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Veröffentlicht am 20.09.2020

Eine Romanbiografie, die wohl keinen Leser unbeeindruckt lässt

Kein Ort ist fern genug
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REZENSION – Das Schweigen der am Holocaust direkt beteiligten oder nur indirekt davon betroffenen Generation ist den Älteren in Deutschland noch aus persönlicher Erfahrung, den Jüngeren vielleicht aus ...

REZENSION – Das Schweigen der am Holocaust direkt beteiligten oder nur indirekt davon betroffenen Generation ist den Älteren in Deutschland noch aus persönlicher Erfahrung, den Jüngeren vielleicht aus der Literatur vertraut. Das Schweigen über das Unfassbare und Unvorstellbare als Thema des im Juli in deutscher Übersetzung erschienenen und für den Prix Goncourt nominierten französischen Romans „Kein Ort ist fern genug“ des argentinischen Schriftstellers Santiago Amigorena (58) wäre insofern nichts Neues. Doch bemerkenswert und deshalb lesenswert macht diesen internationalen Bestseller, dass es sich eben nicht um eine der üblichen Erinnerungen eines Holocaust-Opfers oder um eine Täter-Biografie handelt, sondern – eine völlig neue Sichtweise dieses Themas – um die Frage einer persönlichen Mitschuld des während des Nazi-Regimes längst in der fernen argentinischen Hauptstadt Buenos Aires lebenden Vicente Rosenberg, Großvater des seit Jahren in Paris lebenden Autors.
Vicente hatte bereits 1928 seine Heimatstadt Warschau verlassen und war als junger Mann nach Argentinien ausgewandert, um dort ein freies Lebens zu führen – frei von der Mutter, frei vom erstarkenden Antisemitismus in Polen. Bis 1940 führte er ein glückliches Familienleben, verheiratet mit Rosita, Vater kleiner Kinder, Inhaber eines vom Schwiegervater finanzierten Möbelgeschäfts. An seine in Warschau verbliebene Mutter Gustawa, seinen Bruder Berl und die in Russland verheiratete Schwester dachte und schrieb er kaum.
Mit jedem weiteren Brief der Mutter aus dem Warschauer Ghetto verdüstert sich auch Vicentes bisher so sorgloses Leben im fernen Buenos Aires von Mal zu Mal, wachsen Schuld und das Gefühl der Ohnmacht. Denn „kein Ort ist fern genug“, um nicht vom Geschehen in Europa und persönlicher Verantwortung unbehelligt bleiben zu können. Welches Grauen das Leben der Juden im Warschauer Ghetto bestimmt, ließ sich aus den Briefen der Mutter erahnen: „Wie die übrige Menschheit konnte Vicente wissen und gleichzeitig nicht wissen wollen“, beschreibt der Autor diese uns vertraute Haltung. Vicente verweigert sich anfangs diesem Wissen – aus Egoismus, aus Angst. Doch letztlich „wusste er genug, um zu beschließen, nicht mehr nur mit halbem Auge, sondern gar nicht mehr hinzuschauen“. Das Wissen, er hätte seine Mutter rechtzeitig nach Argentinien holen müssen und das Bewusstsein der tiefen Schuld, als Sohn versagt zu haben, lässt ihn bald verstummen und seiner Familie fremd werden. „Jetzt war er ein Flüchtiger, ein Feigling, der nicht da war, wo er hätte sein sollen, der geflohen war und noch lebte, während die Seinen umkamen.“ Vicente flieht in die innere Emigration, wird ein „Gefangener im Ghetto seines Schweigens“. Wann Großvater Vicente nach dem Krieg erfahren hat, dass Mutter Gustawa ins Vernichtungslager Treblinka II deportiert wurde und Bruder Berl schon beim Ghetto-Aufstand umgekommen waren, weiß der Enkel nicht. Denn auch in seiner Familie waren diese Jahre später kein Gesprächsthema.
Doch aus dem Wenigen, dass er und sein Bruder recherchieren konnten, schrieb Santiago Amigorena eine ergreifende Romanbiografie, die jeden Leser wohl tief beeindruckt und nachdenklich zurücklässt. Der Autor schafft es auf unvergleichliche Weise, uns an den quälenden Gedanken und der schmerzenden Verzweiflung seines schweigenden Großvaters, den er selbst kaum noch gekannt hat, lebensnah teilhaben zu lassen.

