Profilbild von evaczyk

evaczyk

Lesejury Star
offline

evaczyk ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit evaczyk über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.07.2021

Ein Kaleidoskop voller Schmerz und Suche nach Versöhnung

Apeirogon
0

Der Autor selbst spricht von einem Hybrid-Roman. Mehr als 1000 Kapitel, die manchmal nur ein Gedankensprengsel, ein Satz sind. "Apeirogon" vom Colum McCann ist ein Kaleidoskop des Nahostkonflikts, der ...

Der Autor selbst spricht von einem Hybrid-Roman. Mehr als 1000 Kapitel, die manchmal nur ein Gedankensprengsel, ein Satz sind. "Apeirogon" vom Colum McCann ist ein Kaleidoskop des Nahostkonflikts, der verschiedenen Lebenswelten in Israel, ganz abhängig davon, in welche Religion, ethnische Gruppe, Region jemand hineingeboren wurde. Und dennoch gibt es diese enorme, lebenserschütternder Gemeinsamkeit, die der Palästinenser Bassam, geboren in einer Höhle bei Hebron, und Rami - väterlicherseits Sohn eines ungarischen Holocaust-Überlebenden, müttericherseits Jerusalemer in der siebten Generation, miteinander teilen: Sie sind verwaiste Eltern, jeder von ihnen hat eine Tochter gewaltsam verloren. Ramis Tochter Smadar starb im Alter von 13 Jahren in einer Jerusalemer Einkaufsstraße, als sich drei Selbstmordattentäter in die Luft sprengten. Abir, die zehnjährige Tochter Bassams, wurde von dem Gummigeschoss eines israelischen Soldaten in den Schädel getroffen, als sie sich in der Schulpause im Laden gegenüber Süßigkeiten kaufte.

So sehr McCann verändert, hinzugefügt, fiktive Szenen geschaffen und eigene Gedanken hinzugefügt hat: Die Geschichten von Abir und Smadar sind wahr, die Freundschaft ihrer Väter, buchstäblich in Schmerz und Trauer geboren, ebenso. Bassam hatte sieben Jahre in einem israelischen Gefängnis gesessen, weil er alte Handgranaten auf israelische Militärfahrzeuge geworfen hatte. Da war er 17. Die Erfahrung von Misshandlungen und Gewalt verstärkte nur den noch vorhandenen Hass. Als er eine Dokumentation über den Holocaust sah, konnte er erstmals das Leid erkennen, dass vor der Staatsgründung Israels gelegen hatte. Rami war nach Smadars Tod nur widerwillig einer Einladung zum Parents Circle gefolgt. Als er eines Palästinenserin mit dem Bild ihrer toten Tochter sah, erkannte er, dass der eigene Schmerz auch auf der "anderen Seite" bekannt ist.

In "Apeirogon" gibt es vielfältige Betrachtungen, zu Vögeln und zu Musik, zu ausgedörrten Landschaften und längst nicht alles davon spielt für die Handlung eine Rolle. Am eindruckvollsten sind die Szenen, die sich um das Leben von Bassam und Rami und ihren Familien drehen, das durch den Tod von Smada und Abir aus der Bahn geworfen wird, in denen es um den Schmerz geht, der nicht vergeht. und den Weg zu der Entscheidung, nicht zu hassen, sich für ein friedliches Miteinander und eine Aussöhnung einzusetzen. Zu reden, egal wie oft sie niedergeschrien werden, "Es ist erst vorbei, wenn wir miteinander reden" steht auf einem Aufkleber an Ramis Motorrad.

Eine Analyse des Nahostkonflikts, das kann und will der Autor nicht bieten. Statt dessen stellt er Fragen. Wie kann man weiterleben nach dem Verlust eines Kindes? Wie kann man wieder Frieden finden - mit sich, aber auch mit anderen? Und klar: Rami und Bassam stehen in ihren jeweiligen Gemeinschaften für eine Minderheit. In einer Gesellschaft, in der Gewalt oder zumindest die Gefahr von Gewalt allgegenwärtig ist, ist es nun mal leichter, an den Mauern, Vorurteilen und Verurteilungen der anderen Seite festzuhalten. Aber gerade deshalb ist die Stärke des Ramis und Bassams dieser Welt, die sich mit Hass nicht abfinden wollen, um so beeindruckender.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.07.2021

Menschliche und andere Abgründe

Tiefer Fjord
0

Eine Rezension über Ruth Lillegravens Buch "Tiefer Fjord" zu schreiben, ist nicht ganz einfach - und das liegt keineswegs daran, dass mit dem Buch etwas nicht stimmt, im Gegenteil. Es hat mich von Anfang ...

