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Veröffentlicht am 13.03.2021

Die geheimnisvolle Dritte

Die dritte Frau
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Das im Louvre hängende, aus dem 16. Jahrhundert stammende Renaissance-Gemälde „Gabrielle d’Estrées und eine ihrer Schwestern“, auf dem die dargestellten Frauen nackt in einer Badewanne sitzen, zieht den ...

Das im Louvre hängende, aus dem 16. Jahrhundert stammende Renaissance-Gemälde „Gabrielle d’Estrées und eine ihrer Schwestern“, auf dem die dargestellten Frauen nackt in einer Badewanne sitzen, zieht den Autor immer wieder magisch an, hat er doch vor Jahren darüber einen beachteten historischen Roman geschrieben. Er versucht schon lange, den rätselhaften Tod der Herzogin zu entschlüsseln, die unter bisher ungeklärten Umständen ums Leben kam, kurz bevor sie den französischen König Heinrich IV heiraten wollte. Ein alter Brief, den er bisher nicht beachtet hat, bringt ihn ins südfranzösische Toulouse, wo er auf Camille Balzac d’Entragues trifft, mit der er sich gemeinsam an die Recherche macht, die wahre Geschichte über das Bild in Erfahrung zu bringen…
Wolfram Fleischhauer hat mit „Die dritte Frau“ einen unterhaltsamen Roman vorgelegt, der sich nicht nur mit den Hintergründen eines Gemäldes beschäftigt, sondern auch die zwischenmenschliche Seite in der Gegenwart betrachtet, die seinen Protagonisten-Autor und Camille betreffen. Der flüssige, sehr bildhafte und wortgewandte Erzählstil nimmt den Leser mit auf eine interessante Forschungsreise, auf der er zum einen den unbekannten Autor, der hier als Ich-Erzähler fungiert, bei seinen Hintergrundrecherchen begleitet, zum anderen wird er Zeuge einer sich anbahnenden Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und Camille, der Spurengeberin des Gemäldehintergrunds, die sich allerdings in dem Moment als Farce entpuppt, als der Erzähler feststellen muss, dass Camille einen ganz besonderen Plan verfolgt. Fleischhauer verpackt in seiner Geschichte viele gut recherchierte historische Details, lässt aber auch Raum für überraschende Wendungen, die den Leser dauerhaft in Atem halten, während er mit dem Erzähler auf den Spuren des Gemäldes wandelt. Interessant ist die Verbindung des Handlungskonzepts zum Roman „Die Purpurlinie“ von Fleischhauer, die vermuten lässt, dass er selbst in diesem Roman als Erzähler auftritt und der Leser sich während der Lektüre indirekt also an seine Fersen heftet. Dabei erfährt man nicht nur, wie ein historischer Roman entsteht und welchen Umfang die Recherchen dazu einnehmen, sondern erhält auch einen guten Blick hinter die Kulissen der Buchbranche.
Die Charaktere sind gut in Szene gesetzt, mit authentischen Ecken und Kanten können sie den Leser von ihrer Glaubwürdigkeit überzeugen, der ihre Erlebnisse hautnah verfolgt. Der Erzähler hat nicht nur private Probleme, sondern befindet sich zudem in einer Schaffenskrise, die ihn nicht nur aufgrund von Selbstzweifeln, sondern auch aufgrund der Forderungen seiner Agentin in ein Loch fallen lassen. Literaturagentin Moran ist eine hartnäckige Frau, die gewinnorientiert denkt und ihren Autor dementsprechend zu steuern versucht. Camille ist eine schwer durchschaubare Frau. Sie weiß zu becircen, ist dominierend und versucht ebenso, mit ihrem Anspruchsdenken sowie ihren Launen zu manipulieren.
„Die dritte Frau“ ist eine gekonnte und spannende Verflechtung von Historie und Gegenwartsbeziehung, die zu fesseln weiß. Wer einer Forschungsreise der besonderen Art mit unbekanntem Ausgang nicht abgeneigt ist, wird dieses Buch faszinierend finden. Verdiente Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 07.03.2021

"Alles Denken, das in die Tiefe geht, endet in ethischer Mystik." (Albert Schweitzer)

Das Geheimnis der Themse
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1894 London. Seit zwei Jahren ist die ehemalige Gouvernante Charlotte nun mit dem Journalisten Tom Ashdown verheiratet, doch mit der eigenen Familienplanung will es partout nicht klappen. Die Kinderlosigkeit ...

1894 London. Seit zwei Jahren ist die ehemalige Gouvernante Charlotte nun mit dem Journalisten Tom Ashdown verheiratet, doch mit der eigenen Familienplanung will es partout nicht klappen. Die Kinderlosigkeit macht dem Ehepaar zu schaffen, so dass für beide das Tom vom Verleger Sir Tristan Jellicoe angetragene neue Buchprojekt über die mystischen Orte Londons genau rechtzeitig kommt, um sich abzulenken und eng zusammenzuarbeiten. Währenddessen findet der Waisenjunge Alfie bei der Strandsuche am Ufer der Themse die Leiche von Laura Danby, doch die Polizei hat kein großes Interesse an dem Fall, den sie als Unglück einstufen. Toms Neugier, der bei seinen Buchnachforschungen Alfie begegnet und von dem Leichenfund hört, wird geweckt und spornt ihn zu weiteren Recherchen an, die ihn auf okkulte Geheimgesellschaften und magische Zirkel stoßen lassen. Charlotte dagegen macht bei ihrer Suche nach der Herkunft einer alten Silbermünze die Bekanntschaft von Mrs. Danby, der Mutter der Toten. Weder Charlotte noch Tom glauben an Zufall und beginnen neben dem Buchprojekt auch damit, dem Tod von Laura Danby auf den Grund zu gehen. Dabei gerät Charlotte bald in große Gefahr…
Susanne Goga hat mit „Das Geheimnis der Themse“ den Nachfolgeband ihres historischen Buches „Der verbotene Fluss“ vorgelegt, in dem sie das Ehepaar Ashdown diesmal einen sehr mysteriösen Fall lösen lässt, der den Leser gleichzeitig an die verborgenen magischen Orte des alten Londons führt. Der flüssige, fesselnde und bildhafte Erzählstil lässt den Leser sich schnell im neuen Ashdown-Domizil einziehen, wo er nicht nur die unterschwelligen Spannungen zwischen den Eheleuten hautnah miterlebt, sondern sich auch an den Nachforschungen für Toms neues Buchprojekt und bei der Aufklärung des Todes von Laura Danby beteiligen darf. Während der Leser sich von der Autorin zu den mystischen und okkulten Stätten Londons führen lässt, baut sie nebenbei mit ihrer gut durchdachten und verwinkelten Handlung immer mehr Spannung auf, so dass man automatisch in alle Richtungen denkt und miträtselt, weshalb Laura Danby wohl sterben musste und wer dafür verantwortlich ist. Geschickt eingewebte Wendungen bieten zusätzliche Überraschungsmomente und erhöhen den Spannungslevel zusätzlich. Durch die bildhafte Sprache wandelt der Leser durch ein unbekanntes, manchmal unheimliches London und bekommt zusätzlich einen neuen Blick über die Bedeutung der Themse.
Die Charaktere sind liebevoll und lebendig in Szene gesetzt, besitzen realistische menschliche Eigenheiten und geben dem Leser die Möglichkeit, nicht nur ihre Gedanken- und Gefühlswelt zu studieren, sondern auch mit ihnen auf Forschungstour zu gehen. Charlotte ist eine eigensinnige, aber auch starke und mutige Frau, für die Hilfsbereitschaft kein Fremdwort ist. Außerdem liebt sie es, den Dingen auf den Grund zu gehen, was sie mit ihrer angeborenen Spürnase manchmal in Schwierigkeiten bringt. Tom behandelt seine Frau liebevoll und gleichberechtigt, was zur damaligen Zeit recht ungewöhnlich war. Er liest in ihr wie in einem offenen Buch und die beiden ergänzen sich in ihren Interessen. Der 12-jährige Alfie ist ein aufgeweckter lieber Kerl, der von einem Leben auf See träumt. Mrs. Clovis ist eine neugierige Nervensäge, die selbst ein Geheimnis hat. Iris Jellicoe ist eine Frau, die mit allen Wassern gewaschen ist. Mrs. Danby eine trauernde Mutter, die alle Hebel in Bewegung setzt, den Tod ihrer Tochter zu verstehen und zu verarbeiten.
„Das Geheimnis der Themse“ ist ein packender historischer Kriminalroman, der nicht nur mit einem komplizierten Fall punktet, sondern auch mit allerhand Mystik und Okkultismus die Stadt London in ein neues Licht rückt. Verdiente Leseempfehlung für diese spannende und unterhaltsame Lektüre!

