeiten hat, an Indizien zu kommen, war für mich ein ganz besonderer Twist.
Vor allem deshalb, weil seine anderen Wirte gleichzeitig mit ihm herumlaufen und ermitteln und er auch ab und an Hinweise und Hilfe von seinen zukünftigen Ichs bekommt.
Leider sehe ich in dieser tollen Idee auch eine verpasste Chance:
Sowohl der Hauptcharakter (der ja sonst eigentlich nichts über sich weiß) als auch alle acht Wirte sind männlich.
Ich glaube, es hätte die Story noch spannender und interessanter gemacht, wenn die Hälfte davon weiblich gewesen wären. Das hätte noch mal ganz neue Perspektiven und umfassenderes Bild ergeben!
Auf der anderen Seite weiß ich jedoch nicht, wie gut der Autor das hinbekommen hätte und ob ihm da eine anständige Charakterisierung zuzutrauen ist.
Am Ende habe ich dann lieber keine Frau, als ein peinliches "Oh wow, ich stecke auf einmal in einem Frauenkörper und habe Tittis hihihi" (siehe dazu meine Fußnote ganz unten).

Ein paar Warnungen habe ich auch noch, denn die Wirte sind alle ganz unterschiedlich. Einer ist beispielsweise wahnsinnig dick und der Autor ergießt sich in fettphoben Beschreibungen, die einfach kein Ende nehmen wollen. Da ist von Massen und Fleischbergen die Rede, von Scham und Ekel. Ein Aspekt, der mir persönlich nicht ganz so gefallen hat, denn Bodyshaming kenne ich von früher noch allzu gut (aber in die andere Richtung).
Ein anderer Wirt ist ein Vergewaltiger und der Prota kämpft mit dessen ekelhafte Gedanken. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass dieser Typ schon viele Frauen missbraucht hat und seine Mutter sorgt dafür, dass ihm deshalb keine Strafe droht.
Es wird nichts ausführlich beschrieben, aber wer mit diesem Thema Probleme hat, sollte etwas vorsichtig sein.

Insgesamt ist das Buch spannend und wahnsinnig unterhaltsam und ich hatte viel Spaß dabei, selbst mit zu rätseln und meine eigenen Vermutungen anzustellen.
Definitive Leseempfehlung für Krimifans, auch wenn das Ende für mich ein kleines bisschen zu dünn war!

*kleine Fußnote: Wer mal wahlweise lachen, überrascht sein oder einfach nur wütend werden will, sollte ich den Twitteraccount Men Write Women geben. Die Betreiberinnen tragen lächerliche Passagen aus von Männern geschrieben Büchern über Frauen zusammen.
Da kommt es dann z.B. mal vor, dass ein Autor denkt, Frauen benutzen ihre Vagina, um darin Sachen zu verstauen, wie in einer Tasche. Ja, ernsthaft.

Veröffentlicht am 09.08.2019

Schaurig

Kalte Wasser
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Lauren bekommt Zwillinge.
Während ihres Krankenhausaufenthaltes taucht im Zimmer nachts plötzlich eine unheimliche Frau auf, die einen Korb dabei hat. Darin befinden sich ebenfalls Zwillinge - und die ...

Lauren bekommt Zwillinge.
Während ihres Krankenhausaufenthaltes taucht im Zimmer nachts plötzlich eine unheimliche Frau auf, die einen Korb dabei hat. Darin befinden sich ebenfalls Zwillinge - und die Frau möchte tauschen.
Lauren schließt sich erschrocken im Bad ein und ruft die Polizei, doch es kann kein Eindringen festgestellt, niemand gefasst werden.
Zuhause begegnet ihr die unheimliche Frau wieder und wieder. Lauren traut sich vor Angst mit ihren Kindern nicht mehr aus dem Haus. Mann und Ärzte schieben alles auf die Psyche, den Schlafmangel.
Als Lauren ihren Mut zusammen nimmt und mit den Kindern spazieren geht, schläft sie bei einer Pause ein. Als sie aufwacht, ist der Kinderwagen verschwunden, wird aber schnell wieder gefunden.
Allerdings sind die Babys nicht mehr Laurens.
Niemand glaubt ihr - bis auf Polizistin Harper, der irgendwas an dem Fall ganz seltsam vorkommt...

Kalte Wasser ist eine gute Mischung:
Wir haben den unheimlichen, geheimnisvollen Teil, bei dem ich mich durchaus gegruselt habe (das passiert bei mir aber schnell, ich bin ein Angsthase), die etwas zu engagierte Polizistin, die auf Frauen steht und alles rund um Schwangerschaft, Geburt, Gewalt, Depressionen, Rollenverteilung.

