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Veröffentlicht am 22.03.2021

Von der Amöbe bis zum Schwarzen Loch

Die Erfindung der Welt
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Ich bin einfach überwältigt, allerdings meine ich das – genau so wenig wie Thomas Sautner die allermeisten Aussagen in seinem Roman – nicht im augenscheinlichen Sinne. Stattdessen lässt mich der Roman ...

Ich bin einfach überwältigt, allerdings meine ich das – genau so wenig wie Thomas Sautner die allermeisten Aussagen in seinem Roman – nicht im augenscheinlichen Sinne. Stattdessen lässt mich der Roman mit einem Gefühl von „das war alles viel zu viel, aber eigentlich doch irgendwie gar nichts“ zurück. So ist der Auftakt des Romans nahezu genial und einfach überragend. Die Schriftstellerin Aliza Berg erhält einen ominösen Brief mit der Bitte, einen Roman über das Leben zu schreiben. Alizas Auseinandersetzung mit dem Schreiben, ihre Art nach literaturwissenschaftlicher Manier jedem Wort und jedem Satzzeichen der Aufforderung einen tieferen Sinn abzutrotzen, ist meisterhaft und wahnsinnig unterhaltend. Ebenso grandios werden ihre Ankunft in Litstein, dem Ort in dessen Nähe der Auftragsroman angesiedelt sein soll, sowie ihre ersten Begegnungen mit den eigenwilligen und interessanten Figuren dieser Gemeinde geschildert. Wäre es so weitergegangen, hätte ich diesen Roman für immer bei mir getragen.

Stattdessen schwingt sich der Roman jedoch hinauf in die weiten Sphären des Universums, in existenzielle Problemstellungen und verliert sich in das Leben, den Sinn des Lebens, des Liebens und das Dasein hinterfragenden Episoden und Anekdoten. Er wird bevölkert von Figuren, die da oder doch nicht anwesend sind, und zerrinnt in metaphysisch anmutenden Betrachtungen. Die Handlung bleibt dabei naturgemäß nahezu auf der Strecke, während die Figurenentwicklung auf dem Altar des Universums geopfert wird. Ab einem gewissen Punkt verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Imagination, nichts ist mehr so greifbar und bodenständig wie die entschlossen klackernden Absätze von Alizas Schuhen auf dem Trottoir noch zu Beginn (S. 31). Dies ist allerdings gar nicht schlimm, denn ich unterstelle, dass der Roman den Leser verwirren, infrage stellen und zum tieferen Nachdenken anregen möchte, und dies gelingt ihm auf ganzer Linie. Da der Text darüber hinaus sprachlich ein Genuss ist, ist die Lektüre reizvoll und auch die Haptik des Buches mit sinnvoll auf den Inhalt bezogenem Titelfoto, ungewöhnlichem Format und rosa Lesebändchen macht viel Freude.

Dennoch: der Gesamteindruck, der mich am Ende des Romans begleitet ist, dass der Autor sich mit seiner Parabel der Unmöglichkeit die Gesamtheit des Lebens zwischen zwei Buchdeckel zu bannen, ebenso scheitert, wie Aliza selbst – der Kniff, der aus dem Roman wieder ein kleines Kunstwerk macht, ist jedoch gerade diese Erkenntnis: Sautner hat versucht, einen Roman über die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens zu schreiben und tappt dabei in die Falle, die er seiner Romanfigur stellt – aber vielleicht ist genau das so gewollt.

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Veröffentlicht am 05.12.2020

Begierde und Tod

Mr. Crane
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Mr. Crane also: eines der großen Talente der amerikanischen Literatur, sehr früh mit Ende 20 an TB verstorben. Doch wer nun ein Psychogramm des Autors am Ende seines Lebens erwartet, wird sich wundern. ...

Mr. Crane also: eines der großen Talente der amerikanischen Literatur, sehr früh mit Ende 20 an TB verstorben. Doch wer nun ein Psychogramm des Autors am Ende seines Lebens erwartet, wird sich wundern. Eigentlich müsste der Roman vielmehr „Schwester Elisabeth“ heißen, denn nicht Mr. Crane, sondern die Entwicklung und Entfaltung der ihn 1900 in Badenweiler pflegenden Krankenschwester steht im Zentrum dieses sprachlich sehr wunderbaren Romans.