Veröffentlicht am 30.08.2020

Literarische Erkenntnisreise, faszinierendes Leseerlebnis

Die Reise nach Ordesa
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REZENSION – Mit seiner ungewöhnlichen und faszinierenden Autobiographie „Die Reise nach Ordesa“, erst kürzlich in deutscher Übersetzung von Astrid Roth im Piper-Verlag erschienen, wurde der Spanier Manuel ...

REZENSION – Mit seiner ungewöhnlichen und faszinierenden Autobiographie „Die Reise nach Ordesa“, erst kürzlich in deutscher Übersetzung von Astrid Roth im Piper-Verlag erschienen, wurde der Spanier Manuel Vilas (58) in seiner Heimat zum Bestseller-Autor. Obwohl schon seit 2002 für seine lyrischen Arbeiten in Spanien vielfach ausgezeichnet und von der Fachwelt als einer der großen Lyriker seiner Generation gefeiert, war es ausgerechnet sein Romandebüt, das ihm erst 2018 die Anerkennung der breiten Öffentlichkeit, Lobeshymnen in den wichtigsten Zeitungen seines Landes und 2019 in Frankreich den Prix Femina für den besten ausländischen Roman einbrachte.
Doch ein Roman ist „Die Reise nach Ordesa“ eigentlich nicht, auch keine typische Autobiographie einer namhaften Persönlichkeit. Denn Manuel Vilas, der vor seiner Wandlung zum Lyriker zwei Jahrzehnte lang das aus seiner Sicht eintönige Leben eines Lehrers geführt hatte, hatte sich in der Öffentlichkeit noch keinen „Namen“ gemacht. Auch ist es kein chronologischer Bericht seines persönlichen und beruflichen Werdegangs, sondern eine scheinbar ungeordnete Ansammlung vieler Erinnerungsfetzen an Eltern, Großeltern und andere Verstorbene, die sich erst allmählich von Kapitel zu Kapitel zu einem Bild mit vielen interessanten Facetten voller Lebenserfahrung zusammenfügen.
Der Einstieg ins Buch mag manchen Lesern deshalb vielleicht schwerfallen. Doch es lohnt sich dranzubleiben. Denn gerade die von ihm selbst behauptete Bedeutungslosigkeit des Autors, der 1962 während der Franco-Diktatur in eine ärmliche, unterprivilegierte Familie eines provinziellen Handelsvertreters hineingeboren wurde, und seine Erinnerungen an die Kindheit sind es, die ihn und seine Lebensgeschichte so „menschlich“ und allgemeingültig werden lässt. Vieles scheint uns vertraut.
Man hat während der Lektüre den Autor förmlich vor Augen, wie er als „armer Poet“, der als trockener Alkoholiker auch die Tiefen des Lebens erfahren musste, in seinem nur spärlich möblierten Hochhaus-Appartement sitzt – mit sich selbst und seinen Gedanken allein, verlassen von den verstorbenen Eltern, geschieden von der Ehefrau und kaum noch Kontakt zu seinen zwei erwachsenen Söhnen – und sich seinen Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten hingibt. In kurzen Kapiteln, von einer Einzelheit, einem Gedanken oder Kindheitserlebnis ausgehend, entwickelt Vilas eine oft überraschende Gedankenkette über den Sinn des Lebens und den Tod, über seine ihm unbekannten Vorfahren („Mein Großvater war eine aufgegebene Grabnische.“), über sich selbst und seine Söhne, über das damals diktatorische und das heute monarchistische Spanien und immer wieder über seine geliebten Eltern. In der Rückbesinnung kommen Fragen auf, die Vilas früher hätte stellen sollen. „Ich fragte nicht, als es noch ging, weil ich dachte, dass ich sie irgendwann einmal fragen würde, als würden sie immer da sein.“ Seine Vorfahren sind vergessen, die Erinnerung an die Eltern schwindet. Der einsame Autor fürchtet, auch selbst in absehbarer Zeit von den eigenen Söhnen vergessen zu werden. Deshalb seine Erkenntnis: „Wir sollten über unsere Familien schreiben, ohne jede Beschönigung, ohne dabei zu erfinden. Wir sollten nur von dem erzählen, was passiert ist, oder von dem wir glauben, dass es passiert sei.“
Die sprachgewaltige, philosophisch wie psychologisch tiefgehende Auseinandersetzung mit seiner Familie macht Manuel Vilas' Prosawerk „Die Reise nach Ordesa“, eine literarische Erkenntnisreise zu sich selbst, zu einem nicht alltäglichen und faszinierenden Leseerlebnis, an dem zweifellos auch Übersetzerin Astrid Roth ihren lobenswerten Anteil hat.

