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Veröffentlicht am 18.08.2021

Durchaus spannend, aber irgendwie "unfertig"

Kaltes Land
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Sabine Yao, Rechtsmedizinerin der Berliner BKA-Einheit „Extremdelikte“, wird unversehens mit einem Fall konfrontiert, der sie in ihrem Innersten erschüttert: Ihre seit Tagen vermisste Tante wurde in der ...

Sabine Yao, Rechtsmedizinerin der Berliner BKA-Einheit „Extremdelikte“, wird unversehens mit einem Fall konfrontiert, der sie in ihrem Innersten erschüttert: Ihre seit Tagen vermisste Tante wurde in der Nähe von Kiel tot aufgefunden, offenkundig wurde sie ermordet. Sabine reist sofort in ihre alte Heimat, und dank der Beziehungen ihres Chefs bekommt sie die Gelegenheit, sich über die Ermittlungsergebnisse zu informieren. Doch das reicht Sabine nicht – sie will den Fall aufklären. Und sie hat auch schon eine Spur …

Dass der habilitierte Rechtsmediziner Michael Tsokos auch fesselnde Bücher schreiben kann, hat er bereits mehr als einmal unter Beweis gestellt. Und auch „Kaltes Land“ bietet spannende Unterhaltung, wobei für mich vor allem die Verwendung des Fachvokabulars nicht nur faszinierend, sondern durchaus auch lehrreich war (merke: Löcher in einer Bluse nennt man „Stoffedefekte“, bestimmte Spuren heißen „Residuen“). Allerdings bleibt nach meinem Empfinden die Figurenzeichnung etwas auf der Strecke – die Figuren sind in ihrem Wesen, ihrem Charakter, ihren Empfindungen und Handlungen nicht soooo komplex – und auch das Ende kam etwas abrupt, was dem Roman etwas „Unfertiges“ verleiht.

Fazit: Ein durchaus solider Thriller, wenngleich bei Weitem nicht Tsokos‘ bester.

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Veröffentlicht am 28.05.2021

Streckenweise ermüdend und banal - aber sehr gut erzählt

Über Menschen
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Dora ist ausgelaugt. Die Beziehung zu ihrem Freund wird zusehends belastet, denn Robert entwickelt immer militantere Ansichten zum Umweltschutz, zur Durchsetzung von Corona-Maßnahmen, überhaupt zu allem, ...

Dora ist ausgelaugt. Die Beziehung zu ihrem Freund wird zusehends belastet, denn Robert entwickelt immer militantere Ansichten zum Umweltschutz, zur Durchsetzung von Corona-Maßnahmen, überhaupt zu allem, was derzeit bewegt. Und er erhält als Online-Redakteur ungeahnten Zuspruch. Dora selbst hat trotz der Pandemie und eingefrorener Budgets ihren Job als Senior-Texterin einer Werbeagentur zwar behalten können, doch das Homeoffice ihrer gemeinsamen Altbauwohnung ist plötzlich viel zu klein, viel zu eng, seit Robert und sie pausenlos aufeinanderhocken.

Kurzentschlossen packt Dora ihre Hündin und zieht in ihr frisch erworbenes Haus im brandenburgischen Dorf Bracken – ohne Robert. Ein altes Gutshaus, ein verwildetes Grundstück und „dank“ Lockdown viel Zeit; Dora hofft, hier endlich zur Ruhe zu kommen. Die Zimmer streichen, den Garten kultivieren und nebenbei an der Werbekampagne für ein neues – selbstverständlich nachhaltiges – Jeanslabel arbeiten: So könnte man dem Wahnsinn entkommen, ohne ihm selbst anheimzufallen.
Doch Bracken ist nicht Berlin, weder was seine Bewohnerinnen noch deren Leben oder Probleme angeht. Doras direkter Nachbar, der kahlrasierte „Gote“, stellt sich ihr gleich unmissverständlich als „der Dorf-Nazi“ vor. Der andere Nachbar, Heini, macht gerne Witze, die nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten. Tom wiederum, der mit seinem Mann Steffen eine kleine Floristik-Manufaktur unterhält, wählt die AfD. Eigentlich alles klar. Oder? Genau so stellt man sie sich vor, die Dörfler jenseits des Speckgürtels. Tendenziell rechts, rassistisch und abgehängt.

