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Veröffentlicht am 16.11.2020

Fabio Geda über das Leben, das Schicksal und seine Möglichkeiten

Ein Sonntag mit Elena
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Ich glaube wir alle kennen das Gefühl, dass die Zeit rast, wir einfach immer älter werden, weiter kommen wollen und dabei irgendwie den Sinn und die tägliche Chance auf einen Neuanfang aus den Augen verlieren. ...

Ich glaube wir alle kennen das Gefühl, dass die Zeit rast, wir einfach immer älter werden, weiter kommen wollen und dabei irgendwie den Sinn und die tägliche Chance auf einen Neuanfang aus den Augen verlieren. Irgendwann ist alles festgefahren, wir haben unsere Strukturen gefunden und folgen unserem täglichen Trott und dann? Dann gerät alles so ein bisschen aus den Fugen, für viele ist es der Eintritt in das Rentenalter und der damit verbundenen Aufgabe des Alltags oder es ist der Verlust des Partners/der Partnerin und die Abnabelung der Familie. Alles passiert schrittweise im Leben und dann prasselt irgendwann die Einsamkeit auf uns herab.

“Es stimmt schon, die Zeit tut das ihre. Man könnte es Evolution nennen. Wir mutieren, ohne es zu merken, jeden Tag ein bisschen, derweil wir damit beschäftigt sind, zu leben, Rechnungen zu bezahlen oder Urlaube zu buchen.”

Ähnlich ergeht es dem siebenundsechzig jährigen Witwer in Fabio Gedas Roman Ein Sonntag mit Elena. Früher reiste er als Ingenieur durch die Welt, baute Brücken und Überführungen, lebte, liebte und jetzt? Jetzt sitzt er allein in seiner Turiner Wohnung. Seine Frau starb vor gerade einmal acht Monaten bei einem tragischen Unfall und seine Familie hat sich in alle Richtungen verteilt. Sein Sohn Alessandro lebt im Ausland, die jüngste Tochter Gulia spricht nicht mehr mit ihm und auch seine älteste Tochter Sonia hat kaum noch Zeit für ihn. Als sie ihn nun mit ihrer Familie besuchen will , bereitet “Papa” zum ersten Mal gefüllte Zwiebeln zu. Doch zu dem geplanten, gemeinsamen Mahl soll es gar nicht erst kommen, denn Sonias Tochter stürzt von einem Kaki-Baum, als sie ihrem Opa einige Früchte pflücken wollte und muss nun im Krankenhaus untersucht werden. Da sein Auto leider in der Werkstatt ist, er nun das Mahl für fünf Personen völlig umsonst gekocht hat, entschließt er sich kurzerhand spazieren zu gehen. Langsam wird ihm dabei bewusst, dass er vieles falsch gemacht und sich nur selten mit dem wirklich Wichtigen auseinandergesetzt hat. In der Nähe des Skateparks trifft er dann zufällig auf Elena und ihren Sohn Gaston, und ohne dass er es ahnt, ist es eine Schicksalsbegegnung, die einfach alles verändern soll und damit ist ausnahmsweise mal nicht der Anfang einer neuen Liebe gemeint.

“Wissen Sie […] wenn die Menschen sich aus anderer Leute Angelegenheiten raushalten, dann tun sie das meist nicht, weil sie gut erzogen sind oder ihrem Gegenüber nicht zu nahe treten wollen, sondern um sich selbst einen Gefallen zu tun […] denn sobald man eine Frage gestellt und eine Antwort bekommen hat, kann man nicht mehr so tun, als wäre nichts. […] Dann hängt man mit drin.”

