Interessanter, abwechslungsreicher, gut recherchierter zweiter Fall für die Ermittler Degenhardt und Liebisch
Der ehemals auf einer Bohrinsel tätige Ingenieur Martin Stelter, der bei der Explosion eines Gasgrills seine Frau verloren und selbst schwere Verbrennungen erlitten hat, ist nun obdachlos. Als treuer Begleiter ...
Der ehemals auf einer Bohrinsel tätige Ingenieur Martin Stelter, der bei der Explosion eines Gasgrills seine Frau verloren und selbst schwere Verbrennungen erlitten hat, ist nun obdachlos. Als treuer Begleiter ist ihm nur sein Hund Bosko geblieben. Auf der Waldlichtung, auf der Martin Stelter sein Lager aufgeschlagen hat, wird er vom Gehängten konfrontiert und zum Selbstmord mit Strychnin gezwungen. Am Tatort hinterlässt der Gehängte die Tarotkarte EL COLGADO. Doch was hat Martin Stelter dem Gehängten getan, was ihm genommen? Was ist neunzehn Jahre zuvor geschehen? Und welche weiteren Opfer wird es noch geben?
Hauptkommissar Rolf Degenhardt und die ehemalige Praktikantin Jana Liebisch ermitteln in ihrem zweiten Fall nach "Das stumme Kind" - nun unterstützt von Kriminalrat Dirk Kaiser, der die Leitung des Zentralen Kriminaldienstes übernommen hat, nachdem sich Oberkommissar Jens Vorberg zu Beginn von "Schuld! Seid! Ihr!" zur Operativen Fallanalyse des Landeskriminalamts in Hannover verabschiedet hat.
An "Schuld! Seid! Ihr!" hat mir gut gefallen, dass die Handlung auf zwei Zeitebenen erzählt wird, die zum einen etwa zwanzig Jahre zuvor und zum anderen im hier und jetzt spielen. Darüber hinaus haben mir die Perspektivwechsel zugesagt, die für Abwechslungsreichtum sorgen und die die Ereignisse nicht nur aus Sicht der ermittelnden Kommissare, sondern zudem aus Sicht des Täters - genannt der Gehängte - sowie seiner Opfer also u.a. von Martin Stelter schildern. Interessant fand ich dabei besonders, dass die Geschichte über weite Strecken aus Sicht des Gehängten erzählt wird und ich dabei einen tieferen Einblick in dessen Gedanken erhalten habe.
Zudem sagt mir der ebenso ungewöhnliche wie strukturierte, fast schon analytisch zu nennende Aufbau von "Schuld! Seid! Ihr!" zu, der bis zum Schluss konsequent verfolgt wird. Dieser erinnert in seiner Einteilung in sechs Akte an ein Theaterstück und orientiert sich am systematischen Racheplan des Gehängten. Die einzelnen Akte wiederum sind in Kapitel unterteilt, die aus wechselnden Perspektiven erzählt werden ("Der Gehängte" vs. "Die Anderen"). Gut gefallen haben mir dabei die detaillierten Zeit- und Ortsangaben, mit denen jedes Kapitel eines Akts überschrieben ist.
An "Schuld! Seid! Ihr!" hat mich angesprochen, wie gut recherchiert dieser Krimi ist. So werden die einzelnen Akte mit interessanten Informationen zu Tarotkarten eingeleitet, die etwa die Geschichte der Tarotkarten - insbesondere zu deren Wurzeln und ersten Nachweisen wie den Visconti-Spielen, die die ältesten Tarotkarten der Welt im Besitz der Familie Visconti darstellen - betreffen. Denn der Täter, der in "Schuld! Seid! Ihr!"seine Rache sucht, ist selbst nach der Tarotkarte "der Gehängte" benannt.
Aber auch die intensiven wie gut recherchierten Beschreibungen wie die der Bayreuther Festspiele und des besonderen Orchestergrabens im Bayreuther Festspielhaus aus Sicht der Bratschistin Simone Distler haben mich überzeugt. Gleichermaßen eindringlich wie gelungen finde ich die Schilderung des nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmten Jürgen Großmann - des Vorgängers von Rolf Degenhardt - und wie er aufgrund seiner Lähmung zu kämpfen hat, um an einen Nachttischschrank neben seinem Bett zu gelangen.
Gefallen hat mir auch die Brisanz und Aktualität, die "Schuld! Seid! Ihr!" dadurch gewinnt, dass der Gehängte im Rahmen seines Racheplans geschickt sein Talent als Hacker einsetzt. Und so zeigt er etwa im Hacken medizinischer Geräte, wie angreifbar wir heute in unserer technisierten Welt geworden sind und uns dessen nur allzu oft gar nicht bewusst sind.
In "Schuld! Seid! Ihr!" nimmt das Privatleben von Rolf Degenhardt relativ viel Raum ein. Geschildert werden seine privaten Problemen, die die Trennung von seiner Frau Ulrike, aber auch seine Tochter Alexandra, die im weiteren Verlauf von "Schuld! Seid! Ihr!" bei Rolf Degenhardt einzieht, betreffen. Zudem leidet er unter psychischen Problemen, die auch mit den Ereignissen eines früheren Falls, der in "Das stumme Kind" geschildert wird, zusammenhängen. In diesem Zusammenhang wird in "Schuld! Seid! Ihr!" auch auf den ersten Krimi dieser Reihe Bezug genommen. Um der Ermittlung den Gehängten betreffend in diesem zweiten Krimi folgen zu können, ist es jedoch nicht erforderlich "Das stumme Kind" gelesen zu haben, da beide Fälle voneinander unabhängig sind.
Relativ viel Raum nimmt in "Schuld! Seid! Ihr!" auch die Auseinandersetzung zwischen Rolf Degenhardt und dem unsympathischen Karrieristen Dirk Kaiser ein, der nun leider der neue Vorgesetzte von Degenhardt ist. Denn gleich bei ihrer ersten Begegnung geraten die beiden aneinander, da jeder von ihnen die Stelle von Jens Vorberg nachbesetzen will. Dieser erste Konflikt setzt sich bei einem durch Rolf Degenhardt abgebrochenen Anruf von Dirk Kaiser, aber auch in den Nachforschungen, die Dirk Kaiser zu den Ereignissen "Das stumme Kind" betreffend anstellt, fort und verstärkt sich im weiteren Verlauf von "Schuld! Seid! Ihr!" noch.
"Schuld! Seid! Ihr!" ist ein ebenso interessanter wie ungewöhnlicher, zudem gut recherchierter und komplexer Krimi, den ich sehr gerne gelesen habe. Allerdings muss ich zugeben, dass das Ende zwar konsequent ist, aber doch ein wenig abrupt gekommen ist und dabei dann doch die ein oder andere Frage für mich unbeantwortet geblieben ist.