Doch so einfach ist die Welt, wie man sie sich als Vertreterin einer woken Generation im urbanen Berlin vorstellt, dann doch nicht, muss Dora erkennen. Wenn es um reale Personen geht, greifen sozio-kulturelle Kategorien nur bedingt – oder gar nicht. Denn der „Dorf-Nazi“ ist eben nicht nur der Dorf-Nazi (auch wenn er des Abends mit Gleichgesinnten das Horst-Wessel-Lied singt). Der AfD-Wähler ist nicht nur ein AfD-Wähler. Der homosexuelle Ex-Schauspieler nicht nur ein Feingeist. Doch wenn es auf all diese Kategorien nicht ankommt, wenn keine
r in die ihm zugewiesene Schublade passt, was sagt das über ihn und noch viel mehr über die aus, die in diesen Schubladen denkt? Und worauf kommt es denn eigentlich dann an?

Uff. Selten hat mich eine Lektüre so unentschlossen, so ratlos hinterlassen wie diese. Der Anfang des Romans hat mich entsetzlich erschöpft, denn Juli Zeh packt im ersten Viertel gleich das ganz große Besteck aus: Pandemie, Klimakatastrophe, Flüchtlingskrise, Alltagsrassismus, Rechtsextremismus, Chancenlosigkeit, Wendeverlierer, struktureller Wandel – es bleibt nahezu nichts unerwähnt. Und so sehr all diese Themen natürlich ihre Berechtigung haben, so sehr sie es verdient haben, auch literarisch geformt, benannt und transportiert zu werden: Es ermüdet nicht nur, letztlich wird die Fülle den Sachverhalten im Einzelnen auch nicht gerecht.

Die Geschichte Doras, die das urbane Kreuzberg hinter sich lässt, um im brandenburgischen Dorf Bracken der Pandemie (und ihrem bisherigen Leben) zu entfliehen, ist insgesamt zweifellos aktuell, die geschilderten Probleme akut, die Quintessenz ihrer Erkenntnis, dass soziokulturelle Kategorien nur bedingt dazu taugen, einen „echten“ Menschen in seiner Gesamtheit zu erfassen, wahr – und gleichzeitig entsetzlich banal.

Man muss nicht Soziologie studiert haben, um zu wissen, dass sich Identität aus vielen verschiedenen Rollen zusammensetzt, die mitunter in Konflikt zueinander stehen. Man muss nicht in ein brandenburgisches Dorf ziehen, um zu wissen, dass die Wende nicht nur „blühende Landschaften“ erzeugt hat. Und man muss auch nicht die Tochter eines wohlhabenden renommierten Chirurgen sein und erst eine alleinerziehende Mutter mit Knochenjob kennenlernen, um zu erkennen, dass soziale Ungerechtigkeit existiert. „Man“ muss das nicht – Dora, die naive, um nicht zu sagen: etwas dümmliche Protagonistin, schon.

Dennoch konnte ich dem Roman letzten Endes einiges abgewinnen, und das liegt vor allem an Juli Zehs Erzähltalent. So ermüdend für mich bisweilen der Inhalt, so banal die Botschaft auch waren – so gut waren die Sprache, die Art des Erzählens und letztlich auch die Handlung.

Deshalb kann ich „Über Menschen“ weder uneingeschränkt empfehlen, noch kann ich von der Lektüre abraten. Ich kann nur sagen, dass ich die Meinung jener, die das Buch feiern, ebenso nachvollziehen kann wie derer, die genervt die Augen verdrehen. Vielleicht macht ihr euch am besten selbst ein Bild?

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Veröffentlicht am 20.04.2021

Blieb hinter meinen Erwartungen zurück

Du hättest es wissen können
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Dein Mann hat dich belogen und betrogen? Er hat dich gedemütigt, herabgewürdigt, schlecht behandelt? Du stehst unmittelbar vor einer schmutzigen Scheidung oder bist gar mittendrin? Tja, Mädchen, selbst ...

Dein Mann hat dich belogen und betrogen? Er hat dich gedemütigt, herabgewürdigt, schlecht behandelt? Du stehst unmittelbar vor einer schmutzigen Scheidung oder bist gar mittendrin? Tja, Mädchen, selbst schuld. Denn: „Du hättest es wissen können“!

Davon ist zumindest Grace, eine erfolgreiche New Yorker Therapeutin, überzeugt. Und ihre Erkenntnisse möchte sie fortan nicht nur mit ihren Klientinnen, sondern mit einem breiten Publikum teilen: Die Premiere ihres Buches steht unmittelbar bevor, alle Zeichen stehen auf Erfolg. Denn Grace hat ihrerseits – selbstverständlich – in dieser Hinsicht alles richtig gemacht. Ihr Mann Jonathan, ein aufopferungsvoller Kinderonkologe, ist ein Musterexemplar von einem Ehemann, der gemeinsame Sohn die Krönung ihres Lebens. Okay, Jonathan hält so manche Verabredung nicht ein, verschwindet bisweilen unangekündigt zu Medizinerkongressen – aber hey!, was sind Graces Bedürfnisse und Befindlichkeiten schon im Vergleich zur Rettung eines Kinderlebens? Eben!
Dass in ihrer Ehe vielleicht doch nicht alles so ist, wie es scheint, dämmert Grace, als die Mutter eines Mitschülers ihres Sohnes ermordet aufgefunden wird und Jonathan spurlos verschwindet. Sollte sie, die doch ein absoluter Profi auf dem Gebiet ist, sich tatsächlich in ihm geirrt haben? Gibt es da etwas, was sie hätte wissen können? Man ahnt es schon bald: ja, sogar eine ganze Menge.

„You Should Have Known“, wie der Originaltitel lautet, ist nicht nur ein New-York-Times-Bestseller, sondern wurde von der US-amerikanischen Presse gefeiert: „Ein ausgebuffter psychologischer Spannungsroman“ sei das Buch, „absolut faszinierend“ sei es, „mitreißend“ oder „unfassbar gut“. Nun ja …

Ich kann die Begeisterungsstürme leider nicht teilen. Ja, der Roman hat seine guten Momente, er ist zweifelsohne kurzweilig und unterhaltsam. Dass Jonathan nicht der ist, der er zu sein scheint, ist zwar schnell – vielleicht etwas zu schnell – erkannt, doch die sich langsam enthüllenden Hintergründe sind wirklich spannend zu lesen. Was meinem Lesegenuss indes einen Abbruch getan hat, war die Protagonistin Grace, die in ihrer Naivität und Verblendung auf Dauer, pardon, eine echte Nervensäge wurde und mein Mitgefühl letztlich etwas überstrapazierte. Auch die meiner Ansicht nach etwas betuliche Übersetzung ließ mich das eine oder andere Mal die Stirn runzeln. Mein persönliches Fazit: Alles in allem ist der Roman ein Regenwetter-Couch-Wolldecke-Buch, das durchaus unterhält, dem man aber nicht mit einer allzu hohen Erwartungshaltung begegnen sollte.

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Veröffentlicht am 17.12.2020

Trotz einiger Déjà-vus spannend und unterhaltsam

Die gefährliche Mrs. Miller
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Er ist ihr höchst suspekt, dieser Lieferwagen, der seit geraumer Zeit immer wieder – und stets ziemlich lange, wie ihr scheint – in ihrer Straße parkt. Doch vielleicht liegt das auch an Phoebe Millers ...

Er ist ihr höchst suspekt, dieser Lieferwagen, der seit geraumer Zeit immer wieder – und stets ziemlich lange, wie ihr scheint – in ihrer Straße parkt. Doch vielleicht liegt das auch an Phoebe Millers Nerven, die blank liegen. Ihr verstorbener schwerreicher Vater hatte seine Finger nicht von den Frauen lassen können, was die Medien nach seinem Tod ausgeschlachtet haben. Ihre Ehe kriselt und droht an der Kinderfrage zu scheitern. Phoebe hat sich aus dem väterlichen Unternehmen zurückgezogen und sich zu Hause eingeigelt; es ist ein luxuriöses Zuhause, keine Frage, doch wirklich glücklich ist sie nicht. Und so schlägt sie die Zeit in Jogginghose und mit reichlich Wein tot. Bis dieser Lieferwagen auftaucht. Und nicht nur der: In das Haus gegenüber zieht eine neue Familie ein. Mit der Mutter freundet Phoebe sich rasch an, der Vater ist ihr höchst suspekt (und scheint überdies ein gewaltiges Aggressionsproblem zu haben). Und der Sohn … der achtzehnjährige Jake ist gutaussehend, charmant, überaus liebenswert. Phoebe und er verlieben sich Hals über Kopf ineinander und beschließen, gemeinsam abzuhauen. Doch Phoebe hat die Rechnung ohne die Frau in dem Lieferwagen – und alle anderen Beteiligten – gemacht …