Veröffentlicht am 06.03.2021

"Wenn du kein Glück mehr zu geben hast: Gib mir deinen Schmerz." (Lou Andreas-Salomé)

Die Rebellin
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Ende 19. Jh. Louise „Lou“ von Salomé ist ein Freigeist: unkonventionell, intelligent und vor allem mit Klugheit gesegnet. Sie vertrat offen ihre eigene Meinung und stand dafür ein. Gerade ihre direkte ...

Ende 19. Jh. Louise „Lou“ von Salomé ist ein Freigeist: unkonventionell, intelligent und vor allem mit Klugheit gesegnet. Sie vertrat offen ihre eigene Meinung und stand dafür ein. Gerade ihre direkte Art machte die Literatin für viele Männer attraktiv. So fanden sich bekannte Künstler wie Friedrich Nietzsche oder Paul Rée in ihrem direkten Umfeld wieder. Lou ist mit dem wesentlich älteren Gelehrten Friedrich Carl Andreas eine Zweckehe eingegangen, doch beide führen ihr eigenes Leben. Als sie 1897 in Münchner Künstlerkreisen auf den Dichter Rainer Maria Rilke trifft, hegen die beiden bald tiefe Gefühle füreinander. Doch Rilkes Hilflosigkeit und Labilität verlangten Lou immer mehr ab und forderten ihren Tribut: Lou trennte sich von ihm, blieb ihm aber bis zu seinem Tod eng verbunden…
Thérèse Lambert hat mit „Die Rebellin“ einen interessanten historischen Roman vorgelegt, der das Leben von Louise von Salomé-Andreas und vor allem ihre gemeinsame Zeit mit dem Schriftsteller und Dichter Rainer Maia Rilke beleuchtet. Der flüssige und bildhafte Erzählstil lässt den Leser eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert antreten, um dort in das Leben von Lou einzutauchen, einer Frau, die ihrer Zeit um Jahre voraus war. Über sich abwechselnde Zeitsprünge erfährt der Leser nicht nur von der Rilke-Phase in Lous Leben, sondern auch von ihrer Vergangenheit. Unprätentiös sowie unkonventionell lebte sie als verheiratete Frau ihre Freiheit aus, indem sie sich zahlreiche Geliebte nahm, sich jedoch nicht von ihnen in Beschlag nehmen und große Gefühle außen vor ließ. Das Zusammentreffen mit Rilke dagegen ging tiefer, hier hörte sie auf ihr Herz, auch wenn die Beziehung nicht von Dauer gekrönt war. In Russland geboren, verband sie auf Lebenszeit eine große Verbundenheit zu diesem Land, in das sie oft und gerne reiste, auch um dort ihre Familie zu besuchen. Die Autorin versteht es mit bildhaften Beschreibungen geschickt, den Leser Lou auf Reisen zu schicken, dabei entstehen während der Lektüre nicht nur farbenfrohe Bilder im Kopf, sondern man versinkt regelrecht in der Zeit und saugt die damaligen Stimmungen auf.
Die Charaktere sind detailliert ausgestaltet und in ihren Zeitrahmen eingepasst. Mit ihren menschlichen Ecken und Kanten wirken sie glaubwürdig und realistisch, weshalb der Leser sich gut auf sie einlassen kann. Lou ist eine eigenwillige, freiheitsliebende, starke und unkonventionelle Frau, die nicht nur einen scharfen Verstand hat, sondern sich auch nicht darum schert, was andere über sie denken, sondern ihre eigene Gangart bestimmt. Sie ist gebildet, künstlerisch veranlagt und umgibt sich gern mit anderen hellen Köpfen, um ihren Wissensdurst zu befriedigen. Rilke dagegen ist ein genialer Schriftsteller, jedoch menschlich unsicher, labil und anstrengend. Er braucht Zuspruch und muss bemuttert werden, was Lou ihm gern bis zu einem gewissen Grad gewährte.
„Die Rebellin“ ist ein unterhaltsamer historisch-biografischer Roman, der sich mit einer Lebensperiode von Louise von Salomé-Andreas beschäftigt, die bis zu Rilkes Tod als eine seiner engsten Vertrauten galt und eine Zeitlang sogar mehr als das war. Verdiente Leseempfehlung für alle, die gern mehr über starke historische Frauen mit Persönlichkeit erfahren wollen.

Veröffentlicht am 28.02.2021

„Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, wo wir lieben.“ (Wilhelm Busch)

Der Liebesbrief
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Die 32-jährige Künstlerin Chloe nimmt den Tod ihres Mannes zum Anlass, ihrem alten Leben den Rücken zu kehren und in einem kleinen Cottage im Cornwall’schen Küstenort Rosecraddick in einen Neuanfang zu ...

Die 32-jährige Künstlerin Chloe nimmt den Tod ihres Mannes zum Anlass, ihrem alten Leben den Rücken zu kehren und in einem kleinen Cottage im Cornwall’schen Küstenort Rosecraddick in einen Neuanfang zu wagen. Schon bald fühlt sich Chloe dort angekommen, besonders das Leben und Schaffen des Dichters Kit Rivers, das eng mit dem Küstenort verbunden ist, übt auf sie eine große Faszination aus. Bei einer Inspekton des Cottage-Dachbodens fällt Chloe ein altes Tagebuch in die Hände, dessen Inhalt ihr die Liebesgeschichte zwischen der Tagebuchschreiberin Daisy und dem Dichter Kit preisgibt. Chloe taucht nicht nur in die alte Geschichte ein, sondern wandelt mit Unterstützung des Historikers Matt auf den Pfaden des Dichters und entblättert dabei ein altes Geheimnis…
Ruth Saberton hat mit „Der Liebesbrief“ einen unterhaltsamen und anrührenden Roman vorgelegt, der den Leser nicht nur zu einer Reise ins malerische Cornwall einlädt, sondern ihm auch eine romantische Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund präsentiert. Der flüssige, bildhafte und gefühlvolle Erzählstil lässt den Leser sich schnell an Chloes Fersen heften, um sie nicht nur besser kennenzulernen, sondern auch ihren weiteren Lebensweg zu verfolgen. Über wechselnde Perspektiven und unterschiedliche Zeitebenen erzählt die Autorin ihre Geschichte. So beobachtet der Leser mal Chloe in der Gegenwart, um dann in der Vergangenheit auf Tagebuchschreiberin Daisy zu stoßen und in deren Erlebnisse während der Jahre 1914 bis 1916 einzutauchen. Während Chloe gerade ihre große Liebe verloren hat, verlieben sich Daisy und der adlige Kit, die dem gesellschaftlichen Standesdünkel und dem Ersten Weltkrieg entgegensteht und sich doch gegen all das mit allen Kräften zur Wehr setzt, was den Leser das gesamte Gefühlsbarometer durchleben lässt. Gleichzeitig werden durch die farbenfrohen Beschreibungen der Autorin die Handlungsorte vor dem inneren Auge des Lesers lebendig und vermitteln den Eindruck, direkt vor Ort und somit unsichtbarer Teil der Geschichte zu sein, während man gemeinsam mit den Protagonisten nach und nach dem Geheimnis auf die Spur kommt.
Die Charaktere sind facettenreich und liebevoll in Szene gesetzt, wirken glaubwürdig und authentisch, so dass es dem Leser leicht fällt, mit ihnen zu bangen, zu hoffen und zu fiebern. Chloe muss einen herben Schlag verkraften und sucht eine neue Lebensperspektive. Obwohl in Trauer und mit Zweifeln bestückt, gibt sie nicht auf und stellt sich den Herausforderungen des Lebens. Daisy ist eine junge Frau, die verliebt gegen die Widrigkeiten ihres Zeitalters ankämpft. Manchmal wirkt sie etwas naiv, doch mit verklärtem Blick sieht man vieles anders. Auch sie kämpft für die Dinge, die ihr wichtig sind. Kit ist ein Dichter, der sich gewandt mit Worten auszudrücken und seinem Umfeld den Stempel aufzudrücken weiß. Aber auch Matt und einige andere können in ihren Rollen innerhalb der Handlung überzeugen.
„Der Liebesbrief“ ist eine Geschichte von Liebe und Verlust, vom Krieg und der Trauer, von gehüteten Geheimnissen und den Weg in eine neue Zukunft. Gefühlvoll und dramatisch erzählt, untermalt mit schönen Bildern der Küstengegend von Cornwall. Verdiente Leseempfehlung für kurzweilige und unterhaltsame Lesestunden!