Vom Paranormalen abgesehen, gab es die bedrückendsten Szenen für mich in der ersten Hälfte des Buches.
Wir erleben Laurens Entbindung gleich zu Beginn hautnah mit.
Es ist eine Zangengeburt und Lauren leidet Höllenqualen.
Auch als alles überstanden scheint, geht es ihr nicht besser.
Das Krankenhauspersonal ist empathielos und ruppig.
Sie bekommt innere Blutungen, die mit einem schmerzhaften und übergriffigen Eingriff gestillt werden müssen und bei denen Laurens Grenzen nicht respektiert werden.
Ich habe in letzter Zeit viel über Gewalt unter der Geburt gelesen und auch darüber, wie sehr unser glorifiziertes Mutterbild Frauen schaden kann und z.B. dafür sorgt, dass sich viele keine Hilfe suchen, die sie bräuchten, aus Angst, als Rabenmutter dazustehen.
Die Autorin stellt das Leid und die Angst meiner Meinung nach sehr gut dar.
Lauren leidet also mehr oder weniger stumm, weint viel, hat Angst, keine gute Mutter zu sein.
Man merkt, wie alleine sie mit allem dasteht.
Früher hieß es, man brauche ein Dorf, um ein Kind großzuziehen, heute soll das eine Person (meist die Mutter) allein schaffen, während Väter schon Helden sind, wenn sie sich das frisch gebadete und gewickelte Kind für 20 Minuten auf die Brust legen lassen.
Alles wird nochmal schlimmer, als Lauren entlassen wird.
Ein paar Tage gibt sich ihr Mann noch ein wenig Mühe, aber bereits nach den ersten schlaflosen Nächten zieht er ins Gästezimmer, weil er "es nicht mehr aushält" und ohne Schlaf "zu nichts zu gebrauchen ist". Es sind nur zwei Wochen Vaterschaftsurlaub und nicht mal während dieser Zeit schafft er es, sich gleichwertig um die Kinder zu kümmern.
Er gibt Lauren immer wieder zu verstehen, dass all das ihre Aufgabe und sowieso gar keine richtige Arbeit ist.
Als er wieder seiner Erwerbstätigkeit nachgeht, kommt er spät nach hause, weil er noch "durch die Bars" muss, "Kontakte knüpfen".
Und natürlich hat er auch noch ein paar andere Geheimnisse...
Ganz ehrlich, der Ehemann war für mich einfach ein riesen Schwein, aber ich kam nicht umhin daran zu denken, dass die Autorin hier ziemlich gut die (oder besser: eine) Realität abgebildet hat.
Natürlich sind nicht alle Männer so, dennoch passieren bestimmte Dinge wohl doch immer noch zu oft. Es gibt ja auch diverse Studien dazu, dass Mütter nach der Geburt ihren Schlaf einbüßen und Väter eher nicht, oder dass Mütter bei Wiedereinstieg in den Job 61% ihres Gehaltes verlieren und Väter nichts.
Zwischen den Zeilen wird in Kalte Wasser auch die Expertise angesprochen: von Lauren wird erwartet, dass sie sofort alles weiß und kann, dabei hat sie keine Ahnung, ist auf ähnlichem Wissensstand, wie ihr Mann, denn es sind auch ihre ersten Kinder.
Das Stillen fällt ihr schwer, sie hat Schmerzen und es strengt sie an.
Sie liest Bücher, um mehr über Babys und Erziehung zu erfahren, während ihr Mann seine "Papalektüre" nicht einmal durchblättert.
Für mich hat die Autorin hier jedenfalls einen fantastischen Job gemacht. Das alles kommt so wunderbar schleichend, der Ehemann wird nicht als absolutes Monster portraitiert.
Ich hatte richtige Beklemmungen und schlimmstes Mitleid mit Lauren.

Die Teile, die nicht aus Laurens Sicht geschrieben sind, haben den Narrativ der Polizistin Harper.
Sie arbeitet nicht ganz so oft nach Vorschrift und insgesamt mochte ich sie sehr.
Allerdings habe ich bei ihr auch ein paar kleine Kritikpunkte:
Mir war es etwas zu weit hergeholt, dass sie sich so für Laurens Fall interessiert, obwohl er nur einer von vielen Abgeschlossenen unter den Akten ist.
Wenn sie noch diejenige gewesen wäre, die ins Krankenhaus gerufen wurde... aber sie sieht den Fall einfach auf dem PC und ist sofort Feuer und Flamme. Begründet wird das zum einen mit ihrer Vergangenheit, die mir dafür nicht ausreicht und zum anderen mit ihrer unschlagbaren Intuition - die, wie ich finde, dafür an anderen Stellen manchmal ziemlich zu wünschen übrig lässt.
Harper steht auf die Journalistin Amy. Ich wusste die meiste Zeit nicht, was ich von dieser Person halten soll und ich fand Harper ihr gegenüber wahnsinnig unvorsichtig... mit dem, was zu Amy am Ende rauskommt, war ich aber sehr zufrieden.

Kalte Wasser hatte auf mich jedenfalls eine ziemliche Sogwirkung und ich mochte die unheimliche Stimmung, die verschiedenen Gefühle, die es bei mir ausgelöst hat und die Fragen, die ich mir teilweise immer noch ein bisschen stelle.
Eine spannende Schauergeschichte, die sich zu lesen lohnt.