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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 25.01.2021

Atmosphärisch dicht, packende Spannung

Olympia
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REZENSION – Nach zweijähriger Pause erschien mit „Olympia“ der achte Band der historischen Krimireihe von Volker Kutscher (58) um den inzwischen zum Oberkommissar beförderten Gereon Rath, die vor 13 Jahren ...

REZENSION – Nach zweijähriger Pause erschien mit „Olympia“ der achte Band der historischen Krimireihe von Volker Kutscher (58) um den inzwischen zum Oberkommissar beförderten Gereon Rath, die vor 13 Jahren mit „Der nasse Fisch“ im Berlin des Jahres 1929 begann. Von Band zu Band, deren chronologische Lektüre zu empfehlen ist, zeigt Kutscher in atmosphärischer Dichte und zunehmend beängstigend die schleichende politische und damit einhergehende gesellschaftliche Veränderung durch die Nazis in der einst so lebensfrohen Reichshauptstadt. Der Autor macht an den Schicksalen seiner Figuren deutlich, wie der Einzelne, sofern er nicht dem Jubel der Massen erliegt, sich diesem Wandel nur schwer zu erwehren vermag, ohne in die innere Emigration oder in den stillen Widerstand zu gehen, anderenfalls er Schaden an Leib und Leben nehmen würde.
In Kutschers achtem Band „Olympia“ sind wir im Jahr 1936 angelangt, dem Jahr der Sommerolympiade in Berlin. Die Stadt ist festlich geschmückt, alle Nazi-Parolen und Zeichen antisemitischer Hetze und Diskriminierung sind verschwunden. Die Stadt „täuschte eine Weltoffenheit vor, die [ihr] in den letzten Jahren abhandengekommen war“. Doch während die bunte Kulisse die Weltöffentlichkeit zu täuschen versucht, verfängt sich Gereon Rath, ein vom SS-Obersturmbannführer Sebastian Tornow erpresster „Kriminalbeamter vom alten Schlage“, immer tiefer in den Machenschaften der Staatspolizei. Um nicht behelligt zu werden und sich einen kläglichen Rest persönlicher Freiheit zu wahren, spielt Rath das gehorsame, sich in sein Schicksal fügendes Werkzeug des NS-Sicherheitsdienstes, während Ehefrau Charlotte, „die sturste Frau des Universums“, ohne Gereons Wissen Fluchtwilligen mit gefälschten Pässen zur Ausreise verhilft.
Beide gelten als politisch unzuverlässig, weshalb sie ihren Pflegesohn, den 15-jährigen Fritze, an den SA-Funktionär Rademann abgeben mussten, um ihn dort zu einem „ordentlichen Deutschen“ erziehen zu lassen. Fritze, begeistert von der Hitlerjugend, ist als Mitglied des Jungehrendienstes im Olympischen Dorf zur Betreuung amerikanischer Sportler eingeteilt. Ausgerechnet dort muss nun Gereon Rath, zu dem Fritze keinen Kontakt aufnehmen darf, in einem Mordfall ermitteln: Der US-Funktionär Walter Morgan wurde vergiftet. SD und SS befürchten dahinter den Versuch von Kommunisten, die Spiele sabotieren zu wollen. Rath hat als erfahrener Mordermittler seine Zweifel. Doch dann findet sich tatsächlich im olympischen Dorf ein Zeuge mit kommunistischer Vergangenheit. Weitere Todesfälle geschehen, alle als Unfälle getarnt, deren Opfer sämtlich einen Bezug zu einem Fall aus 1935 haben, in dem Rath eine Schlüsselrolle spielte.
Wieder ist es diese Authentizität seines Romans, die Volker Kutschers „Olympia“ von anderen Autoren spürbar abhebt. Als Leser wird man dadurch in die Handlung förmlich reingezogen und vermag man sich der beängstigenden und bedrohlichen Atmosphäre kaum zu entziehen. Man durchlebt mit den Protagonisten deren Alltag, fühlt und leidet mit ihnen, lernt Regime-Mitläufer zu verstehen, skrupellose Nazis zu verachten, fürchtet um das Leben Unschuldiger – und vergisst fast, dass diese Zeit zum Glück schon Jahrzehnte zurückliegt.
In diesem achten Band lassen die Fanfaren zur Eröffnung der Spiele einen außerordentlichen Höhepunkt erwarten. Und „Olympia“ ist zweifellos – sowohl inhaltlich als auch in seiner Dramatik – ein Höhepunkt dieser ohnehin schon besonderen Krimireihe. Dieser Band könnte sogar – der überraschende Schluss trägt seinen Teil dazu bei – das ergreifende Finale dieser historischen Reihe sein. Doch Volker Kutscher hat uns zehn Bände versprochen. Da fragt man sich zwangsläufig, was denn jetzt noch kommen kann.

