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Veröffentlicht am 26.05.2022

Es ist still auf dem Land

Nebenan
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Gerade kehre ich von „Nebenan“ zurück – sehr schön war es dort, leise, still, ruhig, melancholisch, manchmal auch bedrückend, bedeutungsvoll und wunderbar. „Nebenan“ ist eigentlich nur der Alltag zweier ...

Gerade kehre ich von „Nebenan“ zurück – sehr schön war es dort, leise, still, ruhig, melancholisch, manchmal auch bedrückend, bedeutungsvoll und wunderbar. „Nebenan“ ist eigentlich nur der Alltag zweier Frauen, die miteinander fast nichts zu tun haben, aber über ganz fein gesponnene Linien doch durch Berührungspunkte verbunden sind – so wie es in kleinen Orten und auf dem Land wohl häufiger der Fall ist. Astrid, Ärztin in der Kleinstadt, mit erwachsenen Söhnen und pensioniertem Ehemann, fehlt Freundschaft und auch Nähe zu ihrem früheren Leben. Die atmosphärisch dichten Einblicke in ihre Gefühlswelt und auch ihre Ängste, ihre Sorgen um ihre alternde Tante Elsa, die sich anscheinend sukzessive aus dem Leben verabschiedet, sind authentisch und nachvollziehbar eingefangen. Ebenso wie die Lebenswelt und der Kummer Julias, der aus Hamburg zugezogenen Keramikerin, die sich verzweifelt nach einem Kind sehnt, das aber trotz aller medizinischer Hilfe nicht kommen will. Ohne es von der anderen zu wissen, werden beide sehr stark von einem leerstehenden Klinkerhaus angezogen, dessen Bewohner spurlos verschwunden sind.

Trotz dieses und weiterer leicht mysteriös oder bedrohlich anmutender Vorfälle, ist „Nebenan“ kein Krimi. Im Gegenteil, alle Fäden, bei denen man sich im Regelfall Lösung und Aufklärung wünscht, werden offengelassen, denn es geht dem Roman nicht um Klärung, um Abschluss. Stattdessen ist „Nebenan“ ein fast schon poetischer Schwebezustand, eine Lebensbeschreibung von Menschen und ihrem sterbenden Ort, vom schon verlorenen Kampf gegen die Landflucht und den Leerstand in Innenstädten, von der Einsamkeit im Leben und dem Unwissen, was Nebenan passiert, vom zunehmenden Verlust von Bindungen und der Sehnsucht danach. Diese Fülle an Themen, zu denen sich auch noch der Klimawandel und der unerfüllte Kinderwunsch gesellen, könnte einen Roman sehr leicht überfrachten, zu beladen wirken. Gerade dies ist hier nicht der Fall. „Nebenan“ steuert mit leichter Hand und unendlicher Eleganz durch diese Gewässer, ist sprachlich so ausgereift, in seinen Bildern so zart und empathisch, dass es eine Freude ist. Der Text bietet nicht nur zahlreiche Interpretationsmomente, er erreicht den Leser auch emotional. Kristine Bilkau gelingt es auf eindrucksvolle Art und Weise Alltag zu erzählen, denn eigentlich passiert „Nebenan“ nicht viel bis nichts und trotzdem liest man mit großer Spannung immer weiter. Die großen Stärken des Romans sind – neben dem Jonglieren mit so vielen relevanten Themen – die atmosphärischen Beschreibungen und die klugen und berückenden Innenperspektiven. Der graue, trübe, leere Ort in Schleswig-Holstein im Januar und die Wärme und Freiheit des Sommers werden ebenso erlebbar, wie akute Bedrohungen und Enttäuschungen, Gedankenkarussels und nostalgische Momente im Leben der Frauen.

Für mich ist „Nebenan“ ein absolut lesenswerter, sprachlich wunderbarer, Roman, der allerdings nur für Menschen geeignet ist, die gut damit umgehen können, dass es im Leben still ist und für die meisten Themen keine Lösung gibt.