Diese Geschichte war für mich etwas ganz besonderes. Ich habe dieses Buch zu einer Zeit gelesen, als ich mich oft gefragt habe und das eigentlich immer noch tue, wie alles weitergehen soll und ob der jetzige Weg, der richtige für mich ist. Und irgendwie hat mir Gedas unaufgeregte und ruhigere Geschichte da sehr gut getan. Es ist oder eigentlich könnte man es auch einfach einen einfühlsamen Lebensratgeber nennen, denn Fabio Geda erzählt hier von einer zufälligen Begegnung, die beinahe alles wieder ins Rollen bringt und zeitgleich viele verschiedene Themen, wie verschiedene Blickwinkel einer Situation, andere Kulturen, Vorurteile, Herzensbildung, Leben, Sorgen, Abhängigkeiten, Einsamkeit, Erinnerung… streift. Ohne nun zu viel erzählen zu wollen, ist dieser Roman ein Zeuge einer schicksalhaften Begegnung an einem Tag, an dem sich mehrere Menschen einsam gefühlt haben und das Leben ihnen einen kleinen Schubs in die richtige Richtung gibt. Man muss dem Leben mehr Vertrauen schenken und jeden Moment und Hinweis nutzen, ohne stets das große Ganze verstehen zu wollen. Jeder Rückschlag ist gleichzeitig die Chance einen Neuanfang zu wagen, zu verzeihen oder einfach das Leben so zu leben, wie man es wirklich möchte.

Mit dieser kleinen, feinen Geschichte hat Fabio Geda mich sehr bewegt und zum Nachdenken gebracht und darüber bin ich sehr froh, zumal ich seinen letzten Roman nicht ganz so begeistert beendet habe. Dieses Buch ist wieder so ganz versöhnlich, anders und bereichernd. Und ich glaube, es ist eins dieser locker, leichten Bücher, die man einfach immer mal wieder lesen kann und beinahe in jeder Lebenssituation eine Stütze sind. Es ist nie zu spät, Hauptsache du fängst einfach irgendwann damit an.

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Veröffentlicht am 03.08.2020

ein ruhiger, kraftvoller Roman über das, was bleibt

Nach Mattias
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Was bleibt übrig, wenn das Schicksal einen geliebten Menschen aus deinem Leben reißt? Wie geht es weiter? Weiter mit dem Schmerz, dem Leid, den Erinnerungen? Viele von euch haben wahrscheinlich bereits ...

Was bleibt übrig, wenn das Schicksal einen geliebten Menschen aus deinem Leben reißt? Wie geht es weiter? Weiter mit dem Schmerz, dem Leid, den Erinnerungen? Viele von euch haben wahrscheinlich bereits im Laufe ihres Lebens einen geliebten Menschen verabschiedet. Teilweise kann man sich auf diesen Zeitpunkt etwas vorbereiten, aber meistens kommt er so komplett unerwartet. Egal wie, irgendwie muss das Leben für die Familie, die Freunde und Bekannten weitergehen und wahrscheinlich findet da jeder von uns so seinen Weg mit der Trauer und dem Verlust umzugehen. Genau dieses ‘Weiter’ greift der niederländische Autor Peter Zantingh in seinem Roman Nach Mattias auf. Normalerweise verbinde ich gerade mit der niederländischen Literatur sehr viel Härte und sehr viele krasse Geschichten, doch dieses Buch ist da nun irgendwie anders, leichter mit einem gewissen Schmerz und ganz viel Überwindungskraft.

“Trauer ist wie ein Schatten. Der richtet sich nach dem Stand der Sonne, fällt morgends anders als abends. Der lehnt dunkel und geduldig an der Wand, streckt sich in voller Länge über den Asphalt aus oder zeichnet […] die Silhouette einer grazös drohenden Schlange […] In den ersten Wochen wusste ich manchmal nicht, ob ich meinen eigenen Schatten sah oder den von jemanden, der sich […] dich neben mich gestellt hatte.”

Dieses Buch vereint acht Menschen. Acht Geschichten, die ein Abbild davon geben, wie sie mit der Trauer und dem Verlust umgehen und wie alles miteinander verbunden zu sein scheint. Während Amber auf einem Konzert ihrem Schmerz freien Lauf lässt, versucht Mattias’ Freund Quentin ihn gerade auf der Rennstrecke loszuwerden. Der Plan von einem gemeinsamen Café, bei dem jeder Gast die Playlist der gerade spielenden Songs mit ausgehändigt bekommt, wühlt ihn ständig auf. Und dann gäbe es da z.B. noch Kristianne, die endlich die wahre Geschichte ihres Sohnes erzählen möchte. Jeder hat seine eigene Art, seine eigene Vorstellung das Geschehene zu verarbeiten und damit auch Abschied zu nehmen.