Veröffentlicht am 12.12.2020

Sprachgewaltig, poetisch und politisch aktuell

Das Meer der Libellen
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REZENSION – In ihrem preisgekrönten Debütroman „Der Ort, an dem die Reise endet“ (2016) beschäftigte sich die kenianische Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor (52) mit den Auswirkungen kolonialer Gewaltherrschaft ...

REZENSION – In ihrem preisgekrönten Debütroman „Der Ort, an dem die Reise endet“ (2016) beschäftigte sich die kenianische Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor (52) mit den Auswirkungen kolonialer Gewaltherrschaft und der Unabhängigkeitskämpfe ihres Landes. In ihrem zweiten, im September im Dumont-Verlag veröffentlichten Roman „Das Meer der Libellen“ schildert sie nun politisch aktuell am Lebensweg ihrer jungen Protagonistin Ayaana den nicht minder katastrophalen Fortgang der Entwicklung Kenias, das sich unter unfähigen und korrupten Regierungen von ausländischen Wirtschaftsmächten ausbeuten lässt.
Der Roman beginnt in den 1990er Jahren. Ayaana wächst als kleines Mädchen auf der dem Festland vorgelagerten Mangroven-Insel Pate auf - einem Ort, „der alle räumlichen und zeitlichen Verbindungen mit dem Rest der Welt ignorierte“. Die Bewohner leben noch immer von Fischfang oder Seefahrt. Handy und Tablet sind einzige Zugeständnisse an die industrielle Neuzeit. Auf Pate bleibt man gern unter sich, lebt in alter Tradition mit und von der Natur. Im umgebenden Meer, wohin die bunten Libellen alljährlich zurückkehren, fühlt sich Ayaana wohl: „Ein weiches, heiteres Sinken, eine vertraute Ruhe erfüllte sie, in der sich die Zeit und all ihre Probleme im Nichts auflösten.“
Jahre später, Ayaana ist inzwischen eine junge Frau, drängt das Weltgeschehen auch nach Pate durch. Wir hören vom Islamischen Staat und vom Tsunami. Die Chinesen beginnen, sich für Kenia zu interessieren. Unter dem Deckmantel freundschaftlicher Beziehungen und vermeintlicher Wirtschaftshilfe erweitert China sein Einflussgebiet und beutet die Rohstoffe Kenias aus. „Wie wir gehört haben, will China einen neuen Hafen bauen. Eine Ölpipeline soll quer über die Insel verlaufen. Wir haben gehört, dass eine ganze Stadt im Meer entstehen soll. All das wissen wir nur vom Hörensagen. Mit uns spricht China nicht.“
Im Rahmen diplomatischer Beziehungen erhält Ayaana ein Stipendium, um in China traditionelle Heilkunde zu studieren. Doch bald wechselt sie zur Schifffahrtskunde. „Was bedeutet das?“, wird sie von ihren Leuten auf Pate gefragt. „Dass ich ein Schiff nach Hause bringen kann.“ Voller Sehnsucht kehrt Ayaana tatsächlich nach Studienabschluss aus der chinesischen Millionen-Metropole enttäuscht auf ihre kleine Insel vor der kenianischen Küste zurück. „Ihre Generation hatte angeblich Geschmack an einer Welt gefunden, die anderswo hergestellt wurde. Sie hatte darin nichts gefunden, das zu besitzen sich lohnte. Je mehr sie in dieser Welt erlebt hatte, desto unsicherer war sie geworden.“ Trotz aller Verlockungen der großen weiten Welt vermisste Ayaana ihre Heimat, die kleine Insel ihrer Kindheit, ihr vertrautes Meer der Libellen: „Das Einzige, das ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelte, war das Meer. Dem Meer war sie immer willkommen.“
„Das Meer der Libellen“ überzeugt in inhaltlicher Tiefe und gewaltiger Ausdruckskraft. Der Roman aus Kenia begeistert durch seine atmosphärische, fast poetische Sprache voller Farben, Klänge und Düfte eines fernen Landes, wobei hier der Übersetzerin Simone Jakob ein besonderes Lob gebührt. Einerseits ist der Roman eine gefühlvolle Geschichte über das Erwachsenwerden einer jungen Kenianerin, der der Verlust ihrer geliebten Heimat droht – sei es durch Unfähigkeit der eigenen Regierung oder durch Einfluss ausländischer Mächte. Andererseits ist es gerade deshalb auch ein äußerst politischer Roman. Doch das politische Zeitgeschehen bindet Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor derart geschickt in die Geschichte Ayaanas und ihrer Freunde ein, dass man, fasziniert von den so unterschiedlichen Lebenswegen der Romanfiguren, Gefahr läuft, die harsche Kritik der Autorin am politischen System Kenias und dessen industrieller Abhängigkeit von China fast überliest.

Veröffentlicht am 24.11.2020

Weit mehr als ein Familienroman

Effingers
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REZENSION – Weit mehr als nur eine Geschichte über Aufstieg und Fall einer großbürgerlich-deutschen Familie ist der 1951 erstmals veröffentlichte und jetzt als Taschenbuch im btb-Verlag erschienene Roman ...

REZENSION – Weit mehr als nur eine Geschichte über Aufstieg und Fall einer großbürgerlich-deutschen Familie ist der 1951 erstmals veröffentlichte und jetzt als Taschenbuch im btb-Verlag erschienene Roman „Effingers“ von Gabriele Tergit (1894-1982). Deshalb wird ihm der gelegentliche Vergleich mit den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann nur im Ansatz gerecht. Denn im Grunde ist „Effingers“ eine detaillierte Gesellschaftsstudie jüdischen Lebens in Deutschland in seinen so verschiedenen Facetten und Strömungen von der deutschen Revolution 1848 über das Kaiserreich, zwei Weltkriege und den Holocaust bis zum Neubeginn im Jahr 1948.
Aufklärung und Revolution hatten den Juden in Deutschland neue Freiheiten und Aufstiegsmöglichkeiten verschafft. Dennoch blieb die erhoffte Gleichstellung mit den christlichen Mitbürgern aus. Antisemitismus wurde als gegeben hingenommen, die Juden blieben weiterhin unter sich und verheirateten sich untereinander. So ehelichte der Uhrmachersohn Paul Effinger aus dem fränkischen Städtchen Kragsheim, in den 1880er Jahren in Berlin zum Fabrikanten geworden, die Bankierstochter Klärchen Oppner, deren Vater Emmanuel Oppner einst in das Privatbankhaus Goldschmidt eingeheiratet hatte, das seitdem als Oppner & Goldschmidt firmierte. Die Berliner Privatbank war von Markus Goldschmidt gegründet worden, der 1848 als junger Mann auf den Barrikaden für Freiheit und Gleichheit gekämpft hatte und im Pariser Exil ins Bankgeschäft eingestiegen war.
Zunächst lernen wir die gesellschaftlichen Unterschiede innerhalb des deutschen Judentums in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kennen: Da leben die wohlhabenden Berliner Bankiersfamilien Oppner und Goldschmidt in riesigen Villen, feiern Maskenbälle und gründen Wohltätigkeitsvereine. Sie gehören der weltlich-humanistisch gebildeten Oberschicht an, deren Judentum nur noch Tradition, aber kein Glaubensbekenntnis ist. Klärchens Ehe mit Fabrikant Effinger kommt einem gesellschaftlichen Abstieg gleich, ist doch Paul nicht „nur“ ein Kaufmann, sondern Sohn eines einfachen Handwerkers. Uhrmacher Matthias Effinger, steht im Roman für den gläubigen, einfachen Juden, der noch allmorgendlich zum Gebet in die Synagoge geht und nach jüdischem Ritus lebt. Doch selbst ihn stören die aus Osteuropa eingewanderten orthodoxen Juden.
Der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung nach dem 1. Weltkrieg ermöglicht einerseits den jungen Frauen der Familien eine gewisse Selbstbestimmung, sie werden berufstätig wie die Schauspielerin Sofie Goldschmidt und die Frauenrechtlerin Marianne Effinger oder studieren wie Cousine Lotte. Doch andererseits beginnt der soziale Fall der Familien mit dem baldigen Verlust des Vermögens durch die Inflation und endet in völliger Enteignung und Vernichtung durch die Nazis. Marianne und Lotte, in deren Figur man die Autorin Gabriele Tergit erkennen kann, worauf Herausgeberin Nicole Henneberg in ihrem 13-seitigen Nachwort neben weiteren biografischen Parallelen zu Tergits Ahnenfamilien hinweist, beginnen in Palästina ein neues, völlig anderes Leben.
Stilistisch spürt man die journalistische Prägung der Autorin, die in der Weimarer Republik eine bekannte Gerichtsreporterin war: Kurze Kapitel und nicht allzu lange Sätze sorgen trotz der 900 Seiten für leichte Lesbarkeit, die angehängte Stammtafel ermöglicht Übersicht und Zuordnung der vielen Personen aus vier Generationen. Der historische Wandel eines ganzen Jahrhunderts mit markanten Daten und Fakten, der Beschreibung jüdischer Tradition und Riten und Schilderung von Aufstieg und Fall der Effingers, Oppners und Goldschmidts wird in kurzen Szenen, in Dialogen und Gesprächen im Familienkreis lebendig wiedergegeben. So wirkt „Effingers“ auch 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung noch immer als moderner Roman, der in heutiger Zeit eines wieder erstarkenden Antisemitismus nichts an Aktualität verloren hat und deshalb auch für jüngere Leser als Lektüre zu empfehlen ist.

Veröffentlicht am 11.11.2020

Aktueller Politthriller mit Niveau und Witz

Terrorland
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REZENSION – In Aktualität kaum noch steigerungsfähig scheint die Politthriller-Reihe des Historikers Christian v. Ditfurth. Obwohl „Terrorland“, der im August veröffentlichte sechste Roman um den eigenwilligen ...

REZENSION – In Aktualität kaum noch steigerungsfähig scheint die Politthriller-Reihe des Historikers Christian v. Ditfurth. Obwohl „Terrorland“, der im August veröffentlichte sechste Roman um den eigenwilligen Berliner Hauptkommissar Eugen de Bodt bereits im Vorjahr geschrieben wurde, wirkt er jetzt nach der Wahlniederlage Donald Trumps und unter dem Eindruck seines Kampfes um das Weiße Haus noch realistischer. Man könnte leicht vergessen, dass es sich nur um Fiktion handelt.
Wieder hat es Hauptkommissar Eugen de Bodt – wegen seiner unorthodoxen Arbeitsweise unbeliebt bei Vorgesetzten und Kollegen, aber Schützling der Kanzlerin – mit einer Reihe von Terrorakten in Berlin zu tun: Ein Touristenbus fliegt ausgerechnet vor der russischen Botschaft in die Luft, wobei auch der russische Botschafter ums Leben kommt. Ein Flugzeug explodiert bald nach dem Start am Berliner Himmel. Der neue Botschafter Russlands und dessen Familie werden ebenfalls ermordet. Steckt der Islamische Staat dahinter? Die deutschen Sicherheitsorgane sind ratlos. Kommissar de Bodt, der nichts von Vorschriften hält und gern selbst entscheidet, wann er vom Dienst suspendiert und wieder eingesetzt wird, vermutet bald, dass ein russischer Geheimdienst die Mitwisser einer groß angelegten Auslandsmission ausschaltet. Geht es um den amerikanischen Präsidenten Ronald Dump?
Vor sechs Jahren lernten wir in „Heldenfabrik“, dem ersten Band dieser wohl besten Politthriller-Reihe eines deutschen Autors, den ungewöhnlichen Kommissar de Bodt kennen. Er löst seine Kriminalfälle statt nach Lehrbuch lieber mit Hegel und Nietzsche, mit deren Zitaten er seine Mitmenschen ebenso nervt wie seine Mitarbeiter Silvia Salinger und den türkischstämmigen Computerfreak Yussuf. Die überlegene Weisheit der Philosophen macht es de Bodt möglich, sich über das Augenscheinliche zu erheben, um mittels Spekulation die die Wahrheit zu finden. „Spekulation ist eine Philosophie, welche die Ganzheit einer Sache betrachtet“, erklärt er es mit Hegel.
In Ditfurths neuem Roman dreht sich letztlich alles um den US-Präsidenten Ronald Dump. Allein schon die Namenswahl offenbart, wie der Autor zu Donald Trump steht, bedeutet doch das englische „dump“ so viel wie „Müllplatz“, umgangssprachlich sogar „Scheiße“. Mehrere Textstellen machen dies deutlicher: „Dump war ein unreifes Großmaul. Der auf dem Schulhof am Ende allein in der Ecke stünde, weil die Kameraden seiner überdrüssig wären.“ Bedenkt man, dass Ditfurth seinen Roman schon Monate vor Trumps Wahlniederlage abgeschlossen hat, erscheinen solche Textstellen fast prophetisch: „Wenn Dump die Wahlen verliert, gehen seine Anhänger auf die Straße. … Man muss das nur anheizen, Wahlfälschung und so weiter.“
In seiner Aktualität ist dieser Politthriller unübertroffen – nach der US-Wahl fast noch stärker als am Erscheinungstag. Der Roman kann es mit seiner in kurze Kapitel gegliederten und durch schnelle Szenenwechsel aktions- und temporeichen Handlung mit internationalen Bestsellern aufnehmen. Doch was diese niveauvolle Thrillerreihe zum besonderen Lesevergnügen macht, sind deren Ironie und Sarkasmus. Amüsant wie immer sind die in ihrer Schnoddrigkeit schon fast zu Kult gewordenen Dialoge zwischen Salinger und Yussuf oder die sich steigernde Wut des französischen Kommissars Lebranc auf seinen jungen, ihm geistig und kriminalistisch überlegenen Assistenten Floire. Nur Ditfurths allzu häufige Verächtlichmachung des US-Präsidenten stört in ihrer Übertreibung.

Veröffentlicht am 20.09.2020

Eine Romanbiografie, die wohl keinen Leser unbeeindruckt lässt

Kein Ort ist fern genug
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REZENSION – Das Schweigen der am Holocaust direkt beteiligten oder nur indirekt davon betroffenen Generation ist den Älteren in Deutschland noch aus persönlicher Erfahrung, den Jüngeren vielleicht aus ...