Eine Rezension über Ruth Lillegravens Buch "Tiefer Fjord" zu schreiben, ist nicht ganz einfach - und das liegt keineswegs daran, dass mit dem Buch etwas nicht stimmt, im Gegenteil. Es hat mich von Anfang an gefangen genommen und in Atem gehalten. Doch wie über die Essenz dieses Romans zwischen Thriller und Krimi schreiben, ohne zu spoilern? Denn ein "Whodunnit" ist dies keineswegs, sehr schnell schon ist klar, wer für mehrere Todesfälle verantwortlich ist. Doch wer muss noch dran glauben, wer ist wem auf der Spur und wie werden sich Liebe, Schuld, Loyalität und Verrat schließlich auseinanderdividieren?

Der Titel ist jedenfalls Programm. Nicht nur, weil ein Fjord in Westnorwegen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart der Romanhandlung eine Rolle spielt, es geht auch um innere Abgründe in einer scheinbar heilen Welt, um Schuldzuschreibungen und Sterotypisierungen, um glatte Fassaden und politische Ränkespiele. Insofern ein sehr skandinavischer Krimi, der Spannung und reale Missstände verbindet.

Das große Thema ist häusliche Gewalt, Kindesmisshandlung. Der Arzt Haavard hat in der Klinik immer wieder damit zu tun, seine Frau Clara arbeitet im Justizministerium einen entsprechenden Gesetzesentwurf aus, den sie auch gegen politische Widerstände unbedingt durchsetzen will. Als ein kleiner Junge, angeblich vom Baum gefallen, an seinen schweren und den Ärzten verdächtigen Verletzungen stirbt, wird sein Vater kurz danach im Gebetsraum der Klinik erschossen.

Die Autorin präsentiert zunächst mehrere mögliche Verdächtige, die zudem alle aus der Ich-Perspektive erzählen. Doch es ist Haavard, der nach einem weiteren gewaltsamen Todesfall festgenommen wird. Er beteuert seine Unschuld. Clara muss schon allein wegen ihrer plötzlich bedrohten politischen Karriere zu ihrem Mann stehen, auch wenn das Verhältnis zwischen den beiden schon lange in Lieblosigkeit erstarrt ist.

Hat die Polizei ein unschuldiges Opfer falsch platzierter Hinweise festgenommen oder einen durchtriebenen Täter? Geschieht es den Opfern nicht irgendwie recht? Was haben all die anderen Ich-Erzähler zu verbergen, die theoretisch auch die Taten hätten begehen können? Welche Bedeutung spielt Claras Vergangenheit sowohl für ihr Engagement als auch für den Fall? das soll hier natürlich nicht verraten werden, aber Lillegraven schafft es, Misstrauen zu säen und in Abgründe blicken zu lassen. Die grandiose Fjordlandschaft mit zerklüfteten Bergen und eiskaltem Wasser, mit den Wirbeln und Strömungen steht dabei auch für die Zerrissenheit der Hauptfiguren. Heile Welt? Nein, überhaupt nicht, aber ein spannendes und fesselndes Buch, dass ich einfach nicht aus der Hand legen konnte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.06.2021

Identitätssuche voller Wut und Zärtlichkeit

Die jüngste Tochter
0

"Die jüngste Tochter", der Debütroman von Fatima Daas ist im vergangenen Monat erschienen, aber er passt noch besser in den Juni, den Pride-Monat der LGBTQI-Community. Fatima Daas ist ein Pseudonym, und ...

"Die jüngste Tochter", der Debütroman von Fatima Daas ist im vergangenen Monat erschienen, aber er passt noch besser in den Juni, den Pride-Monat der LGBTQI-Community. Fatima Daas ist ein Pseudonym, und hat mit ihrer gleichnamigen Ich-Erzählerin viel gemeinsam: Sie ist die Tochter einer algerischen Einwandererfamilie, und sie ist lesbisch. Sie ist auch eine gläubige Muslima - und ringt um eine Vereinbarkeit ihrer Religion und ihrer auch von ihr selbst als sündig wahrgenommenen Lebensweise.

