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Veröffentlicht am 27.07.2022

Die Mutter von allem - und fraglos eins der Bücher des Jahres

Matrix
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Matrix - die Mutter von allem - so hat die Autorin ihr Buch genannt, und wie man sich denken kann, musste sie sich mit diesem Titel durchsetzen, ist er doch populärkulturell zurzeit mit gänzlich anderen ...

Matrix - die Mutter von allem - so hat die Autorin ihr Buch genannt, und wie man sich denken kann, musste sie sich mit diesem Titel durchsetzen, ist er doch populärkulturell zurzeit mit gänzlich anderen Assoziationen behaftet. Matrix, ein Erfolg in den USA und bereits durch seine Aufnahme in die letztjährige Bestenliste Barack Obamas geadelt, ist auch bei uns fraglos eins der Bücher des Jahres.

Lauren Groff hat die fiktive Geschichte von Marie de France aufgeschrieben, einer Dichterin des 12. Jahrhunderts, über die nur wenig bekannt ist. Auch Hildegard von Bingen war der Autorin eine Inspiration, ebenso wie Eleonore von Aquitanien. Letztere wird für Marie sowohl lebenslange Sehnsucht als auch immerschwelende Gefahr sein.

Als uneheliche Halbschwester der englischen Krone wird Marie siebzehnjährig, mit einer Mitgift und dem persönlichen Segen der Königin ausgestattet, in ein Nonnenkloster geschickt, das sie als Priorin leiten soll.

Ein hartes Los, denn das Kloster ist arm, die Nonnen hungern und werden von Krankheiten dahingerafft. Es passiert während des Morgengebets. Da entscheidet Marie - auch wegen mangelnder Alternativen -, an dem erbärmlichen Ort zu bleiben und das beste aus ihrem Schicksal zu machen.

Sie ist eine geborene Managerin. Marie beendet die Misswirtschaft, besetzt Posten um, sodass die Arbeiten jetzt nach Neigung und nicht mehr nach dem größtmöglichen persönlichen Opfer verrichtet werden, sie bringt säumige Zahler zur Raison. Ihr Organisationstalent und ihr Durchsetzungsvermögen, aber auch ihr gesunder Abstand zur christlichen Lehre, ihre moderne Interpretation der verstaubten Glaubensregeln sowie ihre individuelle Auslegung von Recht und Gerechtigkeit lassen das Kloster gedeihen und machen es zu einer wohlhabenden Stätte und Heimat für eine stetig wachsende Zahl von Frauen.

Fast fällt sie nicht auf, die komplette Abwesenheit von Männern in diesem Buch. Kein König, kein Bischof, noch nicht mal Jesus spielt eine Rolle. Ein notwendiges Übel sind sie stattdessen, das auf Abstand gehalten wird, so wie die Arbeiter im Steinbrecherlager, die ihr Werk verrichten und danach wieder gehen müssen, denn sie gefährden allein durch ihre Anwesenheit den gesellschaftlichen Frieden der Klostergemeinschaft sowie der Zinsbäuerinnen, die die klösterlichen Eigentümer bewirtschaften.

Der episodenhaft erzählte Roman liest sich in einem Zug durch. Dabei bietet er viel Erkenntnis, Inspiration und Ironie, dazu besticht er durch das Ungesagte zwischen den Zeilen.

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Veröffentlicht am 05.03.2022

Sie tragen ihr Leben lang eine kurze Schulhose

Den Wölfen zum Fraß
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Patrick McGuinness bringt uns mit der Geschichte „Den Wölfen zum Fraß“ ziemlich plausibel den Ursprung einiger verstörender Eigenarten des oberen, männlichen Teils der britische Klassengesellschaft nahe. ...

Patrick McGuinness bringt uns mit der Geschichte „Den Wölfen zum Fraß“ ziemlich plausibel den Ursprung einiger verstörender Eigenarten des oberen, männlichen Teils der britische Klassengesellschaft nahe. Wobei seine Geschichte eigentlich keine Geschichte ist, sondern vor gut zwölf Jahren tatsächlich passiert ist.

Michael Wolphram, pensionierter Lehrer des Eliteinternats Chapleton College, ist in dem Buch der einzige Verdächtige in einem Mordfall. Er soll seine Nachbarin Zalie Dyer getötet haben, und weil er elitär und zurückgezogen lebt, dient er der Öffentlichkeit als ideale Projektionsfläche für ihre Vorstellung von einem Frauenmörder. Auf diese einfache Lösung arbeiten die zwei zuständigen Ermittler zunächst auch hin.

Tatsächlich wurde im Winter 2010 die Landschaftsarchitektin Joanna Yeates in Bristol ermordet aufgefunden. Man verdächtigte den Ex-Lehrer Christopher Jefferies, und zwar ausreichend lange, um die Presse und die Öffentlichkeit massiv gegen den Mann aufzubringen. Er verklagte später zahlreiche Zeitungen erfolgreich auf Schadenersatz. Die Geschichte wurde verfilmt.

Patrick McGuinness’ Buch überzeugt mit einer gefeilten Sprache und den klugen Überlegungen des Ermittlers Ander Widowson, denen man seitenweise folgen kann, ohne dass es langweilig wird. Ander, zur Hälfte Holländer, halb Brite, war in den Achtzigern selbst am Chapleton College und hat den verdächtigen Michael Wolphram dort als Lehrer kennen und schätzen gelernt.

Im Gegensatz zu den anderen gleichgültigen und frustrierten Lehrern, allen voran der sadistische Konrektor Dr. Monk, inspirierte und respektierte Wolphram seine Schüler. Er analysierte mit ihnen Rilkes Panther oder schaute mit ihnen Quadrophenia. Daran kann Ander sich noch erinnern, und sein Partner Gary, selbst nicht den besten Kreisen entstammend, ist der erste, der Zweifel an der Schuld von Wolphram artikuliert.

„Den Wölfen zum Fraß“ ist weniger ein Kriminalroman, mehr ein erstklassiges Stück Literatur, das die naiv-idealisierte Vorstellung von Internaten und anderen Ausbildungsstätten ohne eine ausreichende familiäre Kontrolle Lügen straft. In Großbritannien tragen solche Einrichtungen zur Weiterführung und Verfestigung des Standessystems bei.

Gary sagt es etwas unverblümter, aber Ander stellt es zuerst fest: „Wenn du wissen willst, … was sie antreibt, da oben in ihren Houses of Parliament, ihren Banken oder Landsitzen, auf ihren Richterstühlen und Zeitungshaus-Rednertribünen … Meine Theorie ist, dass sie unter ihrem Prachtgewand immer noch eine kurze Schulhose tragen.“

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Veröffentlicht am 28.11.2021

Rätselhaftes Endzeitmärchen

Das Babel Projekt – Lifelike
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Eve Carpenter ist ein Cyborg, 17 Jahre alt und lebt in Dregs, einer Insel, die von einem durch ein Erdbeben fast restlos zerstörten Kalifornien übriggeblieben ist.

Nachdem sie während eines Roboterkampfes ...

Eve Carpenter ist ein Cyborg, 17 Jahre alt und lebt in Dregs, einer Insel, die von einem durch ein Erdbeben fast restlos zerstörten Kalifornien übriggeblieben ist.

Nachdem sie während eines Roboterkampfes ihren Achtzig-Tonnen-Gegner mit nur einem verzweifelten Schrei vernichtet hat, wird sie gejagt. Ihre Flucht ist zugleich die Suche nach ihrer wahren Identität. Denn immer wieder blitzen Erinnerungsstücke in ihrem Gehirn auf, die nicht zu Ihrem Leben zu passen scheinen.

Wer ist Eve Carpenter, was hat es mit Ana Monrova auf sich und wie wahrhaftig kann die Liebe eines Androiden sein? Wer die Parallelen zur 1918 ermordeten Romanowschen Zarenfamilie sieht, könnte die Zusammenhänge früh ahnen.

Lifelike ist ein Mad Max-ähnliches Endzeitmärchen, das die Frage nach dem Lebensgehalt von künstlicher Intelligenz stellt. Dreieinhalb Jahre nach seinem Erscheinen dürfen wir die Auftakt-Geschichte des Dreiteilers auf deutsch lesen. Es lohnt sich.

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Veröffentlicht am 30.10.2021

Ohne Gnade: Grace

Grace – Vom Preisträger des Booker Prize 2023 ("Prophet Song")
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Autor Paul Lynch verarbeitet in seinem dritten Roman „Grace“ die große Hungersnot, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland herrschte. 2,5 Millionen Menschen starben oder sie wanderten aus, was auch nicht ...

Autor Paul Lynch verarbeitet in seinem dritten Roman „Grace“ die große Hungersnot, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland herrschte. 2,5 Millionen Menschen starben oder sie wanderten aus, was auch nicht immer das Überleben bedeutet hat. 2017 ist das Buch erschienen, jetzt, vier Jahre später, auch bei uns auf deutsch.

Grace ist eine poetisch-entsetzliche Darstellung dieser Verhältnisse. Das Buch ist mit den Werken Charles Dickens’ verglichen worden, und da ist was dran, denn auch in „Grace“ prangert der Autor die Missstände der Zeit an, indem er sie am Versuch eines Kindes, zu überleben, in deprimierender Präzision schildert.

Grace ist 14, als sie sich unfreiwillig auf eine Reise ohne Ziel macht. Sie durchquert das Land, mal allein, mal in Gesellschaft, die nie von langer Dauer ist. Begleitung findet sie auch in den Schatten derer, die vor ihr gestorben sind, und an deren Tod sie sich mitschuldig fühlt. Dem Elend aber kann sie nie entkommen. Auf dem Land nicht, wo sie in Schuppen oder Ställen Unterschlupf sucht, in der Stadt schon gar nicht, wo noch viel mehr Unglückliche um die knappen Ressourcen kämpfen.

„Grace“ stellt die Frage nach dem Menschsein, wenn jeder nur noch auf die grundlegendsten Bedürfnisse reduziert ist, und lässt die Grenzen zwischen den Kreaturen verschwimmen. Zugleich zeichnet das Buch die Lage nach, wie man sie auch in den Geschichtsbüchern lesen kann. Der Zustand der Felder, die Nässe und der Schnee, die Suppenküchen, die sinnlosen Arbeitsangebote, mit denen man die Bevölkerung trotz der großen Not noch disziplinieren wollte, die erzwungene Entvölkerung des Landes, die vielen verlassenen Häuser.

Grace ist keine Heldin, darum bleibt es bis zum Schluss spannend, ob sie diese Odyssee überleben wird. Doch sie wird erwachsen auf ihrer Reise, und nachdem sie es geschafft hat, der Versuchung zu widerstehen, die ihr das Böse in Gestalt eines Paters offeriert, nimmt sie ihr Leben in die eigene Hand.

„Grace“ ist kein Buch, das man in einem Rutsch lesen kann. Aber jede Zeile ist es wert, gelesen zu werden.

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Veröffentlicht am 10.02.2021

Bis der Sturm kommt

Warten auf Wind
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Es ist der heißeste Sommer seit Ewigkeiten. Vinga ist zu ihrem Opa auf die Insel geflüchtet. Aus der Stadt, vor dem Vater und seiner neuen Frau, vor der Mutter, die nicht aufhört zu heulen, und vor dem ...

Es ist der heißeste Sommer seit Ewigkeiten. Vinga ist zu ihrem Opa auf die Insel geflüchtet. Aus der Stadt, vor dem Vater und seiner neuen Frau, vor der Mutter, die nicht aufhört zu heulen, und vor dem kaputten Leben zuhause. Auf der Insel steht die Zeit still. Auf dem Festland brennen die Wälder.

Vinga und ihr Opa, sie passen gut zusammen. Der schweigsame Seemann, der jeden Vogel benennen kann, und bei dem es Haferbrei zum Frühstück gibt. Und Vinga, die sich so schwertut mit Freundschaften, und die so maßlos enttäuscht wird von ihrer Familie.

Aus Vingas Sicht und ohne erzählerische Distanz erlebt man in Rückblicken die sich entwickelnde Trennung der Eltern, deren abstoßende Hilflosigkeit, das Anbiedern an ihr trauerndes Kind. Da ist man als Leser selbst erleichtert, wenn das Notwendigste erzählt ist und man endlich wieder auf die Insel darf.

Und dann kommt Rut. Sie bringt alles durcheinander. Um ihre Freundschaft muss Vinga sich bemühen. Ein Engel, sagt der Opa. Für Vinga ist sie „das schmale Schattenmädchen“. Während Vinga das Boot wieder seetüchtig macht, das sie vom Opa bekommen hat, leistet Rut ihr Gesellschaft.

Vinga muss im Laufe der Geschichte feststellen, dass man Wind braucht, wenn sich etwas bewegen soll. Und es kommt ein Sturm. Es ist eine regelrechte Vertreibung aus dem Paradies, nach der das Leben trotzdem weitergehen muss.

Ein schönes Buch mit Anspruch, das man nicht weglegen kann, und das seinen jungen Lesern noch lange im Kopf bleibt.

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