Veröffentlicht am 27.02.2021

"Zeit, Ebbe und Flut wartet auf niemand." (Sprichwort)

Die vier Gezeiten
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2008 Insel Juist. Dr. Eduard Kießling soll aufgrund seiner besonderen Verdienste für die Insel im familieneigenen Hotel „de Tiden“ das Bundesverdienstkreuz verliehen werden. Kurz vor der Verleihung erhält ...

2008 Insel Juist. Dr. Eduard Kießling soll aufgrund seiner besonderen Verdienste für die Insel im familieneigenen Hotel „de Tiden“ das Bundesverdienstkreuz verliehen werden. Kurz vor der Verleihung erhält Familie Kießling unerwarteten Besuch in Form der jungen Neuseeländerin Helen, die auf der Such nach ihrer Mutter und das Ebenbild von Eduards Frau Adda ist. Während sich Eduard, Schwiegermutter Johanne, Ehefrau Adda und die Töchter Marijke, Frauke und Theda sich vom ersten Schock erholen, wird insgeheim auch gerätselt, wer wohl die Mutter von Helen ist…
Anne Prettin hat mit „Die vier Gezeiten“ einen unterhaltsamen und spannenden Familienroman vorgelegt, der vor historischem Hintergrund so manches Geheimnis in sich birgt. Der flüssige, bildgewaltige und gefühlvolle Schreibstil reißt den Leser von Beginn an mit und lässt ihn durch einen Tagebucheintrag von Wanda aus dem Jahr 1978 schon einen spannenden Einstieg erleben, der Rätsel aufgibt. Die Geschichte springt im Wechsel mit der Gegenwart 2008 immer wieder in der Zeit zurück, so dass der Leser im Wechsel schicksalshafte Momente der Protagonistinnen Johanne, Adda und Helen ab dem Jahr 1934 hautnah miterleben darf. Deren Lebensgeschichten zeigen nach und nach einige Parallelen auf, doch ihre geheimen Wünsche drehen sich alle um die Sehnsucht nach Liebe, und Glück, aber vor allem um das eigene Seelenheil. Das Leben spielt sich hauptsächlich auf der Insel Juist, aber auch in Dresden während des Zweiten Weltkrieges ab. Die Autorin bringt so manches Thema aufs Tablett, denn es geht nicht nur um Judenverfolgung, Dresdens Bombardierung und DDR-Flucht, Demenz, ungewollte Schwangerschaft, sondern auch um die sich verändernde Rolle der Frau über die Jahrzehnte. Die Handlung wird sehr stimmungsvoll umrahmt von den malerischen Beschreibungen der kleinen Nordseeinsel, die für den Leser das Meeresrauschen und die Windböen, aber auch die Gezeiten sowie die Inselgemeinschaft miterlebbar machen. Der Spannungsbogen schraubt sich während der Geschichte immer weiter in die Höhe, um am Ende in einem wahren Showdown zu enden.
Facettenreiche, lebendig Charaktere mit differenziert geschaffenen menschlichen Ecken und Kanten können den Leser von Anfang an glaubhaft überzeugen, der sich im „de Tiden“ einnistet und dort den Erinnerungen lauscht und in der Gegenwart mitfiebert. Johanne ist eine Frau ihrer Generation, hart, unbeugsam und nach vielen Schicksalsschlägen vor allem auf Status bedacht. Sie trägt eine Maske, die sich erst nach und nach von ihr löst. Adda war eine hoffnungsvolle Frau, bis sie von ihrer Mutter in die Enge getrieben wurde und ihr eigenes Glück aufgab. Eduard ist ein arroganter Gockel, dessen Welt sich hauptsächlich um ihn dreht und der ständig betüddelt und angebetet werden will. Marijke ist selbstbewusst, weltoffen und freundlich, geht ihren ganz eigenen Weg. Helen ist auf der Suche nach ihren Wurzeln und bringt bei den Kießlings so manchen Stein ins Rollen. Addas bester Freund Onno ist eine Seele von Mensch, der Freundschaft wirklich lebt, jedoch machtlos zusehen muss, wie er das Liebste verliert. Aber auch Joost, Gustav, Wilhelm, Wanda, Frauke und Theda haben ihren festen Platz in dieser fesselnden Geschichte.
„Die vier Gezeiten“ besticht mit einer packenden Familiengeschichte, die gespickt ist mit vielen Geheimnissen, die sich nach und nach dramatisch an die Oberfläche drängen. Ein Buch wie die Gezeiten selbst – voller Höhen und Tiefen, die der Leser hautnah mitdurchlebt. Verdiente Leseempfehlung!