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Veröffentlicht am 21.06.2020

Die dunkle Seite Islands

Das Netz
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Nach der Trennung von ihrem Mann hat Sonja kein festes Einkommen mehr und lebt nur noch für die Besuchswochenenden mit ihrem Sohn und die Treffen mit ihrer neuen Liebe Agla, die ihrerseits tief in einen ...

Nach der Trennung von ihrem Mann hat Sonja kein festes Einkommen mehr und lebt nur noch für die Besuchswochenenden mit ihrem Sohn und die Treffen mit ihrer neuen Liebe Agla, die ihrerseits tief in einen Bankenskandal verwickelt ist. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und irgendwann ihren Sohn wieder ganz bei sich haben zu können, beginnt Sonja Drogen zu schmuggeln. Dabei gerät sie nicht nur zunehmend in einen Strudel von Unfreiwilligkeit und Bedrohung, sondern auch in den Fokus des Zollbeamten Bragi.

Das Netz bietet ein fesselndes Leseerlebnis, das weniger einer abwechslungsreichen oder actiongeladenen Handlung zuzuschreiben ist, als der Erzählstruktur des Romans, welche in sehr kurzen Kapiteln zwischen den Perspektiven der drei Hauptfiguren Sonja, Agla und Bragi hin- und herspringt. Auf diese Weise verfolgt der Leser immer nur kurze Versatzstücke der Innensicht der Figuren und der jeweiligen Situation, um kurz darauf mit einer völlig anderen Momentaufnahme konfrontiert zu werden. Fragmentarisch ist der Roman jedoch glücklicherweise nicht, denn Sonja ist (abnehmend) mit Agla und (zunehmend) mit Bragi verbunden. Darüber hinaus befinden sich die drei Figuren außerdem alle in einer sehr düsteren und wenig hoffnungsvollen Lage, die durchaus Anlass zu Verzweiflung gibt, aber eben auch jeweils das nachvollziehbare Handlungsmotiv stellt, was ein wesentlicher Garant für die hier sehr glaubhafte und gelungene Figurendarstellung ist.

Die Handlung selbst profitiert von der abwechslungsreichen Erzählstruktur, denn der eigentliche Handlungsablauf ist von einigen Wiederholungen und immer wiederkehrenden Tätigkeiten geprägt, deren Erwähnung aber dadurch gerechtfertigt ist, da sich so die Idee einer zunehmend bedrohlicheren Lage Sonjas (und auch Aglas) und eines sich immer enger ziehenden Netzes beim Leser überzeugend verfestigt. Sicherlich gibt es auch ein paar Szenen, die ziemlich "over the top" wirkten (man denke z.B. an den Tiger im Esszimmer), aber grundsätzlich ist das, was der Roman erzählt, gut vorstellbar.

Das isländische Setting steuert ein übriges zur dunklen Atmosphäre bei. Der Roman nutzt sehr viele Verweise auf isländische Orte und Eigenarten und fängt die winterliche Trostlosigkeit und Isolation der Insel sehr gut ein. Zum isländischen Flair trägt natürlich auch die isländische Schreibweise der Namen bei. Den Untertitel "Ein Reykjavik-Krimi" trägt das Buch damit absolut zu Recht und wer schon einmal in Island war, wird einiges wiedererkennen.

Das Netz bietet spannende Lesestunden, die den Leser auf recht subtile Weise fesseln, da sich die Handlung nur langsam entwickelt. Der Roman bewegt sich zwischen Krimi und Thriller und ist für Leser geeignet, die bei Fiktion Wert auf einen Realitätsbezug legen, den das Buch auch durch seinen Kontext der isländischen Finanzkrise erzielt.

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Veröffentlicht am 12.06.2020

So viele Puzzleteile...

Enna Andersen und das verschwundene Mädchen
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Die Kommissarin Enna Andersen wird nach ihrer Rückkehr in den Polizeidienst zur Chefin der Abteilung für "Altfälle" ernannt. Mit ihren Kollegen, der jungen Pia Sims und dem unbequemen Jan Paulsen, macht ...

Die Kommissarin Enna Andersen wird nach ihrer Rückkehr in den Polizeidienst zur Chefin der Abteilung für "Altfälle" ernannt. Mit ihren Kollegen, der jungen Pia Sims und dem unbequemen Jan Paulsen, macht sie sich daran, den Fall eines Mädchens, das einst aus dem Landschulheim auf Wangerooge verschwand, wieder aufzurollen. Bei ihren Ermittlungen stösst das Team auf ein sehr komplexes Netz aus Motiven, Verdächtigen und Verbindungen.

Enna Andersen und das verschwundene Mädchen bietet große Krimi-Freude, denn der Fall ist so verwickelt, dass selbst versierte Leser sich schwer tun, mit einer überzeigenden Lösung aufzuwarten. Es gibt zahlreiche Mosaiksteinchen, Sackgassen, Verwicklungen und Möglichkeiten und auch noch einen Bezug zur kalabrischen Mafia. All diese Versatzstücke halten den Leser bei Laune und bieten überzeugenden Spannung.

Hinzu kommt ein wirklich umfangreiches Personenportfolio, welches die Autorin sehr gut aufbereitet und mit authentischem Leben füllt. Diese Fähigkeit ist für mich immer ein wesentlicher Gradmesser für die Qualität eines Krimis, denn auch wenn Figuren in Krimis meist eher Typen als komplexe Charaktere sind, sollten sie dennoch die ihnen zugewiesene Rolle sinnvoll und nachvollziehbar ausfüllen - und dies gelingt hier famos. Besonders das Ermittler-Team ist überzeugend gezeichnet, was auch dadurch, dass Sims und Paulsen fast durchweg mit vollem Namen benannt werden, damit Ennas zunächst distanzierte Perspektive auf ihr Team unterstrichen wird, deutlich wird. Sehr positiv fällt auch die Spiegelung des Falls durch Sarahs familiäre Problematik auf. Die Komplexität und Figurenfülle birgt jedoch auch die Gefahr, dass der Roman "überfrachtet" wird. Auch wenn dies während des gesamten Lesens zunächst nicht spürbar wird, leidet der Roman zum Ende hin doch etwas unter seinem "Gewicht" und der Vielzahl der Teilaspekte, denn zu guter Letzt müssen alle Fäden aufgelöst werden und genau dieser Prozess gerät leider zu lang und die Spannung ins Stocken.

Enna Andersen ist ein kurzweiliger, spannender, richtig gut gemachter Kriminalroman, der in fast jeder Hinsicht überzeugt und nur am Ende etwas über sich selbst stolpert.

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Veröffentlicht am 09.06.2020

Viel mehr als "nur" eine Hochzeit

Die sardische Hochzeit
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Im Jahr 1922 gerät Italien mehr und mehr in die Fänge Mussolinis. Leo, ein junger Mann aus Ligurien, erschlägt im Streit einen Anhänger des "Duce" und wird von seinem Vater nach Sardinien geschickt, um ...

Im Jahr 1922 gerät Italien mehr und mehr in die Fänge Mussolinis. Leo, ein junger Mann aus Ligurien, erschlägt im Streit einen Anhänger des "Duce" und wird von seinem Vater nach Sardinien geschickt, um einer Bestrafung zu entgehen und gleichzeitig eine neue Olivensorte für die heimische Zucht ausfindig zu machen. Während seiner Suche trifft er auf Gioia und obwohl diese bereits in wenigen Tagen heiraten soll, verlieben die beiden sich.

Die sardische Hochzeit ist ein wirklich feiner historischer Roman, denn obwohl die titelgebende Feier der Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist, geht es in der Erzählung umso viel mehr als nur um eine Liebesgeschichte. Als Leser lernt man durch dieses Buch ganz nebenbei unfassbar viele Dinge. So hat sich die Autorin minutiös und umfassend in alles eingearbeitet, was mit Sardinien zu tun hat (Land, Leute, Kultur, Essen, Legenden, Brauchtum) und ihre große Zuneigung zu der Insel ist im gesamten Roman spürbar. Zusätzlich zeichnet sich Die sardische Hochzeit durch unglaublich viele Informationen zu der politischen Situation Italiens 1922 oder auch zur Jazzmusik der Zeit aus, die man ebenfalls en passant vermittelt bekommt. Der Kenntnisreichtum, der hier deutlich wird, führt zu einem authentischen historischen Kontext, der dem Leser ein völliges Abtauchen in das Sardinien der 20er ermöglicht. Das Beste für mich ist jedoch, dass die Autorin den Ersten Weltkrieg und die schrecklichen Erfahrungen der Soldaten während dieses verheerenden Ereignisses (meist durch Rückblicke) berücksichtigt - so etwas könnte in deutschsprachigen Romanen ruhig häufiger als Thema Einzug halten. Trotz all dieser Details und des vermittelten Wissens ist der Roman jedoch in keiner Weise überfrachtet, sondern unterhält den Leser bestens - aber eben mit historischer Tiefe.

Die Figuren sind sehr gut konzipiert. Leo ist kein strahlend schöner Held, sondern ein Mann mit gebrochener Vergangenheit. Gioia ist eine junge Frau, die sich ein gewisses Maß an Unabhängigkeit wünscht, dieser Wunsch bleibt aber im stimmigen Rahmen mit dem Jahr 1922. Der Fokus des Romans liegt deutlich auf Leo; ich hätte mir vielleicht insgesamt mehr Gioia-Teile erhofft. Mehrere Perspektivenwechsel und Briefe sorgen für Abwechslung in der Erzählstruktur und ermöglichen Einblicke in die Denkweise der Figuren. So sind die "bösen" Figuren (und an diesen herrscht im Roman kein Mangel) zwar schon sehr böse, aber sie alle sind mit für den Leser verständlichen Motiven ausgestattet. Eine simple Schwarz-Weiß-Zeichnung wird so weitestgehend vermieden.

Die Handlung an sich fesselt und weist verschiedene Stränge auf, die man als Leser gern weiterverfolgt. Ein ganz großes Plus ist, dass der Fortgang des Romans von einigen Überraschungsmomenten geprägt ist, die für den Leser nicht vorherzusehen sind (bis auf eine Ausnahme, mit der ich noch immer hadere, und die einen Bewertungsstern kostet). Insgesamt könnte man vielleicht feststellen, dass der Liebesgeschichte an sich noch etwas mehr Raum hätte gegeben werden können - sie wird zeitweise zu sehr zur Nebenhandlung.

Die sardische Hochzeit ist ein gut geschriebener, historischer Roman der einen mit nach Sardinien nimmt und Lust auf Cocktails, Jazz und Oliven macht. der Lehrreich und unterhaltsam zugleich, bietet er sehr gut gezeichnete Figuren und einige überraschenden Wendungen.

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Veröffentlicht am 27.05.2020

hochbrisant

Die Wahrheit
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Maggie Costello wird von ihrer ehemaligen Arbeitskollegin, der jetzigen Gouverneurin von Virginia, zu einer Mordermittlung hinzugezogen. Der Tod des Geschichtsprofessors, den Maggie untersuchen soll, erweist ...

Maggie Costello wird von ihrer ehemaligen Arbeitskollegin, der jetzigen Gouverneurin von Virginia, zu einer Mordermittlung hinzugezogen. Der Tod des Geschichtsprofessors, den Maggie untersuchen soll, erweist sich dabei aber nur als Spitze einer großangelegten Verschwörung, die das kollektive Gedächtnis der Welt wie auch die modernen Kommunikationswege attackiert. Im Zuge ihrer Arbeit wird Maggie selbst Opfer solcher Angriffe und muss sich fragen, wem sie vertrauen kann.

Sam Bournes Die Wahrheit ist ein hochaktueller Roman mit einem brisanten Thema, der streckenweise so nah an der Wahrheit operiert, dass es schon fast unheimlich ist – der Realitätsbezug wird auf dem Cover bereits deutlich gemacht, auch wenn die gestellte Frage nicht ganz das Kernthema des Romans trifft. Sam Bourne hat bereits zuvor Thriller mit der Hauptfigur Maggie Costello geschrieben, diese muss man aber nicht kennen, um Freude an der Der Wahrheit zu haben.

Den Roman zeichnet besonders seine Aktualität aus. Er transportiert die sehr wichtige Erkenntnis, dass Wahrheit in unserer heutigen Welt ein höchst zerbrechliches und gefährdetes Gut ist und stellt wichtige Fragen nach der Beschaffenheit des kollektiven Gedächtnisses. Dies wird insbesondere durch die zwei charismatischen und rhetorisch brillanten Figuren Keane und McNamara erreicht, die Bourne mit einer starken Präsenz und messerscharfen Argumentationsketten versieht, die dem Leser bei allem Wissen um die Tatsachen eindrucksvoll verdeutlichen, wie ohnmächtig man Faktenverdrehern gegenüberstehen kann. In den Reden dieser beiden fast schon diabolischen Männer ist der Roman am stärksten. Er kommentiert im Reich der Fiktion das, was aktuell vielfach in der Realität zu beobachten ist und beleuchtet die Mechanismen dieser Beweisführungen und ihre Auswirkungen.
Diesen sehr starken Männerfiguren, die gar nicht mal allzu viel Raum im Text einnehmen, steht die Ermittlerin Maggie gegenüber, die im Vergleich leider recht blass wirkt. Bei der Figurenzeichnung beschränkt sich der Autor auf kurze Einblicke in die familiäre Vergangenheit, eine (vergangene) Liebesbeziehung und das Verhältnis zur Schwester. Eine wirkliche Innensicht in die Gedanken- und Gefühlswelt unterbleibt, sodass eine Charakterisierung der Figur sicher eher schwerfallen würde und auch nicht sehr viel Identifikationspotential besteht.