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Veröffentlicht am 14.03.2022

Zwischen Amt und Selbst

Die Diplomatin
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Was soll ich sagen? Toller Roman, gute Story, interessantes Setting – ich habe mich nicht eine Sekunde gelangweilt und würde sofort einen zweiten Band von „Die Diplomatin“ lesen, wenn es denn einen gäbe.
Lucy ...

Was soll ich sagen? Toller Roman, gute Story, interessantes Setting – ich habe mich nicht eine Sekunde gelangweilt und würde sofort einen zweiten Band von „Die Diplomatin“ lesen, wenn es denn einen gäbe.
Lucy Fricke begleitet „Fred“ Andermann auf ihrem nicht sehr glatten Karriereweg von ihrem ersten Posten als deutsche Botschafterin in Montevideo, den sie aufgrund eines unkontrollierbaren Kriminalfalls sehr schnell wieder verliert, zu ihrem nächsten Einsatz als Konsulin in Istanbul mit einem nicht nennenswerten Zwischenstopp in der Zentrale in Berlin.

Der Roman pflegt einen ganz eigenen, ungemein lesbaren Ton. Fred wird als Erzählinstanz mit einer unverwechselbaren Stimme ausgestattet, die ausgesprochen authentisch und plausibel, zwischen Humor und Resignation schwankend, auf den Punkt genau die Stimmung eines Posteninhabers des „Amtes“ einfängt. Dominiert im ersten Teil ein großartiger, trockener Humor, der die ersten Kapitel gleichsam zu einem Schmunzelfeuerwerk macht, ändert sich nur Freds Einstellung, sondern auch ihre Erzählweise sehr glaubhaft im in Istanbul spielenden Teil. Allein anhand ihrer Stimme, der Art ihres Berichtens, kann man erkennen, wieviel Kraft, Energie, Einsamkeit und Enttäuschung ihr Job, dem sie ihr Leben verschrieben hat, kostet. Zwar blitzt auch hier immer wieder der ihr eigene Witz auf, aber die politischen Realitäten der Türkei lassen nicht viel Raum für Vergnügen.
Im Istanbul-Teil kann der Leser einen spannenden und aufschlussreichen Blick hinter die Kulissen der Diplomatie, ihre Möglichkeiten und vor allem ihre Grenzen im Angesicht eines immer repressiver agierenden Systems werfen, der, wenn auch fiktiv, absolut nachvollziehbar und denkbar inszeniert wird. Die Seiten fliegen nur so vorbei, während Fred an einer gegen alle Grundsätze des Auswärtigen Amtes verstoßenden Lösung zur Befreiung unrechtmäßig Inhaftierter arbeitet. In diesen Kapiteln verfügt der Roman fast über eine Handlungskurve, die einem Thriller entnommen sein könnte, wird aber niemals reißerisch oder überzogen, die Handlung bleibt stets dem Grundsatz der Realitätsnähe treu. „Die Diplomatin“ bietet beste Unterhaltung auf hohem Niveau und kommt vollkommen ohne Kitsch und Verklärung des angesehenen Jobs im Dienste Deutschlands aus.
Ein absolut lesenswerter, angesichts der Thematik überraschend leichtfüßiger Roman, der humorvoll mit Resignation und Enttäuschung umgeht und sich insgesamt durch ein hohes Maß unterschwellig eingebrachter Ernsthaftigkeit auszeichnet.

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Veröffentlicht am 16.12.2021

Die Geschichte Vietnams hautnah erleben

Der Gesang der Berge
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Xin chào, Việt Nam! Der Gesang der Berge nimmt uns mit auf eine mitreißende, erschütternde, großartige Reise durch die Wirbelstürme der vietnamesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen ...

Xin chào, Việt Nam! Der Gesang der Berge nimmt uns mit auf eine mitreißende, erschütternde, großartige Reise durch die Wirbelstürme der vietnamesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen die junge Hoang (Spitzname Guave) und ihre Großmutter. Überhaupt ist dieser Roman ein Roman der starken Frauen, der sanfte Feminismus, der Mut zur Gleichberechtigung innerhalb der Familie, der ausgeprägte und hier nahezu als Selbstverständlichkeit dargestellte weibliche Bildungswunsch und -drang (in einer Zeit in der ein solcher in Europa z.B. häufig noch als Kuriosität angesehen wurde) lassen den Roman und die Erzählerinnen sehr modern und sehr erfrischend wirken und trotz seiner historischen Thematik äußerst gegenwärtig. Der Gesang der Berge ist ein Buch, das einfach sehr viel auch über das Heute zu sagen hat: über Risse und Verbundenheit in der Familie, über Vergangenheit und Zukunft, über Politik, Niedertracht und Egoismus, über Liebe, Hoffnung und Zusammenhalt.

Beim Lesen des Romans wird man wie ein Spielball durch die Widrigkeiten und leider sehr zahlreichen negativen Höhepunkte der vietnamesischen Geschichte getragen. Erzählt wird nicht chronologisch, Rückblicke der Großmutter in vergangene Zeiten wie z.B. die Landreform wechseln sich mit den Berichten der Enkelin über das zivile Leben im Schatten des Vietnamkrieges ab. Dabei spiegelt das Buch unglaublich gut in seiner Figurenkonzeption, seiner Erzählweise und seiner Kontextualisierung die Geschichte des Landes, seine Kultur und seine Werte wider. Der Roman ist häufig auf recht subtile Weise sehr kritisch, niemals ist die Ablehnung des politischen Systems plakativ oder plump, sie wird stets an Handlungen der Figuren oder Charakterisierungen angebunden.

Trotz der sehr tragischen Ereignisse, die sich hier auf der Inhaltsebene aneinanderketten, trotz der vielen verheerenden Einzelschicksale, die einen beim Lesen manchmal schon furchtsam in Erwartung des nächsten Schlages die Seite umblättern lassen, ist dieser Roman ein optimistischer und ein hoffnungsfroher. Bei aller Verzweiflung bleibt den Figuren und den Lesern immer der sprichwörtliche Silberstreif am Horizont – sicherlich auch einer der Gründe, warum man dieses Buch so ungern aus der Hand legen mag.

Ein toller, lehrreicher, horzionterweiternder Roman, der die Seele Vietnams offenzulegen versucht, bestechend besonders in der Darstellung der Zerrissenheit eines Landes, die sich bis in die Familien fortsetzt. Am Anfang vielleicht minimal verwirrend, wegen der vielen verschiedenen Figuren und auch zahlreicher vietnamesischer Ausdrücke, nimmt der Roman mit jeder Seite mehr Fahrt auf und lässt einen Teil der Familie von Guave und ihrer Großmutter werden.

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Veröffentlicht am 04.07.2021

Grandioser und absolut lesenswerter Roman

Viktor
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Der Roman "Viktor" überstrahlt für mich in diesem Jahr (fast) alle anderen Bücher, die ich gelesen habe, und unter meinen Highlights nimmt er einen absoluten Spitzenplatz ein. Dieses Buch schafft es, ...


Der Roman "Viktor" überstrahlt für mich in diesem Jahr (fast) alle anderen Bücher, die ich gelesen habe, und unter meinen Highlights nimmt er einen absoluten Spitzenplatz ein. Dieses Buch schafft es, der düsteren Geschichte einer jüdischen Familie durch das 20. Jahrhundert mit leichter Hand und feinsinnigem, eleganten Humor zu folgen und dennoch die dunkel Seite der Tragik nicht auszusparen.