Veröffentlicht am 26.07.2020

Ein literaturhistorisch interessanter Roman über Heines Sterben im Pariser Exil

Der weiße Abgrund
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REZENSION – Nicht nur literaturhistorisch interessierte Leser dürfte der im Juli erschienene Roman „Der weiße Abgrund“ von Henning Boëtius (81) begeistern, sondern alle Freunde der klassischen Literatur ...

REZENSION – Nicht nur literaturhistorisch interessierte Leser dürfte der im Juli erschienene Roman „Der weiße Abgrund“ von Henning Boëtius (81) begeistern, sondern alle Freunde der klassischen Literatur deutscher Sprache. Sprachlich grandios und überaus lebendig, auch für fachlich Unkundige leicht zu lesen, beschreibt der für die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ausgewiesene Fachmann die letzten Jahre und Wochen des Dichters Heinrich Heine (1797-1856) auf dem Sterbebett in seiner kleinen Pariser Wohnung, bescheiden möbliert mit Möbeln vom Flohmarkt. Fast glaubt man als Leser, auf Heines Bettkante zu sitzen und ihm beim Hinscheiden in den „weißen Abgrund“ zu beobachten.
Der sterbenskranke Mittfünfziger ist längst kein Revolutionär mehr, weshalb er vor 20 Jahren nach Anfeindungen wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Ansichten mit nachfolgendem Publikationsverbot ins Pariser Exil auswich. „Körperliches Leiden macht reaktionär“, vermutet Boëtius und fährt fort: „In den letzten Monaten seines Lebens, befreit von vielen ablenkenden Zwängen irdischen Daseins ... schreibt Heine seine besten Texte.“
Schon seit den 1830er Jahren leidend, seit 1848 in seiner „Matratzengruft“ dahinsiechend, während draußen die Industrialisierung voranschreitet und Paris sich auf die Weltausstellung vorbereitet, kann Heine schon lange nicht mehr an gesellschaftlichen Treffen in den Salons der Pariser Bohème teilnehmen. „Kein Wunder, dass sich Heine angesichts dieser Entwicklung wie ein Fossil vorkommt, dessen Reimereien nur noch ein schwaches Echo sind, zurückgeworfen vom Waldrand der Vergangenheit.“ Stattdessen empfängt der immer noch von vielen bewunderte, von manchen beneidete und von einigen auch ausgenutzte Dichter alte Freunde und neue Bekannte am Krankenbett. „Er hat viel Besuch in diesen Tagen. So etwas wie ein Leichenzug, der hinter einem Sarg herläuft. Dabei ist er noch gar nicht tot, aber er scheint für viele so etwas wie ein interessanter lebender Leichnam zu sein. …. Er ist ein sterbender König, mit seinem winzigen Dreizimmer-Versailles, seinem kleinen Hofstaat, seinen Schranzen, seinen Günstlingen, seiner Mätresse.“
Heine fürchtet sich nicht vor dem Tod, zumal der „weiße Abgrund“ für den Schwerkranken eher Erlösung ist. „Er findet ihn nur ärgerlich, zu banal, zu phantasielos, ein Philister des Nichts.“ Trost gibt ihm seine letzte große, wenn auch platonische Liebe Elise Krinitz, die als Heines Bewunderin hofft, in als Mentor für eigene literarischen Ambitionen zu gewinnen. Ist sie es wirklich, die auf Druck ihres Freundes, des Schriftstellers Alfred Meißner, des Dichters Sterben durch gepanschten Wein beschleunigt? Heines Leibarzt David Gruby erstattet jedenfalls nach dessen Tod bei der Polizei Anzeige: Heine sei sich zwar sicher gewesen, an Syphilis erkrankt zu sein. Doch extremes Erbrechen, die Koliken, wochenlang anhaltende Verstopfung, die Lähmung der Gliedmaßen, „all das passt eher zu einer Bleivergiftung“, zumal Heines Schaffenskraft bis zum Ende niemals nachließ.
Boëtius schildert, wie Heine sein Schicksal mit beißender Ironie und Sarkasmus erträgt. Dem Sterben und Tod des Dichters hält der Autor Heines Spott über das Leben und seine Künstlerkollegen entgegen. Wunderbar beschrieben ist der Abend im Salon seines Arztes, bei dem wir unter den illustren Gästen auch Gustave Flaubert antreffen, der an einer Enzyklopädie der menschlichen Dummheit arbeitet. Henning Boëtius' schmaler, nur 190-seitiges Buch „Der weiße Abgrund“ ist dagegen ein erfreulich intelligenter Roman, von einem Kenner der Szene verfasst. Boëtius schafft es mit seiner kurzen Romanbiografie, auch solchen Lesern einen der bedeutendsten deutschen Dichter näher zu bringen, die sich mit Heinrich Heine noch nie zuvor befasst haben. Wer durch dieses Buch von Heines Sterben erfahren hat, wird sich anschließend gern über Heines Leben informieren wollen.

Veröffentlicht am 26.07.2020

Ein literaturhistorisch interessanter Roman über Heines Sterben im Pariser Exil

Der weiße Abgrund
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REZENSION – Nicht nur literaturhistorisch interessierte Leser dürfte der im Juli im btb-Verlag erschienene Roman „Der weiße Abgrund“ von Henning Boëtius (81) begeistern, sondern alle Freunde der klassischen ...

REZENSION – Nicht nur literaturhistorisch interessierte Leser dürfte der im Juli im btb-Verlag erschienene Roman „Der weiße Abgrund“ von Henning Boëtius (81) begeistern, sondern alle Freunde der klassischen Literatur deutscher Sprache. Sprachlich grandios und überaus lebendig, auch für fachlich Unkundige leicht zu lesen, beschreibt der für die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ausgewiesene Fachmann die letzten Jahre und Wochen des Dichters Heinrich Heine (1797-1856) auf dem Sterbebett in seiner kleinen Pariser Wohnung, bescheiden möbliert mit Möbeln vom Flohmarkt. Fast glaubt man als Leser, auf Heines Bettkante zu sitzen und ihm beim Hinscheiden in den „weißen Abgrund“ zu beobachten.
Der sterbenskranke Mittfünfziger ist längst kein Revolutionär mehr, weshalb er vor 20 Jahren nach Anfeindungen wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Ansichten mit nachfolgendem Publikationsverbot ins Pariser Exil auswich. „Körperliches Leiden macht reaktionär“, vermutet Boëtius und fährt fort: „In den letzten Monaten seines Lebens, befreit von vielen ablenkenden Zwängen irdischen Daseins ... schreibt Heine seine besten Texte.“
Schon seit den 1830er Jahren leidend, seit 1848 in seiner „Matratzengruft“ dahinsiechend, während draußen die Industrialisierung voranschreitet und Paris sich auf die Weltausstellung vorbereitet, kann Heine schon lange nicht mehr an gesellschaftlichen Treffen in den Salons der Pariser Bohème teilnehmen. „Kein Wunder, dass sich Heine angesichts dieser Entwicklung wie ein Fossil vorkommt, dessen Reimereien nur noch ein schwaches Echo sind, zurückgeworfen vom Waldrand der Vergangenheit.“ Stattdessen empfängt der immer noch von vielen bewunderte, von manchen beneidete und von einigen auch ausgenutzte Dichter alte Freunde und neue Bekannte am Krankenbett. „Er hat viel Besuch in diesen Tagen. So etwas wie ein Leichenzug, der hinter einem Sarg herläuft. Dabei ist er noch gar nicht tot, aber er scheint für viele so etwas wie ein interessanter lebender Leichnam zu sein. …. Er ist ein sterbender König, mit seinem winzigen Dreizimmer-Versailles, seinem kleinen Hofstaat, seinen Schranzen, seinen Günstlingen, seiner Mätresse.“
Heine fürchtet sich nicht vor dem Tod, zumal der „weiße Abgrund“ für den Schwerkranken eher Erlösung ist. „Er findet ihn nur ärgerlich, zu banal, zu phantasielos, ein Philister des Nichts.“ Trost gibt ihm seine letzte große, wenn auch platonische Liebe Elise Krinitz, die als Heines Bewunderin hofft, ihn als Mentor für eigene literarische Ambitionen zu gewinnen. Ist sie es wirklich, die auf Druck ihres Freundes, des Schriftstellers Alfred Meißner, des Dichters Sterben durch mit Blei vergifteten Wein beschleunigt? Heines Leibarzt David Gruby erstattet jedenfalls nach dessen Tod bei der Polizei Anzeige: Heine sei sich zwar sicher gewesen, an Syphilis erkrankt zu sein. Doch extremes Erbrechen, die Koliken, wochenlang anhaltende Verstopfung, die Lähmung der Gliedmaßen, „all das passt eher zu einer Bleivergiftung“, zumal Heines Schaffenskraft bis zum Ende niemals nachließ.
Boëtius schildert, wie Heine sein Schicksal mit beißender Ironie und Sarkasmus erträgt. Dem Sterben und Tod des Dichters hält der Autor Heines Spott über das Leben und seine Künstlerkollegen entgegen, wodurch dem Autor ein sehr "lebendiger" Roman gelungen ist. Wunderbar beschrieben ist vor allem der Abend im Salon seines Arztes, bei dem wir unter den illustren, doch Karikaturen ihrer selbst ähnelnden Gästen auch Gustave Flaubert antreffen, der an einer Enzyklopädie der menschlichen Dummheit arbeitet. Henning Boëtius' schmales, nur 190-seitiges Buch „Der weiße Abgrund“ ist dagegen ein erfreulich intelligenter Roman, von einem Kenner der Szene verfasst. Boëtius schafft es, mit seiner kurzen Romanbiografie auch solchen Lesern einen der bedeutendsten deutschen Dichter näher zu bringen, die sich mit Heinrich Heine noch nie zuvor befasst haben. Wer durch dieses Buch von Heines Sterben erfahren hat, wird sich anschließend gern über Heines Leben informieren wollen.

Veröffentlicht am 04.07.2020

Man bleibt als Leser nachdenklich zurück

Jenseits der Erwartungen
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REZENSION – Ein angenehmes, sogar fröhliches Wiedersehen alter Jugendfreunde könnte es im Spätsommer 2015 werden, zu dem der inzwischen 66-jährige Immobilienmakler Lincoln seine beiden Studienkollegen, ...

REZENSION – Ein angenehmes, sogar fröhliches Wiedersehen alter Jugendfreunde könnte es im Spätsommer 2015 werden, zu dem der inzwischen 66-jährige Immobilienmakler Lincoln seine beiden Studienkollegen, den Verleger Teddy und den Musiker Mickey, „um der alten Zeiten willen“ in sein altes Sommerhaus auf der kleinen Ferieninsel Martha’s Vineyard vor der Südküste von Cape Cod im Bundesstaat Massachusetts einlädt. So beginnt auch der im Mai auf Deutsch erschienene Roman „Jenseits der Erwartungen“ des amerikanischen Pulitzer-Preisträgers Richard Russo (70) noch recht beschaulich, nimmt aber immer mehr Tempo auf, um schließlich dramatisch zu enden. Nichts ist mehr so, wie anfangs erwartet.
Auf dem College waren die drei jungen Männer, alle aus kleinbürgerlichem Elternhaus, zu Freunden geworden. Die Studiengebühren mussten sie sich in einem Restaurant hart erarbeiten. Sie fühlten sich wie die drei Musketiere und waren alle gleichermaßen in die Elite-Studentin Jacy Calloway verliebt. Nach dem Abschluss im Jahr 1971 trafen sie sich zu viert ein letztes Mal im Sommerhaus, das damals noch Lincolns Mutter gehörte, bevor Mickey als Soldat nach Vietnam gehen und die anderen ins Berufsleben einsteigen sollten. Doch kurz vor dem gemeinsamen Abschied verschwand Jacy spurlos und blieb verschollen. Bis zum jetzigen Wiedersehen, 44 Jahre später, hat keiner der drei Männer die Freundin vergessen, und die Frage, ob und wen von ihnen Jacy geliebt haben mochte, blieb unbeantwortet. Jacys rätselhaftes Verschwinden beherrscht die Gespräche der alt gewordenen Männer. In Rückblenden erfahren wir vom damaligen Wochenende, von der familiären Herkunft und dem weiteren Leben der drei Freunde, zunächst erzählt jeweils aus Lincolns und Teddys persönlicher Sicht. Erst zum Schluss erzählt Mickey seine eigene Geschichte und löst das Rätsel um diesen ungelösten Kriminalfall.
"Chances are", so der Titel der amerikanischen Romanausgabe, heißt auch ein alter Hit von Popsänger Johnny Mathis (84), den die jungen College-Absolventen an ihrem Abschiedsabend vor über vier Jahrzehnten auf der Insel gemeinsam und voller Erwartungen gesungen hatten. Und so handelt auch Russos Roman von den Chancen, die sich die vier vom künftigen Leben erhoffen. Doch die Träume zerplatzen und auch von der Freundschaft der drei Musketiere bleibt nur noch der Schein. Man ist sich nach jahrzehntelanger Trennung fremd geworden.
Der schildert mit der Erfahrung und Menschenkenntnis eines 70-Jährigen und mit der Kunst eines großartigen Erzählers in persönlichen Rückblenden der drei Männer deren weiteren Lebensweg, ihre teils krampfhaften Versuche, sich von den spießbürgerlichen Erwartungen der Eltern zu lösen und dank eigener Entscheidungskraft ein eigenständiges, ein besseres Leben zu führen, um dann doch als Erwachsene ähnliche Fehler wie die Eltern zu machen. Im fast zwanghaften Kampf, das Unabänderliche zu ändern, versäumen sie, die wenigen wirklichen Chancen für ein selbstbestimmtes Handeln zu ergreifen, um ihr Leben selbst zu bestimmen. Nach 44 Jahren zeigt jeder nur noch ein Wunschbild seiner selbst, ohne sich so anzuerkennen, wie er „jenseits der Erwartungen“ geworden ist.
Russos empfehlenswerter Roman „Jenseits der Erwartungen“ ist eine von Seite zu Seite immer spannender sich entwickelnde Geschichte, die schließlich in einem erschreckenden Finale endet und den Leser nachdenklich zurücklässt – nachdenklich über die eigene Person, den eigenen Lebensweg, die eigenen Erwartungen aus Jugendzeiten.