"Nach Mattias" ist ein Roman, der gedanklich den Anschlag auf das Pariser Bataclan in 2015 und die damit verbundene, plötzliche Lücke aufgreift und doch sehr viel Lebensmut beinhaltet. Alles geht weiter. Irgendwie. Freunde, Verwandte, enge Vertraute, sie alle werden einen Weg finden mit ihrem Kummer und dem Schmerz umzugehen. Sie werden die Erinnerungen weitertragen, einige zurücklassen (wollen), andere Gewohnheiten und Gedanken finden und auf ihre Art einen guten Freund, Partner, Sohn in sich behalten. Peter Zantingh hat einen sehr einfühlsamen und menschlichen Roman geschrieben, der die unterschiedlichsten Perspektiven nach und nach so wie ein Puzzle zusammenfügt und seine Protagonisten miteinander verbindet, ohne in tiefe Trauer zu verfallen. Vom Stil erinnert er mich damit so ein bisschen an Simone Lappert mit "Der Sprung", ein ähnlich faszinierendes, unterhaltendes Buch über das Schicksal und das komplexe Gefüge sich überkreuzender Leben und Ereignisse. Doch während es bei ihr hauptsächlich um die Auswirkungen eines Ereignisses in Form einer auf dam Dach stehenden Frau geht, ist es gerade hier das tragische Lebensende des besten Freundes, Partners und Sohnes. Es ist ein äußerst sensibles Thema und doch zeigt Peter Zantinghs Roman auch, dass uns alle noch viel mehr verbindet, man den Absprung schaffen kann und sich neue Verbindungen knüpfen lassen. Teilweise kostet es viel Zeit, Kraft und Mut oder eben auch die Hilfe einer ganz unerwarteten Begegnung und neue Abhängigkeiten.

Dieses Kaleidoskop, diese Zusammenstellung acht gänzlich verschiedener Lebensausschnitte hat mir in der Mischung sehr gefallen. Die nach und nach offensichtlicheren Zusammenhänge und die tiefgründige Schwere, die sich während des Lesens weder erdrückend anfühlt, noch in Melancholie umschlägt, sondern eher Lebensmut vermittelt, finde ich recht bemerkenswert. Es ist auch kein Buch, das wahnsinnig viel Konzentration und Gedanken abverlangt und eignet sich, trotz des schwierigeren Themas, sehr für anstrengendere Zeiten, Reisen oder für jegliche Momente, an denen man wieder mehr an das Positive des Schicksals und der Begegnung glauben möchte. Desweiteren bietet eine passende Playlist mit Titeln, die die Figuren mit Mattias verbinden oder sie in irgendeiner Weise begleiten und in ihrem Teil der Geschichte kurz aufgegriffen werden, einen zusätzlichen Mehrwert. Mich haben diese Songs noch einmal emotional gepackt und das ‘Gefühl’, das ich bereits beim Lesen der einzelnen Kapitel hatte, noch einmal zusätzlich verstärkt und eben auch über den akustischen Weg fühlbar gemacht. Für mich ein unerwartet, bewegendes, tolles Buch mit zahlreichen Gedanken und einem schönen ‘Gesamtpaket’.

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Veröffentlicht am 15.05.2020

"Wer allein bleibt, den frisst der Wolf" - Cihan Acars bedrückender Streifzug durch Heilbronn und sein Problemviertel "Hawaii"

Hawaii
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"Hawaii" ist sprachlich wie inhaltlich für mich ein sehr tolles Buch. Ich habe es mitten in einer Zeit gelesen, in der ich mich kaum auf etwas konzentrieren konnte und recht wenig Lust auf Bücher hatte ...

"Hawaii" ist sprachlich wie inhaltlich für mich ein sehr tolles Buch. Ich habe es mitten in einer Zeit gelesen, in der ich mich kaum auf etwas konzentrieren konnte und recht wenig Lust auf Bücher hatte und doch hat dieser Roman gleich mit den ersten Abschnitten bei mir eingeschlagen.

"Meine Eltern wollten eigentlich auch nicht hierher. Davor lebten wir in einem der vielen Dörfer, die es um Heilbronn herum gibt. Im ganzen Ort gab es außer uns nur zwei andere türkische Familien, aber wir kamen gut zurecht. Dann meldete der Vermieter Eigenbedarf an und wir mussten raus. Auf die Schnelle fand mein Vater nur im Hawaii was Neues."