Für Abwechslung und Spannung sorgen einige Handlungs- und Ortswechsel. Der Spannungsaufbau wird dabei von dem perfiden Verschwörungsplan und dem dauerhaften Gefühl der Hilflosigkeit, das von Maggie auf den Leser transferiert wird, getragen. Zum Ende hin bedient der Autor leider einige Thriller-Klischees, auf die ich persönlich in dieser Form gut hätte verzichten können, da das Thema an sich schon explosiv genug ist, und diese Art der Thrill-Erzeugung „auf den letzten Metern“ dann etwas unbalanciert wirkt.

Die Wahrheit ist ein hochspannender und lesenswerter Roman auf der Höhe unserer Zeit, der manchmal in ein politisch-ethisches Traktat abzugleiten droht, aber dennoch einen wertvollen Diskussionsbeitrag zur aktuellen Situation leistet. Als Unterhaltungsroman widmet er sich einem wichtigen Thema und verursacht Unruhe beim Leser, indem er eine deutliche Verbindung zwischen der dargestellten fiktionalen Welt und der Realität erkennbar macht. Der Roman erfüllt sicherlich nicht die Thriller-Ansprüche der Genre-Experten, aber er bietet spannende Lesestunden und regt zum Nachdenken an.

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Veröffentlicht am 27.05.2020

Max und Pauline

Der zerrissene Brief
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Der zerrissene Brief von Hanns Zischler wandelt auf den Spuren eines außergewöhnlichen Frauenlebens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, das von Reisen, Abenteuer und vor allem von einem Mann geprägt ...

Der zerrissene Brief von Hanns Zischler wandelt auf den Spuren eines außergewöhnlichen Frauenlebens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, das von Reisen, Abenteuer und vor allem von einem Mann geprägt war.

Wer sich auf diesen Roman einlässt, sollte Zeit mitbringen – damit meine ich „Zeit am Stück“, denn der Text verträgt größere Lesepausen nicht gut. Dies liegt daran, dass Der zerrissene Brief Gespräche zwischen Pauline, um deren Leben es in dem Roman geht, und der jungen Elsa, die die ältere Dame schon lange kennt und bei dieser zu Besuch ist, nachzeichnet. Diese Unterhaltungen sind meisterhaft authentisch umgesetzt, inklusive aller Gedankensprünge, Themenwechsel, Ablenkungsmanöver, Digressionen und Fadenverluste. Allerdings führt die Erzähltechnik unweigerlich zu einem fragmentarischen Leseerlebnis, welches beherrschbarer wird, wenn man sich dem Text uneingeschränkt widmet. Der Roman fordert den Leser und verlangt ihm aufgrund der nicht chronologischen Darstellung von Erinnerung einiges ab, da man (auch bewusste) Lücken füllen und die Reihenfolge der Geschehnisse für sich selbst ausloten muss. Dies ist anstrengend, aber auch bereichernd, da man so die Gelegenheit bekommt, sich allmählich immer mehr an Pauline und ihren Lebensweg heranzuarbeiten. Was die Handlung anbelangt, hatte ich mir aufgrund des Klappentexts eigentlich erhofft, dass den Expeditionen oder der Zeit allein in New York mehr Aufmerksamkeit gewidmet würde. Diese doch ungewöhnlichen Erlebnisse für eine Frau der damaligen Zeit sind aber eher Nebenereignisse in den Erinnerungen, was jedoch im Kontext des Romans schlussendlich Sinn macht. Sprachlich ist der Roman ein Genuss, abseits von allem Gewöhnlichen und dazu mit einigen Sätzen, die für mich eine tiefe Wahrhaftigkeit ausstrahlen.

Der Titel deutet es schon an: Der zerrissene Brief ist ein auf beste Weise in seiner Erzählstruktur zerrissener Roman. Er ist gelungene Literatur für anspruchsvollere Leser, die sich auf den Pfad von Erinnerungen begeben möchten. Auch wenn der Roman inhaltlich nicht dem entsprach, was ich erwartet hatte, habe ich gerne in Paulines Gedächtnis ge“graben“.

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