Eine Autobiografie oder Literatur mit autobiografischen Elementen? Auf jeden Fall ein eindrücklicher Roman mit einer Sprache voller Wut und Zärtlichkeit, zwischen dem Aufbegehren eines in der Schule auffälligen Mädchens aus der Vorstadt und der schreibenden jungen Frau, die nicht nur ihre Rolle in der Metropole Paris sucht, sondern ihre verschiedenen Leben miteinander versöhnen will.

Geradezu meditativ, wie die Perlen einer Gebetskette, wie die Sätze der Koransuren und Gebetsrufe ist die immer wiederkehrend Wiederholung ihres Namens und seiner Bedeutung: "Ich heiße Fatima", Fatima, wie die jüngste und liebste Tochter des Propheten. Die jüngste der Familie ist auch sie, die erste, die in Frankreich geboren wurde, diejenige, die dort schon mehr heimisch ist als im Geburtsland der Eltern, wo die Großmutter bereits Schwierigkeiten hat, sie zu verstehen, weil sie den algerischen Dialekt nur fehlerhaft beherrscht. Ihr Arabisch ist das der Ban-lieus.

Gesprochen wird aber nicht viel in ihrer Familie. Die Mutter flüchtet sich in Haushalt und Kochen, die beiden älteren Schwestern proben früh den Ausbruch, da der Vater sie brutal schlägt. Fatima bleibt davon verschont, sie ist zwar nicht der ersehnte Sohn, aber der Vater behandelt sie wie einen Jungen. Das macht es ihr später zunächst leichter - ihre burschikose Kleidung, die Freundschaft fast nur mit Jungen - das fällt zunächst nicht auf. Ihre beste Freundin ist anfangs die einzige, die weiß, dass Fatima Frauen liebt, bei der sie über Frust und Lust reden kann, die sie akzeptiert und bestärkt.

Fatima sucht Intimität, kann sich aber selbst nur schwer hingeben. Sie sucht Nähe und hält Distanz, auch, indem sie Parallelbeziehungen pflegt. Sie will ihre Sexualität ausleben und leidet unter Schuldgefühlen, sucht das Gespräch mit Imamen, auch hier nur mit Distanz, nach dem Motto "Ich habe eine gute Freundin, die liebt anders als normal."

Diesen Zwiespalt, die Zerrissenheit, die Probleme, sich selbst mit ihrer Homosexualität anzunehmen, berühren, stehen im Gegensatz zu dem brachialen Umgang, den sie als Jugendliche im Umgang mit Lehrern und als schwach empfundenen Mitschülern zeigte. Die kurzen Sätze, die unsentimentale Sprache, Direktheit und Verletzlichkeit prägen dieses Buch einer doppelten Identitätssuche. Ein Debüt, das neugierig macht auf mehr von Fatima Daas .

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.04.2021

Der Sommer des Erwachsenwerdens

Der große Sommer
0

Bis zum vergangenen Jahr war mir Ewald Arenz kein Begriff. Dann las ich "Alte Sorten" und für mich stand fest: Von dem Autor will ich mehr lesen. Mit "Der große Sommer" hatte ich nun Gelegenheit, sein ...

Bis zum vergangenen Jahr war mir Ewald Arenz kein Begriff. Dann las ich "Alte Sorten" und für mich stand fest: Von dem Autor will ich mehr lesen. Mit "Der große Sommer" hatte ich nun Gelegenheit, sein neues Buch zu lesen - und das Warten hat sich definitiv gelohnt. Erzählte "Alte Sorten" die Geschichte einer Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Frauen, geht es auch hier um Annäherung, Fremdheit, Vertrauenssuche, vor allem aber ums Erwachsenwerden.

Denn der Ich-Erzähler Frieder, etwa 16 Jahre alt, wächst Anfang der 1980-er Jahre auf in einer "verrückten" Familie, wie er selbst sagt. Sechs Kinder, zwei Hunde, zwei Katzen, der Großhaushalt wird von der Mutter gemanagt, während der Vater als nett, aber eben auch etwas lebensfremd beschrieben wird. Frieder, seine nur wenig jüngere Schwester Alma und sein bester freund Johannes sind ein untrennbares Dreierbündnis, die zusammenhalten gegen Lehrer, Spießer und - es ist schließlich die Zeit der Reagan-Jahre und Pershing-Stationierungen - mit linken Parolen ("Rotfront!") Lehrer und andere Erwachsene provozieren. Es ist die Zeit, wo der Zweite Weltkrieg noch nicht ferne Geschichte ist, sondern in den Familienerzählungen noch eine Rolle spielt und sich bei manchen Lehrern die Frage stellt, was sie wohl im Krieg gemacht haben.