Cihan Acar erzählt die Geschichte eines türkischen Fußballprofis, der aufgrund eines blöden Unfalls seine ganze Zukunft versaut und seinen linken Fuß demoliert hat. Dieser Roman spielt allerdings nicht in der Türkei sondern in Heilbronn oder besser gesagt in Hawaii, dem Problembezirk der Stadt. Wir begleiten den einundzwanzigjährigen Kemal Arslan zwei Tage und drei Nächte lang, besuchen mit ihm eine Hochzeit, ein Striplokal, eine Kneipe, ein Wettbüro ... und treffen auf Freunde, ihm gegenüber positiv gestimmte Menschen, aber auch Rassisten. Nachdem ihm alles weggebrochen scheint, versucht Kemal erneut Halt zu finden. Seine Familie lebt in Heilbronn und auch er ist zurückgekehrt. Vom einstigen Star ist beinahe nichts mehr geblieben, einige Menschen erkennen ihn noch und sein ramponierter Jaguar wartet in der Tiefgarage auf seine Reparatur, aber sonst? Nichts. Er ist pleite und beinahe schon verzweifelt versucht er nun irgendwie wieder aus diesem Loch herauszukommen. Kemal bemüht sich um Arbeit, möchte seine einstige Liebe, die er für den Fußball aufgegeben hat, erneut für sich gewinnen und lässt sich treiben. Doch es ist nichts mehr wie es mal war. In der Stadt braut sich was zusammen, die Stimmung wird rauer und dann ist er auch schon mittendrin...

"Ich starrte lange in den fleckigen Spiegel, doch da war niemand. Ein Niemand ohne Geld, ohne Job, ohne Aufgabe. Ohne Sina, ohne Sinn."

Dieser Roman hat bei mir einiges an Gedanken losgetreten. Normalerweise liest man ja immer von Geflüchteten, die zu Migranten werden oder von Integrationsproblemen, doch was ist, wenn man die Stadt für etwas 'besseres' verlässt, fällt und dann nach Jahren zurückkehrt? Kemal sucht erneut Halt, eine Zukunft, ein Ziel und das in einer Stadt, in der er sich eigentlich gut auskennt, doch das scheint schwieriger als erwartet und die allgemeine Situation macht es nicht gerade einfacher sich willkommen/angekommen zu fühlen. Es ist ein Buch voller Sehnsucht, Illusion und Einsamkeit, aber auch der großen Hoffnung die Zeit zurückdrehen zu können. Cihan Acar beschreibt für mich Deutschland noch einmal von einer anderen Seite und zeigt Probleme auf, ohne verurteilend, angreifend oder überzogen zu sein. Es treffen verschiedene Menschen bzw. Mentalitäten und Gesellschaftsschichten aufeinander und gerade das macht dieses Buch für mich so faszinierend. Natürlich gibt "Hawaii" keine konkreten Wegweiser aus dieser Situation hinaus. Und selbst, wenn es sich hier um einen fiktionalen Roman handelt, so zeigt er doch diesen schwierigen Punkt, an dem sich die Gesellschaft momentan befindet und wie alles ausarten kann. Gedanklich wird mich dieses Buch sicherlich noch eine Weile begleiten und ich hoffe tatsächlich, dass dies nicht der einzige Roman von Cihan Acar bleiben wird. Sehr toll!.

"Wie lange wollt ihr noch streiten da unten, wann seht ihr es endlich ein, dass ihr alle gleich seid? Ich schaue mir das nicht länger an, nein, ich heize euch jetzt mal so richtig ein, und zwar so lange, bis ihr entweder zur Vernunft kommt oder endlich in den Kampf zieht. Krieg oder Frieden..."

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Veröffentlicht am 17.02.2020

ein intensiver Roman über Familie, Kunst, Wahrnehmung und Abhängigkeit

Je tiefer das Wasser
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Edith und Mae sind 16 bzw. 14 Jahre alt, als ihr Leben eine rasante Wendung nimmt. Ihre Mutter Marianne wollte sich das Leben nehmen. Edith findet sie mit einem Strick um den Hals. Gerade noch rechtzeitig. ...

