Profilbild von Welterleserin

Welterleserin

Lesejury-Mitglied
offline

Welterleserin ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Welterleserin über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.05.2021

Erheiternd und unterhaltsam

Der erste letzte Tag
0

Sebastian Fitzeks Roman „Der erste letzte Tag“ ist mit dem Untertitel „Kein Thriller“ versehen. Das ist gut so, denn seine Thriller-Fangemeinde könnte von der Lektüre des neuesten Buches womöglich enttäuscht ...

Sebastian Fitzeks Roman „Der erste letzte Tag“ ist mit dem Untertitel „Kein Thriller“ versehen. Das ist gut so, denn seine Thriller-Fangemeinde könnte von der Lektüre des neuesten Buches womöglich enttäuscht sein.
Ein Schneesturm legt den Flugverkehr lahm. Lea und Livius (die Alliteration ist sicher kein Zufall) nehmen zusammen den letzten Mietwagen, um doch noch rechtzeitig zu ihren Terminen zu kommen. Hier geht bereits die Initiative von Lea aus und das wird bis zum Ende so bleiben. Der rasante Roadtrip von München nach Hamburg, der nun folgt, steht bis zum Schluss unter der Regie Leas und das verlangt dem braven Lehrer Livius viel ab. Die Idee, so zu tun, als ob es ihr letzter Tag sei und all die Dinge zu machen, die man sich für seinen letzten Tag so vorstellt, kommt natürlich auch von Lea. Livius macht sich mehr als einmal lächerlich, gerät in illegale Handlungen, wird zusammengeschlagen und kommt einem vor, wie der Spielball einer Verrücken, die nichts zu verlieren hat. Erst ganz am Ende nimmt Livius die Zügel wieder in die Hand.
Der Plot ist zwar ziemlich skurril, aber meistens plausibel. Es gibt einige überraschende Wendungen und die Lektüre ist niemals zäh oder langweilig. An einigen wenigen Stellen jedoch schlägt der Autor mit der Handlung über die Stränge und manches wirkt dadurch eher unrealistisch. Grundsätzlich könnte das meiste jedoch so passiert sein und man kann sich die Geschichte sehr gut als Roadmovie-Verfilmung vorstellen.
Während die Nebenfiguren sehr blass und holzschnittartig wirken, sind die Hauptfiguren meiner Meinung nach relativ authentisch. Sowohl Lea als auch Livius schätzt von eigenen Vorurteilen geprägt den anderen zunächst falsch ein und die Handlung basiert teilweise auf einem Missverständnis. Der Leser ist hier durch einen kurzen Wechsel in der Erzählperspektive schon früh eingeweiht, was ich sehr gelungen finde. Die Dialoge der beiden Protagonisten sind teilweise klug und witzig. Ich-Erzähler Livius spricht den Leser oft direkt an, wodurch man gut in die Geschichte eingebunden wird. Vor allem am Ende wird der Roman fast interaktiv. Allerdings vergaloppiert sich Livius bisweilen in ellenlangen Vergleichen und Metaphern, was bemüht lustig wirkt und an einigen Stellen ziemlich nervt. Hier hat man auch das Gefühl, dass der Autor einiges an zeitgeschichtlichem Kontext unterkriegen möchte, dass aber weniger manchmal mehr gewesen wäre.
Insgesamt liest sich das Buch schnell und leicht, man muss einige Male schmunzeln und lachen. Das Ende ist überraschend und stimmig, so dass man über die nervigen Stellen, die vor allem im Mittelteil auftreten, hinwegsehen kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.05.2021

Beeindruckend und fremd

Weiße Rentierflechte
0

„Weiße Rentierflechte“ – bereits der Titel des Romans von Anna Nerkagi verspricht eine besondere und eher ungewöhnliche Lektüre. Tatsächlich fand ich den Beginn ziemlich verwirrend und zäh. Der allwissende ...

„Weiße Rentierflechte“ – bereits der Titel des Romans von Anna Nerkagi verspricht eine besondere und eher ungewöhnliche Lektüre. Tatsächlich fand ich den Beginn ziemlich verwirrend und zäh. Der allwissende Erzähler springt teilweise von der Gegenwart in die Vergangenheit, es kommen viele Namen vor und die bildhafte Sprache mit fettgedruckten und im Anhang erklärten Begriffen haben mir den Einstieg in die Geschichte eher schwer gemacht. Nach ca. einem Drittel konnte ich mich jedoch immer mehr auf dieses Buch einlassen mit seiner tristen und öden Umgebung, den wortkargen Menschen und einer Thematik, die uns westlichen Lesern extrem fremd ist: Es geht um die indigene Volksgruppe der Nenzen, die im nördlichen Teil Russlands als nomadische Rentierhirten lebt (eindrucksvolle Bilder von Salgado!). In dieser von starkem Zusammenhalt und von strengen Regeln und Traditionen geprägten Gemeinschaft sind es vor allem die Jungen, die sich nicht mehr ohne Weiteres in dieses Gefüge einreihen wollen. Der junge Mann Aljoschka, der mit seiner Mutter allein in ihrem Nomadenzelt lebt, wird auf Beschluss des Ältestenrates gegen seinen Willen mit einem fremden Mädchen verheiratet. Aljoschka jedoch trauert immer noch Ilne, der Tochter ihres Nachbarn Petko, hinterher, in die er unsterblich verliebt ist, die jedoch fernab der Nomadenvölker an einem anderen Ort lebt und nicht einmal zur Beerdigung der Mutter zurückkommt. Umso mehr Einblick man in die Gedanken und Lebensgeschichten der älteren Frauen und Männer erhält, umso mehr Respekt bekommt man vor ihrer Lebensweise, die dem Hüten der Rentiere, dem Erhalten des Feuers und der patriarchalischen Familienstruktur gewidmet ist. Letztlich geht es immer ums nackte Überleben in einer unwirtlichen Umgebung, in der Hunger und Kälte alles bestimmen. Und dieses Überleben funktioniert eben nur, wenn sich alle in ihre Aufgaben fügen. Dennoch versteht man auch den Wunsch, aus dieser Gemeinschaft auszubrechen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Vor allem, weil Frauen eine zwar lebenswichtige Rolle als Hüterin des Feuers und als Mutter zukommt. Ansonsten haben sie jedoch keinerlei Rechte und die meisten Frauen haben im Roman nicht einmal einen Namen.
Mein Fazit: sehr poetische Sprache, viele Metaphern, Vergleiche und Symbole, sehr beeindruckende und teilweise bewegende Einblicke in eine fremde Lebensweise, keine Lektüre für einen entspannten Nachmittag im Freibad.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere