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Veröffentlicht am 11.04.2021

Ambitionierter Trilogie-Auftakt von Gustaf Skördeman mit Schwächen

Geiger
3

Onkel Stellan - ein früher in Schweden berühmter Fernsehmoderator - wird von seiner Tochter Malin erschossen in seinem Haus aufgefunden. Und Stellans Frau Agneta Broman ist verschwunden. Kommissarin Sara ...

Onkel Stellan - ein früher in Schweden berühmter Fernsehmoderator - wird von seiner Tochter Malin erschossen in seinem Haus aufgefunden. Und Stellans Frau Agneta Broman ist verschwunden. Kommissarin Sara Nowak, die für das Sittendezernat in Stockholm tätig ist und mit verschiedenen familiären Belastungen ihre Ehe, ihre Tochter Ebba sowie ihre Mutter Jane betreffend zu kämpfen hat, begleitet die Ermittlungen im Mordfall Stellan Broman. Denn Sara kennt die Familie Broman seit ihrer Kindheit, ist quasi im Haus von Familie Broman groß geworden.
Da die Ermordung von Stellan und das Verschwinden von Agneta Sara keine Ruhe lassen, unternimmt sie Ermittlungen auf eigene Faust und findet heraus, dass Stellan nicht nur ein begeisterter Anhänger der DDR, sondern als sog. IM (informeller Mitarbeiter) sogar ein Agent für die Stasi gewesen ist. Hat Onkel Stellan also seine Stasi Vergangenheit eingeholt und ist er deswegen ermordet worden?

Ich denke, dass es hilfreich ist, für den Krimi "Geiger" Interesse an politischen Themen, auch mit historischem Bezug - insbesondere an der Stasi sowie an der Beziehung von Schweden zur DDR - mitzubringen. Denn diese Themen nehmen im Rahmen der Ermittlungen von Sara Nowak die Ermordung von Onkel Stellan betreffend einen nicht unbedeutenden Umfang in "Geiger" ein. Auch wenn mir leider das Interesse an dieser Thematik fehlt, so hat mir doch gut gefallen, dass man auch ohne politisch historisches Vorwissen "Geiger" folgen kann, obgleich diese Themen schon in einer gewissen Komplexität und Tiefe behandelt werden. Denn da auch die Protagonistin Sara die DDR wie Stasi betreffend weitestgehend unbewandert ist, stellt sie diesbezüglich viele Fragen im Zuge ihrer Ermittlungen und so wird auch dem Leser vieles erklärt. Dabei habe ich einiges gelernt, was ich weder über die Stasi noch über die Beziehung von Schweden zur DDR wusste.

Neben der Stasi-/ DDR-Thematik nehmen auch Saras Arbeit in der Prostitutionsbekämpfung für das Sittendezernat sowie ihre familiären Probleme ihren Mann Martin, ihre Tochter Ebba sowie ihre Mutter Jane betreffend viel Raum in "Geiger" ein. Das mag bisweilen seine Längen haben und wäre meiner Ansicht nach vielleicht gelungener gewesen, wenn diese Schilderungen zumindest stellenweise kürzer ausgefallen wären. Gut gefallen hat mir, dass die familiären Dramen in Saras Leben nicht nur um ihrer selbst willen von Gustaf Skördeman erzählt wurden, sondern letztlich auch die Handlung vorangetrieben haben. So möchte ich jedem, der einen nur auf die Lösung eines Mordfalls fokussierten Krimi mit hohem Erzähltempo lesen möchte, eigentlich von diesem Politkrimi von Gustaf Skördeman abraten. Wer sich von einem recht komplexen, zum Mitdenken anregenden Politkrimi herausgefordert fühlt, wer auch eine nicht so leichte Politkrimi Kost mit über weite Strecken ruhigem Erzähltempo zu schätzen weiß, und wen weder die Stasi-/ DDR-Thematik noch eine komplizierte Protagonistin, deren Aggressionsprobleme und Wutanfälle einen immer wieder vor den Kopf stoßen und deren private Probleme sehr viel Raum einnehmen, abzuschrecken vermag, ist bei "Geiger" gut aufgehoben, wie ich finde.