Durch die persönlich stark involvierte Perspektive der Ich-Erzählerin Geertje, die sich in den 1990er Jahren auf die Suche nach ihrem jüdischen Familienerbe macht, wird dem Roman eine authentische, unverbrauchte Stimme verliehen. Geertjes, später Judiths, völlig unbedarftes Erleben der Regeln des Judentum, die sie trotz ihrer jüdischen Familie zeitweise überfordern, sind komisch, unterhaltsam und fremd, aber auch sehr faszinierend. Geertje/Judiths Geschichte wechselt mit der Erzählebene, in der das Leben Viktors im Wien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieben wird, ab. In den Viktor-Teilen gelingt es der Autorin auch düstersten Erlebnissen mit bedachter Komik zu begegnen. Viktor als Figur ist ausgesprochen apart, unerschrocken, interessant und liebenswert (obwohl er selbst eine solche Kategorisierung zurückweisen würde). Überhaupt ist jede Figur bis ins Detail speziell und besonders, aber nicht verschroben, sondern eben einfach erzählenswert.

Sprachlich und stilistisch ist das Buch einfach unglaublich gelungen. Es strahlt einfach, ist sehr besonders und irgendwie drängt sich mir immer wieder das Wort "vornehm" auf. Vor der Autorin kann man auf jeder Ebene nur den Hut ziehen, denn dem finstersten und meisterzähsten Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit soviel Leichtigkeit, Unverbrauchtheit und Stil zu begegnen und dabei noch einen Roman zu erschaffen, der diesen Glanz hat - das ist kein leichtes Unterfangen.

Dies ist ein sensationell guter Roman, der für jeden geeignet ist, der ausgezeichnete Literatur mag, sich über neue Wege freut und ungewöhnliche Familiengeschichten mag.

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Veröffentlicht am 19.03.2021

Der Flüsterwald hat's in sich

Flüsterwald - Das Abenteuer beginnt (Flüsterwald, Staffel I, Bd. 1)
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Im Flüsterwald ist so einiges los – das stellt auch der 12-jährige Lukas fest, nachdem er mitten in der Nacht einem ungebetenen Besucher gefolgt ist und sich zwischen Elfen, Bolden, Menoks, Warks und anderen ...

Im Flüsterwald ist so einiges los – das stellt auch der 12-jährige Lukas fest, nachdem er mitten in der Nacht einem ungebetenen Besucher gefolgt ist und sich zwischen Elfen, Bolden, Menoks, Warks und anderen fantastischen Geschöpfen wiederfindet.

Flüsterwald ist ein Abenteuerroman, wie man ihn sich für Kinder wünscht. Er vereint alle Zutaten, die das Werk zu einem Erfolg und ausgesprochenen Lesespaß für Eltern und Kinder macht. Die sehr spannende Geschichte, die mit der perfekten Dosierung von Grusel aufwartet, also nicht zu harmlos ist, sondern schon über ein gutes Maß an Gefahr und Schauermomenten verfügt, wird so anschaulich und lebendig erzählt, dass man sie glatt in einem Rutsch durchlesen könnte. Bevölkert wird der Flüsterwald von liebevoll-verschrobenen Figuren, die sehr authentisch und vor allem auch lustig sind, und darüber hinaus mit feiner Beobachtungsgabe charakterisiert werden. Lukas Familie ist herrlich lebensecht und besonders die Mutter verfügt über einen hohen Wiedererkennungswert. Im Reich der Fabelwesen ist der Menok Rani sicherlich das absolute Highlight, da er mit seinen Eigenarten einfach ein Garant für viele Lacher ist. Hinzu kommt, dass der Autor ein hervorragendes Gespür für Situationskomik hat und so einige Slapstick-Passagen gekonnt einzubauen versteht, die bei Kindern wie Erwachsenen einfach gut ankommen.
Neben dem überbordenen Ideenreichtum, dem absolut glaubhaft transportierten Coolness-Faktor, den der Text in der Figur von Lukas besitzt, und dem einfach gelungenen Sprachstil, überzeugt der Roman auch mit seinem sehr dezent verpackten didaktischen Ansinnen, und verdeutlicht, wie wichtig Freundschaft und Zusammenhalt und wie wertvoll Bücher sind.

Ein wunderbarer und sehr vielversprechender erster Band!

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