Während des auf zwei Zeitebenen erzählten Geschehens durchlebt Schwester Elisabeth nochmals die für sie alles definierenden Tage im Sommer 1900, die sie zu der Figur werden lassen, die sie am Ende des Buches ist. Auch wenn der Roman vermutlich keinen feministischen Ansatz verfolgt: am Ende des Tages setzt er ein Ausrufezeichen hinter die Selbstbestimmung, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Frau. Irritierenderweise geht dieser Effekt auf Kosten der Protagonistin, die man zu Anfang der Geschichte als sympathische, fürsorgliche und etwas einsame Pflegerin wahrnimmt und am Ende als manipulativen und egozentrischen Charakter erkennt, die auf ihrem Weg den berühmten Autor zu einem Objekt ihrer Bedürfnisse macht. Diese Art der negativ verlaufenden Sympathielenkung findet man nicht häufig, sie ist hier der schonungslosen, ungefilterten Innensicht auf Elisabeths Gedanken und Emotionen geschuldet, auf ihr zielgerichtetes Vorgehen, ihre eigenen Wünsche erfüllt zu sehen. Unbequem wird Elisabeth als Figur vermutlich für den Leser auch dadurch, dass sie im Kontext ihrer Zeit „unangepasst“ wirkt und sich in ihrer Figur eine Vertauschung der Geschlechterrollen anbahnt. Während Crane immer schwächer und abhängiger wird, wird sie dominanter und rücksichtsloser in ihrem Handeln. Auch wenn Elisabeth also nicht meine Gunst erlangt, so ist sie als Figur sehr gut konzipiert.

Schwierigkeiten bereitete mir der obsessive Charakter der Beziehung zwischen Crane und Elisabeth. Ich mag dieses Verhältnis nicht als „Liebe“ bezeichnen, dazu war mir das Verhältnis zu „oversexed“. Sicherlich macht dieser Fokus Sinn, wenn es um die Idee einer Befreiung aus einer restriktiven Gesellschaft und Normenwelt geht, aber gestört hat es mich in dem Ausmaß den es hier einnahm dennoch – aber das ist selbstverständlich Geschmackssache.

Die wundervolle Sprache des Romans, die sehr gelungen und sinnvoll platzierten Bilder, haben mich jedoch begeistert und durch den Text getragen. Wortwahl und Stil haben mich von Anfang an in ihren Bann geschlagen. Was die Art des Schreibens angeht, gehört der Roman zu meinen Lieblingsbüchern in diesem Jahr – aber leider konnte die Story mich nicht ganz so abholen.

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Veröffentlicht am 02.11.2020

Weihnachtliches Rätselabenteuer für junge Spürnasen

Escape Room Adventskalender. Die drei unheimlichen Geschenke
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Auch wenn die titelgebenden "drei Geschenke" eher mysteriös als "unheimlich" sind, so macht dieses Adventskalender-Escape-Room-Abenteuer dennoch richtig Spaß.

Als die zwei Geschwister Toni und Luka ein ...

Auch wenn die titelgebenden "drei Geschenke" eher mysteriös als "unheimlich" sind, so macht dieses Adventskalender-Escape-Room-Abenteuer dennoch richtig Spaß.

Als die zwei Geschwister Toni und Luka ein Hilferuf des Weihnachtsmanns erreicht, zögern die beiden nicht lang und stürzen sich in die Mission. Der Leser darf die beiden bei ihrer Aufgabe begleiten, wobei die Geschichtenhäppchen jeden Tag eine gute Länge haben, die zum Selbst- aber auch gemeinsamen Lesen gut geeignet ist. Die Story hat für Kinder einen guten Spannungsgrad und enthält auch zusätzlich auch noch den einen oder anderen pädagogischen Subtext, wie z.B. die "wahren" Weihnachtsgeschenke. Die Rätsel sind sehr abwechslungsreich, haben oft einen schönen weihnachtlichen Bezug und sind vom Schwierigkeitsgrad für acht- bis neunjährige Kinder sehr passend, einige sind dabei sogar recht knifflig, da braucht es dann schon mal erwachsene Unterstützung.

Was mir persönlich nicht ganz so gut gefallen hat, waren die etwas lieblosen Zeichnungen, die sehr viel von einer Computergrafik hatten. Vielleicht geht es bei einem Escape-Room-Abenteuer nicht anders, aber da hätte ich mir etwas mehr Wärme und Weihnachtstouch gewünscht.

Alles in allem aber ein sehr gelungener, interessanter, unterhaltsamer und abwechslungsreicher Adventsspaß zum (gemeinsamen) Rätseln!