Interessanter hätte ich es gefunden, wenn Gustaf Skördeman in "Geiger" den Fokus ein bisschen weniger auf Protagonistin Sara gelegen hätte und einige weitere Kapitel aus Sicht von Agneta Broman, deren Tochter Lotta oder der BND Mitarbeiterin Karla Breuer geschildert hätte. In solchen Perspektivwechseln ist die Leseprobe, die die ersten vierzig Seiten von "Geiger" beinhaltet, erzählt. Zwar finden sich in "Geiger" auch danach noch Kapitel, die nicht aus Sicht von Sara geschildert werden. Über weite Strecken von "Geiger" folgt man aber fast nur den Ermittlungen von Sara und erhält so leider nur selten Einblick etwa in die Gedankenwelt von Agneta, was ich sehr schade finde.

Und Gustaf Skördeman kann schreiben und das richtig gut. Dass "Geiger" schon in zwanzig Ländern erschienen ist, wundert mich da nicht. Auch eine Verfilmung von "Geiger" könnte ich mir gut vorstellen, da mir einige Kapitel - wie etwa das weiße an einen Leuchtturm erinnernde Gebäude umgeben von Wald, in dem IM Kellner wohnt - dafür prädestiniert scheinen. Da merkt man schon, dass Gustaf Skördeman eigentlich Drehbuchschreiber, Regisseur und Filmproduzent ist, wie ich finde.
Zudem glänzt "Geiger" neben schwedischem Lokalkolorit etwa in Gestalt der Abschlussfeierlichkeiten mit vielen ebenso eigenwilligen wie interessanten Nebencharakteren. Neben der ehemaligen Professorin Eva Hedin, die Sara bei ihren Ermittlungen unterstützt, wäre da wohl auch Saras Chefin - Hauptkommissarin Asa-Maria Lindblad - zu nennen. Auch wenn Asa-Maria Lindblad nur selten vorkommt, so wird sie doch von Gustaf Skördeman überzeugend als heimtückische Chefin, vor der alle Angst haben und deren einzige Stärke in motivierenden Facebook Beiträgen zu bestehen scheint, geschildert.

"Geiger" hätte mir jedoch besser gefallen, wenn einige unnötige Längen herausgekürzt worden wären. Insbesondere in der ersten Hälfte dieses Politkrimis hätte man manche Kapitel doch ein wenig straffen können. Auch die Nachbesserung an einigen, wenig logisch erscheinenden Stellen hätte Geiger nicht geschadet. Dies würde das Kapitel betreffen, in dem Agneta im neuen Look mit kurz geschnittenen Haaren von ihrem Enkel nicht mehr erkannt wird. Auch wäre es wohl besser gewesen, den Altersunterschied zwischen Lotta und ihrer Schwester Malin bzw. Sara um ein paar Jahre zu vergrößern.

Die Twists zum Schluss haben mich größtenteils überzeugt. Einige davon wurden zuvor geschickt von Gustaf Skördeman mittels einzelner Hinweise angedeutet, so dass es schon möglich gewesen ist, bei den Ermittlungen von Sara mitzurätseln.
Auch dass die verschiedenen Erzählstränge, die zum einen Saras Ermittlungen und zum anderen Saras Vergangenheit und Privatleben betreffen, am Ende zusammenlaufen, da sie in gewisser Weise - die ich natürlich nicht verraten möchte, um die Handlung nicht zu spoilern - zusammenhängen, hat mir gefallen. Darüber hinaus hat mich besonders die Erzählung von Agnetas Vergangenheit angesprochen, die mich tatsächlich ein wenig mit der politisch historischen Thematik von "Geiger" versöhnt hat, die mich sonst leider wenig interessiert hat.

"Geiger" gipfelt in einen spannenden, actionlastigen Showdown, der mir jedoch leider zu überladen und durcheinander gewesen ist - wohl insbesondere auch aufgrund des ruhigen Erzähltempos, das "Geiger" zuvor über weite Strecken geprägt hat. Bei diesem Showdown wäre für mich tatsächlich weniger mehr gewesen.
Zwar liefert "Geiger" in seinem letzten Drittel einige Auflösungen, hat insgesamt jedoch ein offenes Ende. Zudem ist "Geiger" dann recht plötzlich und schon ein wenig abrupt zu Ende, was vermutlich darin begründet liegt, dass in Band 2 die Handlung fortgeführt werden wird. Denn "Geiger" ist von Gustaf Skördeman als Trilogie angelegt.

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Veröffentlicht am 29.05.2021

Jugendbuch Thriller von Mel Wallis de Vries trotz interessanten Aufbaus und guter Ansätze mit Schwächen

Himmel oder Hölle?
2

Danielle, die unter der Scheidung ihrer Eltern leidet und von ihrem Ex-Freund - dem BWL-Studenten Stan - gestalkt wird, fährt in ihren Schulferien mit ihren Freundinnen Madelief, Loulou und Robin für einen ...

Danielle, die unter der Scheidung ihrer Eltern leidet und von ihrem Ex-Freund - dem BWL-Studenten Stan - gestalkt wird, fährt in ihren Schulferien mit ihren Freundinnen Madelief, Loulou und Robin für einen Skiurlaub nach Gerlos in Österreich. Dort lernt Danielle den attraktiven Amsterdamer Medizinstudenten Dante kennen und sie kommen sich näher. Wieder zurück aus dem Skiurlaub in Amsterdam verbringen Danielle und Dante nach einem Abendessen die Nacht zusammen, nachdem sie sich in einem Supermarkt beim Einkaufen wieder begegnet sind. Doch ist dieses Treffen im Supermarkt wirklich Zufall gewesen? Und welches Geheimnis verbirgt Dante?

An diesem Thriller des ONE-Verlags hat mir der flüssige, gut lesbare Schreibstil von Mel Wallis de Vries sehr zugesagt. Zudem hat mir gut gefallen, dass die Handlung von "Himmel oder Hölle?" in Perspektivwechseln sowie auf zwei Zeitebenen erzählt wird. So schildert das erste Kapitel an TAG 0 aus Sicht des Täters, wie er die sich in seiner Gewalt befindende Danielle mit der Kamera seines Handys aufnimmt, dabei sein Selbstbewusstsein wächst und sich Dunkelheit in ihm regt, wenn er sich vorstellt, was er der gefesselten Danielle antun wird.
Danach setzt die eigentliche Handlung 17 Tage zuvor in Gerlos in Österreich ein, wo die Amsterdamer Freundinnen Loulou, Robin, Madelief und Danielle ihre Ferien verbringen. Von da an erzählt Mel Wallis de Vries ihre Geschichte an diesen vorherigen Tagen im Wechsel mit Tag 0 und bewegt sich dabei auf diesen Tag 0 zu, um in einem Epilog, der 122 Tage später spielt, zu enden. Dieser Aufbau von "Himmel oder Hölle?" hat mir insgesamt zugesagt. Dabei haben mich besonders die düsteren Tag 0 Kapitel überzeugt, die Einblick in die Gedankenwelt des Täters bieten, da sie aus seiner Sicht geschildert sind.

Danielles ebenso warmherzige wie freundliche und hilfsbereite Freundin Madelief ist die einzig nette Person in Danielles Umfeld. So konfrontiert Mel Wallis de Vries schon zu Beginn von "Himmel oder Hölle?" den Leser damit, wie Danielles "Freundin" Loulou auf ihr herumhackt, weil sie ein heruntergekommenes Apartment für den Skiurlaub gebucht hat, als sie sich von geschönten Fotos der Wahrheit hat täuschen lassen. Zudem macht Loulou sich in gehässiger Weise über die noch unerfahrene Skifahrerin Danielle, die erst im letzten Jahr Skifahren gelernt hat, lustig. Danielles "Freundin" Robin ist da kaum besser.
Und Danielles Ex-Freund Stan, mit dem sie einst ihre Traurigkeit verbunden hat, weil sie unter der Scheidung ihrer Eltern gelitten hat so wie Stan unter dem Verlust seiner Mutter, die an Krebs gestorben ist, zeigt seit Danielles Trennung von ihm Stalking ähnliche Verhaltensweisen. So ruft Stan Danielle etwa täglich an, schreibt ihr ständig, beobachtet, wann sie online geht, und steht nachts vor ihrem Haus. Zudem zeigt der attraktive Medizinstudent Dante, der aus schwierigen Verhältnissen stammt, da er seit seinem neunten Lebensjahr in einer Pflegefamilie groß geworden ist, nachdem sein Vater nach dem Krebs Tod seiner Mutter verschwunden ist, ein Danielle gegenüber kontrollsüchtiges und gelinge gesagt ziemlich irritierendes Verhalten.
Für den weiteren Verlauf von "Himmel oder Hölle?" hätte ich mir gewünscht, dass Danielle mehr Selbstvertrauen und Durchsetzungsstärke entwickeln würde, dass sie weniger versuchen würde es allen Recht zu machen, sondern stattdessen lernen würde, klare Grenzen zu setzen und sich aus schwierigen Beziehungen zu lösen. Doch leider ist diese Entwicklung nicht erfolgt. Darüber hinaus spricht Mel Wallis de Vries in diesem Thriller zwar eine Vielzahl weiterer gleichermaßen schwieriger wie relevanter Themen an - wie etwa Bodyshaming, Selbstverletzung oder auch psychische Erkrankungen. Aber auch bei diesen Themen ist eine kritischere Auseinandersetzung leider nicht in "Himmel oder Hölle?" erfolgt, wie ich sie mir insbesondere bei einem Jugendbuch gewünscht hätte.

Obwohl man bedingt durch den Aufbau von "Himmel oder Hölle", da man als Leser durch die eingeschobenen Tag 0 Kapitel nach und nach weitere Informationen zum Täter erhält, die ganze Zeit miträtselt, wer Danielle da an Tag 0 in seiner Gewalt hat, errät wohl keiner die Auflösung, die Mel Wallis de Vries schließlich liefert. Dass die Enthüllung des Täters ebenso überraschend wie unerwartet kommt, hat mir einerseits gefallen. Andererseits geht diese leider ein wenig zu lasten der Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit des Täters, wie ich finde. So hätte ich mir mehr Informationen zum Hintergrund des Entführers von Danielle - wie insbesondere zu seiner wohl schwierigen Vergangenheit - gewünscht. Womöglich hätten auch ein paar weniger falsche Fährten und ein etwas kleinerer Kreis an Verdächtigen diesem Thriller von Mel Wallis de Vries gut getan. Danielle hat nun wirklich keinen Mangel an aufgrund ihres stalkenden, mobbenden oder auch kontrollsüchtigen Verhaltens schwierigen Personen in ihrem Umfeld. Denn gerade aufgrund der vielen falschen Fährten, die dann letztlich doch ins Leere laufen, und des wirklich umfangreichen Kreises an Personen, die Danielle womöglich Schaden zufügen wollen, hat "Himmel oder Hölle" bisweilen schon seine Längen und ist gerade in seiner ersten Hälfte über weite Strecken eher weniger spannend für einen Thriller, da dafür dann doch einfach zu wenig passiert.

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Veröffentlicht am 21.02.2021

Debütroman "Liars" von Naomi Joy trotz guter Ansätze mit Schwächen

Flieh, so weit du kannst
1

Nach dem Tod ihrer Freundin Olivia - der Tochter des PR-Gurus David Stein - konkurrieren Ava und Jade bei der PR-Agentur Watson & Stein Partners in London um die Beförderung zur Teamleiterin. Dabei verbindet ...

Nach dem Tod ihrer Freundin Olivia - der Tochter des PR-Gurus David Stein - konkurrieren Ava und Jade bei der PR-Agentur Watson & Stein Partners in London um die Beförderung zur Teamleiterin. Dabei verbindet Ava und Jade ein Geheimnis Olivias Tod betreffend. Zudem leidet Ava unter ihrem kontrollsüchtigen Freund Charlie, von dem sie sich trennen möchte. Da sie finanzielle Probleme daran hindern, bittet sie ihren Chef David Stein um Hilfe, der sie in Olivias Haus einziehen lässt. Doch wer ist es, der des nachts - unbemerkt von Ava, wenn sie badet oder schläft - durch Olivias Haus schleicht?

"Liars" - so lauter der Titel des Debütromans im Original von Naomi Joy. Diesen Titel finde ich passender als den deutschen Titel "Flieh, so weit du kannst". Und auch die im englischen Original dezent gehaltenere Cover Gestaltung scheint mir besser zu diesem Roman von Naomi Joy zu passen als das sehr düstere Cover mit den blutroten Innenseiten von "Flieh, so weit du kannst".

Interessiert hat mich an diesem Debütroman von Naomi Joy die ungewöhnliche Erzählweise. So beginnt dieser Roman mit einem Artikel über den zweiten Schicksalsschlag für David Stein, wie er seine Tochter Olivia verloren hat, um die dann folgenden Kapitel abwechselnd aus der Perspektive von Ava und Jade in ihrem Konkurrenzkampf um die Beförderung zur Teamleiterin zu schildern. Besonders interessant fand ich dabei, wenn genau die gleiche Situation zunächst aus Sicht von Jade und dann aus Sicht von Ava geschildert wird und wie verschieden die Wahrnehmung genau des gleichen Gesprächs doch sein kann.
Zudem wird in den Perspektivwechseln deutlich, welch ungesunde Beziehung Jade aufgrund ihrer Eifersucht zu Ava pflegt, wie insbesondere Erinnerungen von Jade an Gespräche mit ihrer Therapeutin zeigen. Gefallen hat mir, dass im späteren Verlauf von "Flieh soweit du kannst" die Erzählung der Handlung um weitere Perspektiven ergänzt wird.

Nicht nur zu Beginn, auch in der Mitte und gegen Ende dieses Romans von Naomi Joy finden sich weitere Zeitungsartikel. Und auch wenn die darin enthaltenen Informationen teils redundant zur übrigen Erzählung der Handlung sind, so haben sie mir dennoch gut gefallen. Denn die eingebauten Zeitungsartikel stellen einerseits einen ungewöhnlichen Stil dar, andererseits hat die Presse - wie sich mit der Auflösung des Romans zeigen wird - mit diesen Artikeln ihren eigenen Anteil an der Geschichte von "Flieh soweit du kannst".

Besonders stark fand ich zu Beginn des Romans, wenn Avas Verhältnis zu ihrem kontrollsüchtigen Freund Charlie dargestellt wird. Denn in eindringlicher, beklemmender Weise schildert Naomi Joy, wie Charlie Ava kontrolliert, emotional erpresst und komplett von ihrem sozialen Umfeld isoliert hat, so dass Ava nichts unversucht lässt, um Charlie möglichst aus dem Weg zu gehen.
Charlie ist nicht nur kontrollsüchtig, in seinen manischen Zügen ist er mir fast noch unheimlicher. Das schließt insbesondere den wohl unangenehmsten Heiratsantrag, den man sich denken kann, bei einem schlechten Frühstück und einem von Avas Geld gekauften Ring mit ein. Zudem lassen Charlie Drogenkonsum und weil er trotz hohen Konsums, so schlecht mit Drogen umzugehen weiß, ihn unberechenbar und gewalttätig werden.
So hat Charlie zu Beginn von "Flieh soweit du kannst" zwar einige starke Auftritte. Schade ist nur, dass Charlie so früh im Roman bereits quasi nicht mehr in Erscheinung tritt.

Der große Vorteil an "Flieh soweit du kannst" ist mit Sicherheit der sehr flüssige Schreibstil von Naomi Joy, der sich auch dann noch erstaunlich leicht und gut liest, wenn einem der Roman leider weniger gefällt oder die Handlung gerade weniger interessant ist, wie ich finde.

Und leider hat mir "Flieh soweit du kannst" insgesamt eher weniger gut gefallen. Das liegt zum einen an den Twists dieses Romans, die mich leider nicht überzeugt haben. Der Twist in der Mitte des Romans Ava betreffend erscheint mir unglaubwürdig, da er zu sehr vom Himmel gefallen zu sein scheint. Dieser Twist ist für mich nicht wirklich nachvollziehbar und mit der Auflösung zum Ende des Romans erscheint er mir sogar eher unlogisch.
Auch die Auflösung, wer denn nun der Antagonist resp. die Antagonistin ist, hat mir nicht zugesagt. Denn diese Auflösung ist für mich leider zu offensichtlich gewesen und von mir schon lange vor Ende des Romans vermutet worden, da sie zu oft und zu deutlich angedeutet wurde. Insofern ist mir diese Auflösung zu mau gewesen und auch die Ausführungen zu Motivation und vorigen Morden des / der Antagonist(in) haben das für mich nicht herausgerissen.

Auch muss ich zugeben, dass ich noch nie einen Roman gelesen habe, in dem ich fast alle Charaktere derart unsympathisch fand. So sind mir sowohl Ava als auch Jade unsympathisch. Je mehr ich im Verlauf von "Flieh soweit du kannst" über Ava erfahren habe, desto schwerer ist es mir gefallen sie sympathisch zu finden. Und Jade ist von Beginn an ein schwieriger Typ gewesen.
Ich möchte die Handlung nicht unnötig spoilern, aber wie der englische Titel schon nahe legt, ist Ava nicht gerade die Ehrlichkeit in Person. Schwierig finde ich, dass von Naomi Joy Avas Unehrlichkeit mit der Schilderung eines großen Teils der Handlung aus Avas Perspektive kombiniert wird. Denn nicht nur Avas Umfeld ist von ihren Lügen überrascht, sondern auch der Leser. Denn diese finden sich in Avas Gedanken - abgesehen von einer Ausnahme - nicht wieder, bis sie denn von ihrem Umfeld aufgedeckt werden.
Da gefallen mir dann sogar die Teile der Handlung, die aus Jades Perspektive dargestellt werden, besser - auch wenn diese ihre Längen haben und Jade nicht nur unsympathisch, sondern auch ganz schön nervig und anstrengend sein kann. Denn letztlich sind diese Kapitel dann doch in sich schlüssiger und stimmiger, wie ich finde. Auch hat der Twist zur Mitte des Romans, der Jade betreffen würde, mir zugesagt.

Bei "Flieh soweit du kannst" hatte ich einen Thriller erwartet, der das Thema Stalking behandeln würde. Meine Erwartungen sind leider enttäuscht worden. Auch wenn dieser Roman von Naomi Joy im letzten Drittel mehr Thriller Elemente aufweist als zuvor und mit einem recht actionlastigen, spannenden Showdown im Finale aufwartet, so lässt das "Flieh soweit du kannst" noch lange nicht zu einem Thriller für mich werden.
Auch rückt das Thema Stalking nach einem starken Beginn leider schnell in den Hintergrund und kommt im weiteren Verlauf nur noch am Rande vor.

Zudem möchte ich eine Warnung aussprechen, dass "Flieh soweit du kannst" meiner Ansicht nach kein Roman für Zart Besaitete ist. Denn es gibt eine einzige Szene, die sich an Jades Vernehmung bei der Polizei anschließt, die wirklich heftig ist. Die Szene ist stark geschrieben und würde vermutlich jeden Horrorfan, der einen Film wie "Event Horizon" zu schätzen weiß, glücklich machen. Aber in "Flieh soweit du kannst" scheint mir diese Passage nicht hineinzupassen.

Ich denke, dass man aus "Flieh soweit du kannst" einen weit besseren Roman machen könnte, wenn unnötige Längen herausgekürzt werden würden. Dies würde etwa die nicht zum übrigen Roman passende, bereits erwähnte Horrorszene mit einschließen. Aber auch bei letztlich überflüssigen Nebenfiguren und -handlungen wie beispielsweise dem Launch Event, das viel Raum im Roman einnimmt, könnte gekürzt werden. Auch Redundanzen - wie Wiederholungen bestimmter Sätze, sich wiederholende Andeutungen, redundante Informationen in den Zeitungsartikeln - sind nicht nötig. Bei einer nach Kürzung weniger mäandernden, stattdessen stringenteren Handlung würde dann so richtig zum Tragen kommen, was für mich die große Stärke von Naomi Joy ist: ihr flüssiger, gut lesbarer Schreibstil, der vermutlich fast jeden überzeugen würde und einen dann wohl sogar über Schwächen in der Handlung hinwegsehen lassen könnte.

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