Edith und Mae sind 16 bzw. 14 Jahre alt, als ihr Leben eine rasante Wendung nimmt. Ihre Mutter Marianne wollte sich das Leben nehmen. Edith findet sie mit einem Strick um den Hals. Gerade noch rechtzeitig. Und dann wird die alleinerziehende Mutter in eine Nervenklinik eingewiesen. Die beiden Kinder bleiben zurück und müssen nun zu ihrem Vater nach New York. Er ist ein bekannter Schriftsteller und hat die Familie vor etwa 12 Jahren im Stich gelassen. Für Edith bricht die Welt zusammen. Er ist ein Fremder und sie möchte wieder zurück zu ihrer Mutter, ihr helfen und für sie da sein, doch man lässt sie nicht. Der Umzug zu ihrem Vater gleicht für sie einem Verrat und wie sich herausstellt scheint auch er an dieser Situation nicht ganz unschuldig zu sein. Für Mae hingegen ist das alles wie ein Befreiungsschlag. Sie will von ihrer Mutter nichts mehr wissen und geht im Kampf um die Aufmerksamkeit ihres Vaters förmlich auf. Es kommt zum Bruch und die beiden Geschwister schlagen komplett gegensätzliche Wege ein. Edith unternimmt einen Rettungsversuch und gibt alles mögliche um wieder zurück zu ihrer Mutter zu kommen. Und Mae verrennt sich in etwas, das ihr bald noch zum Verhängnis werden soll …

“Ich weiß nicht, wie viel Edie von alldem wusste. Sie sagte immer, ich wäre Moms Liebling, aber das ist nicht wahr. Es war eher so, dass Mom mich als Erweiterung ihrer selbst sah, während Edie die Freiheit hatte, ganz sie selbst zu sein. […] Ich musste so weit wie möglich von ihr wegkommen, sonst hätte sie mich verschlungen.”

Dieser Roman schildert nun die Tragik innerhalb der Familie, teilweise aus verschiedenen Zeiten und Perspektiven. Wir lernen die Gedankenwelt der beiden Kinder kennen, aber auch die Ansichten ihrer Bekannten und Verwandten in Bezug auf die Geschehnisse. Dabei springt die Erzählung zwischen Briefen aus der Kennlernzeit von Marianne und Dennis, dem Jahr des Geschehens und Rückblicken bzw. Anmerkungen und Erinnerungen einzelner Beteiligter aus der heutigen Zeit. Nach und nach setzt sich so ein Bild zusammen, das so einiges erklärt, umreißt, aber auch sehr bewegt. Es ist eine Mischung aus Wirklichkeit und individueller Wahrnehmung, die immer wieder von Kunst, Liebe, Wahn und Inspiration durchbrochen wird. Während des Lesens war es für mich eine Art Achterbahnfahrt, geprägt von der Angst vor dem was kommt und dem Unbedingt-wissen-wollen wie es weiter geht. Katya Apekina liefert hier eine vielschichtige und aus vielen Perspektiven aufbauende Geschichte, deren Protagonisten einiges erleben, aber nicht alles wird auserzählt. Es bleibt sehr viel Spielraum für die eigenen Gedanken und einiges dröselt sich erst im weiteren Verlauf auf. So war ich dann teilweise erstaunt, teilweise überschlagend im Weiterlesen, manchmal mit den Protagonistinnen betrübt, manchmal eher skeptisch und manchmal auch einfach überrascht und puh… Dieses Leseerlebnis war toll und irgendwie habe ich seit langem mal wieder auf so ein durch und durch faszinierendes und begeisterndes Buch gewartet. Und hier ist es nun.

Vom Ablauf her erinnert es mich an ein Verhör bzw. so ein Puzzle aus einzelnen Fragmenten einer Tätergeschichte. Und Täter gibt es sogar zahlreich, denn im Grunde läuft bei allen Beteiligten der Familie so einiges schief – psychisch, traumatisch, zwischenmenschlich. Im Fokus stehen dabei die beiden Mädchen, Edith und Mae. Edith versucht ihr Bild über die Mutter so lange wie möglich aufrecht zu halten, kämpft für die Nähe und Bindung zu ihr und scheint wie mit einem Tunnelblick keine anderen Ansichten und Möglichkeiten zuzulassen. Sie will ihre Mutter wieder haben, bei sich ‘tragen’. Nur von ihrem Vater, der sie vor 12 Jahren einfach so sitzen gelassen hat, will sie so gar nichts wissen. Sie scheint sauer auf ihn zu sein, ähnlich wie auf alle anderen Menschen in ihrem Umfeld. Und bei Mae ist es eben genau anders herum. Man merkt recht schnell, es muss noch irgendetwas anderes vorgefallen sein. Sie verrennt sich immer mehr in einer Art Fanatismus und nimmt im Kampf um die Aufmerksamkeit ihres Vaters nahezu alles in Kauf und dann… nun ja. Dann passiert eben das, wovor alle gewarnt haben. Damals schon. Und als Leser guckt man nun so kopfschüttelnd und fasziniert zu und kann einfach nicht einschreiten, noch im gleichen Moment alles verstehen. Zumindest mir erging es dabei so.

Neben dieser extremen Bindungsgeschichte/diesem Aufmerksamkeitswahn durchdringt diesen Roman dann immer wieder die Kunst, die Literatur, die Fotografie, die Musenhaftigkeit und Inspiration den Gedankenstrom. Teilweise sind es ‘meine’ Abschnitte und Gedanken, die sich in diesen sehr klaren, direkten Zeilen wiederfinden. Die Besonderheit der Fotografie und des ‘Sehens’ zum Beispiel. Hierüber könnte ich stundenlang schwafeln und Apekina schafft es ihre Gedanken in die Geschichte einfließen zu lassen, auf wenige Zeilen zu beschränken und doch den Kern der Essenz zu verdeutlichen. Es ist dabei aber kein hochliterarischer oder gar anstrengender Text. Apekina schreibt wunderbar leicht, normal menschlich und gedanklich voller Spitzen, aufbrausender Wut und Trauer und dennoch lässt sie sehr viel Spielraum für die eigenen Gedanken des Lesers, der nach und nach das Bild hinter dem Puzzle ergründet.

Mich hat dieser Roman begeistert verschlungen und auf eine abwechslungsreiche Reise entführt. Ich hoffe nun, dass ihr zu diesem Buch einen Zugang findet und Ähnliches, Faszinierendes und Tolles entdecken könnt, denn Apekina zeigt hier sehr eindrucksvoll wie kräftezehrend die Kunst, Beziehungen oder gar Egoismus sein können. Eine überraschend große Leseempfehlung, leicht ungewöhnlich und doch absolut toll.

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Veröffentlicht am 03.02.2020

Wenn der Tod zur Sünde wird

Was man sät
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Vor ungefähr zwei Jahren, war Lize Spit mit ihrem düsteren Roman “und es schmilzt” in aller Munde. Viele fanden die Geschichte von Eva sehr verstörend, brutal und faszinierend zu gleich. Und irgendwie ...

Vor ungefähr zwei Jahren, war Lize Spit mit ihrem düsteren Roman “und es schmilzt” in aller Munde. Viele fanden die Geschichte von Eva sehr verstörend, brutal und faszinierend zu gleich. Und irgendwie hat es die belgische Provinz (in der dieser Roman spielt) nach einigen langatmigen Abschnitten ‘hart getroffen’.
Ein ähnliches, beklemmendes Buch ist nun gerade bei Suhrkamp erschienen. Was man sät von Marieke Lucas Rijneveld kommt, wie der Name es vielleicht schon verrät, auch aus dem holländischen Raum und wurde ebenfalls von Helga van Beuningen ins Deutsche übertragen. Auch die Grundvoraussetzungen sind ähnliche und dennoch bringt Rijnevelds Roman eine noch viel düstere und bewegendere Welt zutage.

“Wir haben alle eine alte Seele. Meine ist schon zwölf Jahre alt. Das ist älter als die älteste Kuh des Nachbarn, und die gehört seinen Worten zufolge auf den Schrott, sie gibt nur noch wenig Milch.”

Und genauso fühlt sich Jas. Seit nun zwei Jahren führen sie und ihre Geschwister ein eher sündiges Leben zwischen experimenteller Fantasie, Okkultismus, Sehnsüchten, Angst. Damals waren sie noch eine 6-köpfige Vorzeigefamilie. Es war kurz vor Weihnachten und die Familie freute sich auf die nahenden, besinnlichen Festtage. Doch Jas bemerkte, wie ihr Vater ihrem Lieblingskaninchen immer mehr Aufmerksamkeit schenkte und es mästete. Sie fürchtete schlimmstes und so betete sie zu Gott, er möge es beschützen und lieber ihren ältesten Bruder Matthies zu sich holen… und genau das geschah. Ihr Bruder brach beim Schlittschuhlaufen auf der anderen Seite des Sees durch die Eisdecke und starb. Der Tierarzt überbrachte die Nachricht, als die Mutter Jas und ihre kleine Schwester Hannah badete. Die große Trauer blieb aus, jeder machte sich einzeln Vorwürfe, Weihnachten wurde vor die Tür gesetzt und das Unausgesprochene fraß sich seinen Weg.

“Später dachte ich manchmal, dass hier die Leere begann: dass nicht der Tod schuld war, sondern die beiden Weihnachtstage, die in Töpfen und leeren Husarensalatschachteln weggegeben wurden.”

Ihre Mutter hört auf zu essen und wird immer dünner. Ihr Vater kümmert sich um den Hof, das Vieh und begibt sich immer mal wieder alleine mit dem Fahrrad zum See. Ihr Bruder Obbe, sie und ihre Schwester leben irgendwie weiter, suchen ihren Weg und treiben in ihren Gedanken. Und vor allem Jas macht sich Vorwürfe, die Schuldige an Allem zu sein. Sie hat Angst vor dem Tod, zieht ihre Jacke nicht mehr aus, trägt allerhand Krimskrams in ihren Taschen mit sich, nur um zu sein, um Erinnerungen zu haben und weiter zu leben. Die Kinder probieren sich aus, erkunden sich sexuell, fügen sich Schmerzen zu, lassen Tiere sterben… Es ist als wären sie abgetrennt von der Außenwelt. Ihre eigene Welt, ihre eigenen Gesetze und vor allem Jas scheint irgendwo dazwischen stecken zu bleiben, zwischen Gott und Tod, Angst und Schmerz…

“Im Verlust finden wir uns selbst und sind, wer wir sind: verletzliche Wesen wie gerupfte Starenjunge, die ab und an nackt aus dem Nest fallen und hoffen, dass sie wieder aufgesammelt werden. Ich weine um die Kühe, ich weine um die drei Könige, aus Mitleid, und dann um das lächerliche, in eine Jacke der Angst gehüllte Selbst, die Tränen rasch wieder wegzukriegen.”

In diesem Zusammenhang zu sagen, dass es ein großartiges Buch ist, klingt irgendwie falsch und doch hat mich Rijneveld komplett in eine andere Welt katapultiert. Dieser so wahnsinnig düstere, abgrundtiefe Roman hat eine enorme Bildhaftigkeit und lässt den Schmerz, die Trauer, die Angst von Jas beinahe hautnah erleben. Und dabei entwickelt sich mit jeder Seite eine große Sogwirkung, ohne, dass es sich hierbei um einen Krimi handelt und doch denkt man nur: Was mag als nächstes passieren? Wer wird sterben? Wird wer sterben? Warum tun sie das? Warum merkt das denn niemand? Hilfe! Und das wühlte mich bis zur letzten Seite sehr auf und hat mich noch lange darüber hinaus beschäftigt.
Zwar ist das Ende nicht gerade das, was man sich zu Anfang erhofft und doch hat dieses Buch so etwas in sich Abgerundetes, das ich es einfach nur toll finden kann. Lize Spit selbst sagt: “Rijneveld erschafft eine finstere Welt voll wunderschöner Bilder.” und da merkt man wieder, wie ähnlich die beiden Autorinnen literarisch ‘unterwegs’ sind, denn genau so, wie “Und es schmilzt” endet, ist dieser ganze Roman. Fesselnd, bedrückend, tragisch, faszinierend, menschlich, wow. Also wer in Sachen Romanen einiges ab kann und Lize Spits Geschichte ebenso begeistert gelesen hat, der ist mit diesem Buch wunderbar bedient. Und zu allen anderen würde ich sagen: “Es ist wie der grausigste November. Lest mal vorsichtig rein und lasst dabei vielleicht das Licht an.”

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