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Veröffentlicht am 08.10.2020

Unterhaltung nach bewährtem Muster

Und die Welt war jung
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Carmen Korn nimmt uns mit auf eine Reise durch die 50er Jahre im Auftaktband ihrer neuen Drei-Städte-Trilogie, in deren Mittelpunkt die Familien Aldenhoven und Borgfeldt stehen, die ihre Heimat in Köln, ...

Carmen Korn nimmt uns mit auf eine Reise durch die 50er Jahre im Auftaktband ihrer neuen Drei-Städte-Trilogie, in deren Mittelpunkt die Familien Aldenhoven und Borgfeldt stehen, die ihre Heimat in Köln, Hamburg und dem italienischen San Remo haben. Den Leser erwarten viel Familiengeschichte, Alltag, kleine und große Sorgen und das unaufhörliche Ticken der Zeit.

Wer Carmen Korns Jahrhundert-Trilogie bereits kennt, dem kommt in diesem Band einiges schon fast unheimlich vertraut vor – Und die Welt war jung zu lesen, ist fast wie nach Hause kommen – das hat sein Gutes, aber leider auch ein paar Schattenseiten. Der Aufbau des Romans ist identisch mit dem der drei Bände rund um die Hebammen in der Finkenau. Wir begleiten die Familien an ihren Heimatorten durch die Jahre, schlaglichtartig wird der Blick des Lesers auf einzelne Tage innerhalb des Jahresverlaufs gerichtet, an denen sich an den drei Orten die Handlung entwickelt. Diese wohlbekannte Art des Handlungsaufbaus führt trotz ihres fragmentarischen Charakters nicht dazu, dass der Leser den Eindruck hat, wichtige Teile des Geschehens zu verpassen. Gewählt wird dieser „Highlight-Stil“ von Carmen Korn wohl, weil es so möglich scheint, Längen im Erzählten zu vermeiden, leider gelingt dies, besonders im Hamburger Strang, der sich schier endlos um das Thema der von Schuldgefühlen geplagten Schwiegermutter zu drehen scheint, nur bedingt.

Die Figurenzeichnung erscheint – ebenfalls wie bei der Jahrhundert-Trilogie – recht alltäglich. Es entsteht zumindest auf den ersten Blick der Eindruck es mit authentischen, lebenden Personen zu tun zu haben, allerdings sind die Figuren zumeist auch alle recht einfach konzipiert und eine etwaige Tiefe entsteht hauptsächlich aus einem traumatischen Kriegs- oder Lebensereignis, an dem sich auch mit teilweise großer Beharrlichkeit festgehalten wird. Der Figurenkosmos, den der Roman aufspannt, ist dabei sehr umfassend. Obwohl ich den Roman fast in einem Rutsch durchgelesen habe, musste ich mir immer wieder bewusst klar machen, was zu Hamburg, was zu Köln gehört. Größere Lesepausen sollte man sich hier eher nicht gönnen. Außerdem gibt es in der Figurenkonstellation und -anlage zwei Punkte mit denen ich hadere: zum einen störte mich massiv, wie sich alles so wunderbar am Ende zusammenfügte – ich bin durchaus eine Verfechterin von glücklichen Schicksalen, aber hier war es mir einfach zu viel und zu überraschungsarm. Ich las ab einem gewissen Punkt nur noch, um meine Vermutungen bestätigt zu bekommen. Zum anderen erschien mir die Figurenanlage etwas eindimensional. Der Roman behandelt die Nachkriegszeit in Deutschland und Italien, seine Figuren sind aber ausschließlich Opfer der NS-Zeit und des Krieges: traumatisiert, ausgebombt, um die vergangene Zeit, die psychische und physische Gesundheit betrogen. Von den Tätern ist fast kaum eine Spur zu finden. Eine Personalisierung des verbrecherischen Regimes auf der Ebene der Hauptfiguren erfolgt nicht. Diese Entpersonalisierung kann eine bewusste Wahl der Autorin sein, um die Entmenschlichung der Diktatur zu unterstreichen, erscheint aber möglicherweise etwas zu unrealistisch und simplifizierend im Kontext eines Romans, der das Nachkriegsdeutschland beschreibt.

Stilistisch bleibt sich Carmen Korn treu. Sie blickt in ihre Figuren und neigt dabei zu vielen, elliptischen Sätzen. So liest sich dieser vorwiegend unterhaltende Roman sprachlich ansprechend und gerät nicht zu einfach. Dabei flicht Korn immer wieder Nostalgie-Momente und Lokalkolorit, sowie genaueste Orts- und Geschichtskenntnis ein. Das funktioniert sehr gut, manchmal erschienen mir die Fünfziger Jahre dennoch etwas sehr modern und der politische Kontext zu beiläufig. Richtig schön sind die kleinen Querverweise in die Welt der Jahrhundert-Trilogie, die sich natürlich nur nach der Lektüre der drei Bände erschließen. Man muss diese aber nicht gelesen haben, um sich durch Carmen Korns neues Werk unterhalten zu fühlen.