REZENSION – Das Schweigen der am Holocaust direkt beteiligten oder nur indirekt davon betroffenen Generation ist den Älteren in Deutschland noch aus persönlicher Erfahrung, den Jüngeren vielleicht aus der Literatur vertraut. Das Schweigen über das Unfassbare und Unvorstellbare als Thema des im Juli in deutscher Übersetzung erschienenen und für den Prix Goncourt nominierten französischen Romans „Kein Ort ist fern genug“ des argentinischen Schriftstellers Santiago Amigorena (58) wäre insofern nichts Neues. Doch bemerkenswert und deshalb lesenswert macht diesen internationalen Bestseller, dass es sich eben nicht um eine der üblichen Erinnerungen eines Holocaust-Opfers oder um eine Täter-Biografie handelt, sondern – eine völlig neue Sichtweise dieses Themas – um die Frage einer persönlichen Mitschuld des während des Nazi-Regimes längst in der fernen argentinischen Hauptstadt Buenos Aires lebenden Vicente Rosenberg, Großvater des seit Jahren in Paris lebenden Autors.
Vicente hatte bereits 1928 seine Heimatstadt Warschau verlassen und war als junger Mann nach Argentinien ausgewandert, um dort ein freies Lebens zu führen – frei von der Mutter, frei vom erstarkenden Antisemitismus in Polen. Bis 1940 führte er ein glückliches Familienleben, verheiratet mit Rosita, Vater kleiner Kinder, Inhaber eines vom Schwiegervater finanzierten Möbelgeschäfts. An seine in Warschau verbliebene Mutter Gustawa, seinen Bruder Berl und die in Russland verheiratete Schwester dachte und schrieb er kaum.
Mit jedem weiteren Brief der Mutter aus dem Warschauer Ghetto verdüstert sich auch Vicentes bisher so sorgloses Leben im fernen Buenos Aires von Mal zu Mal, wachsen Schuld und das Gefühl der Ohnmacht. Denn „kein Ort ist fern genug“, um nicht vom Geschehen in Europa und persönlicher Verantwortung unbehelligt bleiben zu können. Welches Grauen das Leben der Juden im Warschauer Ghetto bestimmt, ließ sich aus den Briefen der Mutter erahnen: „Wie die übrige Menschheit konnte Vicente wissen und gleichzeitig nicht wissen wollen“, beschreibt der Autor diese uns vertraute Haltung. Vicente verweigert sich anfangs diesem Wissen – aus Egoismus, aus Angst. Doch letztlich „wusste er genug, um zu beschließen, nicht mehr nur mit halbem Auge, sondern gar nicht mehr hinzuschauen“. Das Wissen, er hätte seine Mutter rechtzeitig nach Argentinien holen müssen und das Bewusstsein der tiefen Schuld, als Sohn versagt zu haben, lässt ihn bald verstummen und seiner Familie fremd werden. „Jetzt war er ein Flüchtiger, ein Feigling, der nicht da war, wo er hätte sein sollen, der geflohen war und noch lebte, während die Seinen umkamen.“ Vicente flieht in die innere Emigration, wird ein „Gefangener im Ghetto seines Schweigens“. Wann Großvater Vicente nach dem Krieg erfahren hat, dass Mutter Gustawa ins Vernichtungslager Treblinka II deportiert wurde und Bruder Berl schon beim Ghetto-Aufstand umgekommen waren, weiß der Enkel nicht. Denn auch in seiner Familie waren diese Jahre später kein Gesprächsthema.
Doch aus dem Wenigen, dass er und sein Bruder recherchieren konnten, schrieb Santiago Amigorena eine ergreifende Romanbiografie, die jeden Leser wohl tief beeindruckt und nachdenklich zurücklässt. Der Autor schafft es auf unvergleichliche Weise, uns an den quälenden Gedanken und der schmerzenden Verzweiflung seines schweigenden Großvaters, den er selbst kaum noch gekannt hat, lebensnah teilhaben zu lassen.