Die Sommerferien sind angebrochen, doch erstmals muss Frieder auf den Familienurlaub verzichten. Seine Versetzung ist gefährdet, er muss sich für die Nachprüfung in Mathe und Latein verbessern, sonst ist nach vorangegangener Klassenwiederholung seine Schullaufbahn beendet. Nicht nur, dass ihm der Urlaub entgeht und er lernen muss, er soll für die gesamte Ferienzeit zu seinen in der gleichen Stadt lebenden Großeltern ziehen. Doch während Frieder seine Großmutter Nana innig liebt, ist das Verhältnis zum Großvater, dem Stiefvater seiner Mutter, bestenfalls distanziert. Denn der Bakteriologe ließ sich bis vor wenigen Jahren von seinen Enkeln siezen, entspricht so gar nicht dem Kumpelopa der für Schabernack mit den Großkindern zu haben ist und scheint seine Freundlichkeiten allein für seine Katze zu reservieren.

Dieser strenge Großvater kontrolliert also sechs Wochen lang Frieders Leben - und wird für Frieder zugleich zum Mysterium. Was brachte seine impulsive, künstlerisch begabte Großmutter dazu, sich in diesen Mann zu verlieben, der nur Härte und Disziplin zu kennen scheint? Was für ein Mensch ist der Großvater hinter dem gestrengen Äußeren?

Das Thema Liebe beschäftigt Frieder auch noch ganz persönlich, seit er im Schwimmbad Beate kennengelernt und sich sofort heftig verliebt hat. Arenz schafft es, die pubertären Unsicherheiten und Gefühlsüberschwänge ohne Voyeurismus, ohne Herablassung zu beschreiben. Ach, Millenials können die Nöte des jungen Frieder gar nicht nachvollziehen, der es verpasst hatte, Beate nach ihrer Adresse zu fragen. In der Zeit vor Google, dem allgegenwärtigen Handy und Telefon-Flatrate ist er auf das Telefonbuch und reichlich Groschenvorrat angewiesen, um von einer Telefonzelle aus all die Nummern mit dem entsprechenden Nachnamen anzurufen. An der Unsicherheit, der Angst vor Zurückweisung, den tastenden Worten und vorsichtigen Berührungen der ersten jungen Liebe hat sich dagegen vermutlich nicht ganz so viel geändert.

"Der große Sommer", zwischen erster Liebe und der ersten Begegnung mit dem Tod, zwischen vielen Fragen und großen Hoffnungen, zwischen Mutproben und Ausgelassenheit, das ist auch der Sommer im Freibad mit seinen Gerüchen und Geräuschen, die Arenz mit seiner poetischen Sprache zum Schwingen bringt. "Der große Sommer" hat die Süße der Sommerferien, die einmal unendlich schienen. Dass die Ahnung des Herbstes schon in der Luft hängt, macht diese Zeit nur noch wertvoller.

Wieder einmal überzeugt mich Arenz in diesem Buch vor allem mit seiner Sprache, seinen liebevoll gezeichneten Personen, seiner Beobachtungsgabe und seiner ruhigen Erzählweise. Dass beim Lesen automatisch Erinnerungen an eigene Schwimmbadsommer geweckt werden, verbindet nur noch mehr mit dem Buch.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.04.2021

Ein Buch, das nachhallt

Der gefrorene Himmel
0

Richard Wagamese, der leider bereits 2017 starb, ist beim Blessing Verlag gleich doppelt vertreten: Nachdem im vergangenen Jahr bereits "Das weite Herz des Landes" erschien, kam nun vor kurzem "Der gefrorene ...