Insgesamt ist der Roman eine unterhaltsame Lesereise in die Nachkriegszeit, auf die ich mich sehr gefreut habe und die mir schöne Lesestunden beschert hat. Der Text baut solide auf dem bewährten Muster auf. Da liegt allerdings auch die Krux des Buches – für meinen Geschmack ist etwas zu bewährt und eingefahren. Viele Versatzstücke und Handlungselemente sind schon bekannt und erscheinen so wie eine Variation. Wenn die neue Trilogie nur das Universum der Jahrhundert-Bände erweitern soll, dann ist der Roman sehr gut gelungen, wenn es aber um eine Weiterentwicklung und Erneuerung geht, dann ist „Und die Welt war jung“ zu vorhersehbar und etwas betulich ausgefallen.

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Veröffentlicht am 22.09.2020

Großartiges Island, toller Erzähler, schwächere Handlung

Kalmann
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Kalmann ist ein sehr liebenswerter, in seinen intellektuellen Fähigkeiten eingeschränkter, Isländer, der im kleinen, einsamen Raufarhöfn seinen Lebensunterhalt mit Gammelhai verdient. Als ein wohlhabender ...

Kalmann ist ein sehr liebenswerter, in seinen intellektuellen Fähigkeiten eingeschränkter, Isländer, der im kleinen, einsamen Raufarhöfn seinen Lebensunterhalt mit Gammelhai verdient. Als ein wohlhabender Bürger seines Ortes verschwindet, gerät Kalmann mitten hinein in den Strudel der Ereignisse.

Ich liebe idiosynkratische, eigenartige und unzuverlässige Erzähler, und deshalb liebe ich auch Kalmanns Figur. Er ist in seinen Kommentaren und seiner Bewertung der Welt einfach herrlich authentisch und belebend. Es macht Freude der Langsamkeit seiner Gedanken und Überlegungen, seinen intuitiven Wahrnehmungen und seinen Gefühlen zu folgen und darüber nachzudenken, was seine Auslassungen und sein Schweigen zu gewissen Fragen zu bedeuten haben. Dem Autor ist es durchgängig gelungen, Kalmanns Stimme einzufangen. Da knirscht nichts, es wird nie vergessen, wer hier eigentlich spricht und wie er die die Welt sieht. Allerdings schöpft dieser Roman, trotz des andeutungsschwangeren letzten Kapitels, die Möglichkeiten, die ein unzuverlässiger Erzähler bietet nicht vollends aus - und das ist sehr schade, denn so bleibt der Roman hinter seinem eigentlichen Potenzial zurück und der (oder mehrere) finale Plot-Twists bleiben aus.

Die Handlung ist eigentlich gut angelegt, wird aber ebenfalls nicht konsequent zu Ende geführt. Die red herrings lösen sich zu schnell in Wohlgefallen auf, das Ganze könnte verstrickter, vertrackter, komplexer sein - für meinen Geschmack ist es einfach etwas zu gemächlich, zu beschaulich. Dazu: ein Krimi ist für mich gerade kein Genre für lose Enden, Mysteriöses darf zwar auch mal ruhig in der Luft hängen bleiben, aber dem Leser sollten zumindest Hinweise zum eigenständigen Schließen der Lücken an die Hand gegeben werden. Darüber hinaus empfinde ich die Eisbären-Handlung als befremdlich - aber das ist mein persönlicher Geschmack. Sie ist so angelegt, dass sie in der heutigen Zeit trotz ihres fiktionalen Charakters, eher unschön und unpassend ist.

Was mich absolut bezaubert hat, ist hingegen das wunderbare isländische Setting. Der Autor weiß, wovon er spricht und bannt diese großartige Insel mit ihren Besonderheiten vollkommen lebensecht auf die Seiten. Man spürt die raue Natur und Einsamkeit, die Abgeschiedenheit und Einfachheit des Lebens, aber auch die Bedrohung durch den Bevölkerungsschwund.

Kalmann ist ein Roman für Island-Liebhaber mit einem Herz für besondere Erzähler, für die die Krimihandlung nicht an erster Stelle steht.

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