„Die gefährliche Mrs. Miller“ spielt mit vielen thrillerüblichen Versatzstücken: Da ist die vereinsamte junge Frau, die mit ihrem Leben hadert, ein enttäuschter Ehemann, eine dysfunktionale Familie mit undurchsichtigen Motiven und die große Unbekannte, die in all dies hineinspielt. Ich hatte während der Lektüre wiederholt das Gefühl, alles irgendwie irgendwo schon einmal gelesen zu haben – doch ganz ehrlich? Das macht nichts. Denn der Roman ist trotz der Déjà-vus ein handwerklich solide gemachter, kurzweilig und spannend erzählter Thriller, der mir einige unterhaltsame Lesestunden beschert hat. Deshalb mein Fazit: Es wird vielleicht nicht das Thriller-Rad neu erfunden, aber für einen gemütlichen Sonntag auf der Couch ist das Buch allemal zu empfehlen.

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Veröffentlicht am 08.09.2020

Solide (Krimi-)Unterhaltung

Abgrund
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Wenn es um gut erzählte, spannende (Krimi-)Unterhaltung geht, ist Yrsa Sigurdardóttir für mich immer eine sichere Bank. Ich mag ihre Krimireihe um Þóra Guðmundsdóttir ebenso sehr wie ihre Island-Krimis, ...

Wenn es um gut erzählte, spannende (Krimi-)Unterhaltung geht, ist Yrsa Sigurdardóttir für mich immer eine sichere Bank. Ich mag ihre Krimireihe um Þóra Guðmundsdóttir ebenso sehr wie ihre Island-Krimis, die keiner Reihe zuzuordnen sind. Sie hat ein Talent für lebensnahe Figuren, verblüffende Auflösungen und natürlich für ganz viel „Island-Feeling“.

„Abgrund“ (aus dem Isländischen von Tina Flecken), der vierte Band der Krimireihe um den Kommissar Huldar und die Psychologin Freyia, bildet da keine Ausnahme. Im aktuellen Fall gibt ein merkwürdiger Todesfall der Kripo Reykjavik Rätsel auf. Der vermögende Investmentbanker Helgi wird erhängt in einem Lavafeld – ehedem eine Hinrichtungsstätte – aufgefunden. In seiner Brust steckt ein Zimmermannsnagel, der eine leider abgerissene Nachricht fixierte. Zur gleichen Zeit wird Freyia zu einem Notfall gerufen. In einer Luxuswohnung in einem exklusiven Wohnhaus wird ein kleiner Junge gefunden. Wie er dorthin gelangt ist, weiß er nicht, wo seine Eltern sind, auch nicht. Das Brisanteste ist jedoch die Wohnung: sie gehört dem toten Helgi …

„Abgrund“ ist sicherlich kein spannungsgeladener Pageturner wie etwa die Thriller von Sebastian Fitzek, dessen Lektüre seine LeserInnen atemlos von Cliffhanger zu Cliffhanger treibt. Yrsa Sigurdardóttir lässt sich Zeit, die Geschichte, die hinter dem mysteriösen Mordfall und das noch mysteriösere Auffinden des kleinen Jungen aufzurollen und auszuerzählen. Der Spannungsbogen ist eher subtil, gleichwohl stetig. Und die Hintergründe der Tat sowie die Auflösung sind in der Tat verblüffend.

Fazit: „Abgrund“ ist ein solider, unterhaltsamer Krimi, perfekt für einen Sonntag auf der Couch.

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