Richard Wagamese, der leider bereits 2017 starb, ist beim Blessing Verlag gleich doppelt vertreten: Nachdem im vergangenen Jahr bereits "Das weite Herz des Landes" erschien, kam nun vor kurzem "Der gefrorene Himmel" heraus - und dieses Buch hat mich sprachlich womöglich sogar noch mehr beeindruckt. Wagamese war Ojibwe, ein indigener Schriftsteller, der in seinen Büchern indianische Identität und den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit den First Nations thematisiert. So manches Element aus "Der gefrorene Himmel" findet Parallelen in Wagameses eigener Biografie, der in Heimen und Pflegefamilien aufwuchs und erst als erwachsener Mann zu seinen Ojibwe-Wurzeln fand.

Saul Indian Horse, dem Ich-Erzähler geht es ähnlich: Mit acht Jahren endet er in einem staatlichen Heim unter Leitung von Priestern und Nonnen, wo den Kindern ihr Indianertum mit aller Gewalt ausgetrieben werden soll. Gewalt, Misshandlung und Missbrauch sind an der Tagesordnung, Fluchtversuche werden mit drakonischen Strafen geahndet und das "Indianerfeld" auf dem Schulgelände ist voll mit den namenlosen Gräbern jener Kinder, die sich selbst töteten, um dem Leben im Heim zu entkommen.

Saul findet seine Rettung im Eishockey: Zwar darf er beim Spiel der älteren Jungen, die von einem hockeybegeisterten Priester trainiert werden, nicht mitmachen. Doch er darf die Eisbahn vorbereiten, und bringt sich heimlich Schlittschuhlaufen und Hockeytechniken bei. Der schmächtige 13-jährige ist ein Naturtalent, der eine symbiotische Beziehung zu dem Spiel und zum Eis zu haben scheint, wie sich herausstellt, als er durch den Ausfall eines Spielers plötzlich selbst eine Chance erhält.

Mehr noch: Sein Hockeytalent verschafft Saul die Chance, das Heim zu verlassen und beim Reservatteasm "Moose" zu spielen, dessen Trainer die Vormundschaft für ihn übernimmt. Zum ersten Mal seit der Trennnug von seinen Angehörigen hat Saul wieder so etwas wie eine Familie. Sein Talent und sein Gespüt für das Spiel überzeugt auch Skeptiker. Er ist so gut, dass auch "weiße" Mannschaften Interesse an ihm haben. Doch Saul muss gleich mehrfach erleben: Für das Publikum, die Medien, für die Gegner, selbst für die eigenen Mannschaftskameraden ist er immer nur "der Indianer". Rassismus wird zur ständigen Erfahrung, ebenso Anfeindungen: "Das Eis ist weiß,und die Spieler sind es auch."

In einem Hollywood-Drehbuch würde Saul als einsamer Held alle Widerstände überwinden und triumphieren, Wagamese hingegen zeigt, wie Saul in eine Abwärtsspirale gerät, als Gelegenheitsarbeiter von Job zu Job zieht, ein immer schwereres Alkoholproblem entwickelt und buchstäblich ganz unten ankommen muss, bis er nicht nur seine Sucht, sondern seine Vergangenheit konfrontiert und erkennt, was er erfolgreich verdrängt hat.

Ist in "Das weite Herz des Landes" der junge Ich-Erzähler ein Ojibwe, der von seinem weißen Pflegevater nach bestem Wissen mit den Traditionen seines Volkes bekannt gemacht wird, ist Saul ein Entwurzelter. Doch wenn er auf dem Eis steht, wenn er in der Wildnis unterwegs ist, hat er das Gefühl, das Land spreche zu ihm. Die Lebensgeschichte von Saul ist harte Kost, doch Wagamese schreibt geradezu poetisch, mitunter mythisch. Etwa wenn Saul Visionen von seinem Urgroßvater hat. Dann durchdringt ein Hauch von Schamanismus die Welt dieses lakonischen, stillen Erzählers.

Hatte Schreiben für Wagamese die gleiche therapeutische Wirkung wie Eishockey für Saul? Vielleicht hat auch er Dämonen mit seinen Büchern bezwungen. Die Behandlung der "First Nations" durch die Mehrheitsgesellschaft, für die sich die kanadische Regierung mittlerweile entschuldigt hat, war jedenfalls abscheulich. Wagamese schafft es, ohne Selbstmitleid den Finger in die Wunden zu legen - und verleiht den Opfern und Überlebenden gerade dadurch ihre Würde. Ein beeindruckendes Buch von einem großartigen Autor.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere