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Veröffentlicht am 25.07.2021

Höre ihm gern zu

Mein Sternzeichen ist der Regenbogen
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Ja, ganz genau. Als ich die Geschichten von Rafik Schami las, kam es mir so vor, als würde ich gerade in einer Lesung sitzen oder aber mit ihm an einer großen Tafel in einem Restaurant. Vor meinem inneren ...

Ja, ganz genau. Als ich die Geschichten von Rafik Schami las, kam es mir so vor, als würde ich gerade in einer Lesung sitzen oder aber mit ihm an einer großen Tafel in einem Restaurant. Vor meinem inneren Auge erschien Schami‘s Gesicht und ich lauschte seinen Geschichten. Unabhängig von den Themen schafft der Autor eine Atmosphäre, die zum Verweilen einlädt, der man gern bewohnt. Meine Zugewandtheit nahm auch nicht bei den bedrückenden Geschichten ab. Aus jeder Erzählung konnte ich einen Gewinn ziehen, ganz oft konnte ich neue Perspektiven einnehmen, die mir normalerweise verborgen bleiben.

In seinen Kurzgeschichten behandelt Rafik Schami hauptsächlich Missverständnisse: zwischen Mann und Frau, zwischen Individuen und Staat, zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen sowie zwischen Gaumenschmaus und Massentierhaltung. Dabei ist er meistens mit einem Augenzwinkern unterwegs, nimmt sehr elegant die Unzulänglichkeiten seiner Charaktere auf die Schippe, aber niemals so, dass man es ihm übel nehmen möchte. Diesen Humor mag ich sehr gern. Einige Geschichten sind aber auch von ernstem Charakter. Schami zeigt auf, wie schnell in einer Diktatur ein geglaubter Freund zum Feind werden kann, wie schnell unbescholtene Leute ins Getriebe eines Staates geraten können.

Begeistern konnte mich der Autor sprachlich. Treffsicher setzt er Pointen, beschreibt manchmal messerscharf, findet immer wieder Worte zum Dahinschmelzen ganz ohne romantischen Hintergrund. Ohne Vorwurf spricht er aus, was zwischen den Menschen im Argen liegt. Wie auch schon in seinem letzten von mir gelesenen Roman „Die geheime Mission des Kardinals“ setzt Rafik Schami seine Gesellschaftskritik so auf, dass sofort einleuchtet, wo es Verbesserungspotential gibt. Dabei macht er Dinge transparent und belehrt nicht. Am besten haben mir die verschiedensten Perspektiven gefallen, die er uns einnehmen lässt. Der veränderte Blickwinkel regt zum Nach- und Überdenken an. So wirkt dieses Buch auch nach der Lektüre weiter.

Insgesamt hat mir dieser Geschichtenband sehr gut gefallen. Gern empfehle ich das Buch weiter.

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Veröffentlicht am 18.07.2021

Gesellschaft und Platte im Rückbau

Raumfahrer
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Schon das Debüt von Lukas Rietzschel „Mit der Faust in die Welt schlagen“ hatte mir gut gefallen. Mehr beschreibend als anklagend setzte sich der junge Autor mit der Lebenswirklichkeit ostdeutscher Jugendlicher, ...

Schon das Debüt von Lukas Rietzschel „Mit der Faust in die Welt schlagen“ hatte mir gut gefallen. Mehr beschreibend als anklagend setzte sich der junge Autor mit der Lebenswirklichkeit ostdeutscher Jugendlicher, den damit einhergehenden medial immer wieder einseitig breit getretenen Auswirkungen auseinander.

Mit „Raumfahrer“ taucht Lukas Rietzschel jetzt noch tiefer in die deutsche Geschichte ein, kreist um den Künstler Georg Baselitz und dessen Familie. Der Roman startet an mehreren historischen Zeitpunkten. Die Sprachlosigkeit der Kriegsrückkehrer, der Ideologientausch in der jungen DDR, sowie die Orientierungslosigkeit der Menschen nach der Wende sind Rietzschel‘s Themen. Wem kann man nach zwei autoritären Systemen mit jeweils eigenem Verleumdungs- bzw. Geheimdienst noch trauen? Wer ist Freund? Wer ist Verräter und warum?

Diesen Fragen nähern sich die Leser:innen gemeinsam mit Jan, Krankenpfleger in einem wohl bald schließenden Krankenhaus, der immer noch beim Vater wohnt und es irgendwie nicht richtig schafft, eine richtige Beziehung mit seiner Kollegin Karolina einzugehen. Ich mochte ihn, insbesondere sein kindliches in Rückblenden konstruiertes Ich. Er schien mir die vom Ende der DDR gebeutelte Familie zusammen zu halten. Selbst nach der Trennung der Eltern bleibt er der Ruhepol, den beide Eltern zum Überleben brauchen. Der kindliche Jan erträgt geduldig alle Eskapaden seiner Eltern, ohne selbst über die Stränge zu schlagen. Ich bewundere diese Stärke und geradezu übernatürliche soziale Intelligenz.

Sprachlich, wie auch hinsichtlich der Romankonstruktion hat Lukas Rietzschel sich positiv weiter entwickelt. Von den ineinandergreifenden Handlungssträngen war ich sehr angetan. Durch die kurzen Kapitel ließ ich mich zu stundenlangen Lesen hinreißen, ohne dass Ermüdungserscheinungen aufkamen. Die Gefühlswelt seiner Raumfahrer hatte der Autor so gut recherchiert und aufbereitet, so dass ich mich frage, ob er als Nachwendekind nicht auch selbst ein solcher Raumfahrer ist.

Insgesamt eine hervorragende Lektüre zu einer für Außenstehende schwer vermittelbaren Welt, der ich gern eine Leseempfehlung ausspreche.

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Veröffentlicht am 13.07.2021

Aktuelle Gesellschaftskritik im Setting des Wilden Westens

Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
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Lucy und Sam sind chinesische Waisen. Erst kürzlich ist ihr gewaltbereiter Vater verstorben. Ihn in Würde zu begraben, ist die erste Aufgabe, die die Geschwister mutterseelenallein meistern müssen. Mit ...

Lucy und Sam sind chinesische Waisen. Erst kürzlich ist ihr gewaltbereiter Vater verstorben. Ihn in Würde zu begraben, ist die erste Aufgabe, die die Geschwister mutterseelenallein meistern müssen. Mit nichts als den eigenen Kleidern am Leib ziehen sie durch den Wilden Westen, um ihn, seinen Leichnam, nach Hause zu bringen, damit seine Seele nicht auf ewig herumirren muss. Nach dem nomadenhaften Leben des Vaters in der Prärie, getrieben vom Goldrausch, erscheint die Aufgabe schier unlösbar.

Die Geschichte der beiden sehr unterschiedlichen Kinder ist eingebettet in den Wilden Westen ungefähr zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist die Zeit des auslaufenden Goldrausches, die großen Geschäfte sind bereits gemacht, viele mühen sich ab, um noch ein Stückchen vom fast aufgegessenen Kuchen abzubekommen. Alternativ wird in Kohleminen geschuftet, um den kargen Lebensunterhalt für die Familie zur erwirtschaften. Migranten werden gezielt zur Ausbeutung ihrer Arbeitskraft angeworben, haben keinerlei Rechte. In dieser widrigen Welt lässt uns C Pam Zhang am Schicksal von Lucy und Sam sowohl geradeaus erzählt als auch in Rückblenden teilhaben. Für mich war es attraktiv zunächst die Situation der zwölf- und elfjährigen Kinder kennen zu lernen und erst später zu erfahren, wie es dazu kam. Dadurch erhalten alle Charaktere eine ordentliche Tiefe, die hier aus meiner Sicht entscheidend ist, da der Roman stark auf seine Protagonisten setzt.

Begleitet wird die Geschichte von ganz wunderbaren Beschreibungen der Landschaft, aber auch der Lebensumstände und der Gerüche. Ich konnte mir die schmutzige Hütte der Familie gut vorstellen, hatte gefühlt den Geschmack des minderwertigen Essens im Mund. Die Entwicklung des väterlichen Leichnams ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Auf der Reise nach Hause hatte ich den Eindruck mit den Beiden, quasi als ihr Schatten, ebenfalls durch die Hügel zu schreiten. Vor meinem inneren Auge habe ich das wogende Gras gesehen, die nackten Bisonknochen aus längst vergangener Zeit. Die Autorin hat meine Gefühlsebene ganz deutlich angesprochen. Vielleicht lag das auch an mach mystischer Formulierung, die das Geschehen sagenhaft, fast ein bisschen übernatürlich wirken lassen.

Am besten hat mir der Kunstgriff gefallen, aktuell bewegende Themen in ein Setting der Vergangenheit zu setzen. Dadurch habe ich noch einmal ganz bewusst wahrgenommen, wie alt diese Themen wie Umweltzerstörung, Herkunft und Gender tatsächlich sind. Nichts davon ist Modeerscheinung, etwas, das man einfach abtun oder ignorieren kann. Gleichzeitig entfällt durch das Setting ein Vorwurfscharakter, der sich leicht aufdrängt, wenn kritische Themen behandelt werden. So können sich Leser:innen unbefangen den Problemen annähern und damit auseinandersetzen. Obwohl Zeithorizont und Problemerkenntnis historisch betrachtet nicht zusammen passen, bleibt das von C Pam Zhang geschaffene Paralleluniversum in sich stimmig und wirkt dadurch stets glaubwürdig.

The Observer titelt „Das kühnste Debüt des Jahres“. Dem kann ich nur zustimmen. Gern empfehle ich diesen ganz wunderbaren Roman.

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Veröffentlicht am 30.06.2021

Glaubwürdig erzählte Nachkriegsgeschichte

Vati
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Im letzten Jahr hatte ich „Die Bagage“ von Monika Helfer gelesen. Auch wenn mich die Autorin seinerzeit nicht hundertprozentig überzeugen konnte, so wollte ich mir doch noch tiefere Einblicke in die Lebensumstände ...

Im letzten Jahr hatte ich „Die Bagage“ von Monika Helfer gelesen. Auch wenn mich die Autorin seinerzeit nicht hundertprozentig überzeugen konnte, so wollte ich mir doch noch tiefere Einblicke in die Lebensumstände der Familie Helfer verschaffen. Mit „Vati“ wird nun die väterliche Seite stärker beleuchtet. Zudem wechselt die Autorin von der Großelterngeneration zu den eigenen Eltern, wodurch in meiner Wahrnehmung mehr Nähe und damit eine gefühlvollere Erzählung entsteht.

Der Vati ist ein Kriegsrückkehrer. Die russische Kälte hat ihm ein halbes Bein gekostet. Als Verwalter eines Kriegsopfer-Erholungsheims kann er seiner Familie dennoch ein auskömmliches Leben bieten. Erst als die Kriegsopfer in den Hintergrund rücken sollen, das Erholungsheim in ein Hotel umgewandelt werden soll, kommt sein Lebensmut ins Wanken. Dann stirbt seine Frau, Alles gerät aus den Fugen.

Ich mochte den Vati. Sein Umgang mit der Prothese hoch oben auf dem Berg, er nimmt am Leben teil und geht wandern, als gäbe es die körperliche Einschränkung nicht. Natürlich hat mich auch seine Liebe zur gehobenen Literatur überzeugt. Schundromane kamen ihm nicht ins Haus. Er hat vorgelesen, den Versehrten, den Kindern. Mich hat beeindruckt, dass er selbst nicht mehr ganz heil noch so viel geben konnte. Darüber hinaus konnte ich seine Verzweiflung in Folge der weiteren Schicksalsschläge sehr gut nachvollziehen.

Hier hatte ich auch Monika, ihre Geschwister und auch die Onkel und Tanten von der Bagage gern. Es kommt mir auch vor, als würde dieser Roman seinen Vorgänger insgesamt und die Personen darin in einem besseren Licht erscheinen lassen. Vieles ist mir jetzt klarer geworden, so glaube ich. Bewundernswert fand ich die Unterstützung der Familie Helfer von Seiten der Bagage. Trotz Armut und Enge ist immer noch ein wenig Zuwendung möglich. Fasziniert bin ich von der Tatsache, dass jeder in der Familie seinen Unterstützungsbeitrag leistet. Teilweise erstaunt hat mich die Auswahl der Maßnahmen, die hier in Erwägung gezogen und zumeist auch umgesetzt worden sind. Ich bin mir nicht sicher, ob heutige Wohlstandsfamilien das noch so hinbekommen.

Ganz nebenbei bekommt man einen Eindruck von den Lebensumständen nach dem Krieg insgesamt. So entsteht ein übergreifend thematisch anspruchsvoller, gleichzeitig angenehm lesbarer Roman, der mir richtig gut gefallen hat. Die Sprache ist jetzt weniger schnodderig als im Vorgänger, gefühlvoll, rückt die Charaktere dichter an einen heran. Mich konnte Monika Helfer überzeugen. Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

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Veröffentlicht am 23.06.2021

Schach ganz toll in Szene gesetzt

Das Damengambit
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Nach dem Tod ihrer Mutter wird die achtjährige Beth Harmon mangels weiterer Verwandter an ein Waisenhaus übergeben. Damit die Kinder dort geschmeidig zu betreuen sind, bekommen sie Beruhigungsmittel. Die ...

Nach dem Tod ihrer Mutter wird die achtjährige Beth Harmon mangels weiterer Verwandter an ein Waisenhaus übergeben. Damit die Kinder dort geschmeidig zu betreuen sind, bekommen sie Beruhigungsmittel. Die clevere Beth findet schnell heraus, wie sie diese Pillen für ihr eigenes Wohlbefinden einsetzen kann. Mit Hilfe des wenig beachteten Hausmeisters entdeckt Beth ihr Schachtalent und hofft wie die anderen Kinder auch bald adoptiert zu werden.

Ich muss sagen, ich mochte Beth. Von ihrer Geschwindigkeit, etwas zu lernen, Dinge zu durchschauen, Handlungsweisen zu planen, bin ich sehr angetan. Ich bin sogar etwas neidisch, dass ich nicht wie Beth Schach spielen kann. Sie sieht die Züge der Gegner über mehrere Stufen hinweg im Voraus. Es wirkt, als wäre ihre Vorhersage ein Film, der in ihrem Kopf abgespielt wird. Für mich ist dies überaus faszinierend. Trotzdem ist sie grundsätzlich ein zurückhaltendes Mädchen, das die große Bühne eher scheut.

Neben der Protagonistin hat mir auch die recht technische Beschreibung der Schachpartien sehr gut gefallen. Erstaunlich dabei war die vom Autor erzeugte Spannung, obwohl hier über lange Strecken hinweg Zugfolgen aufgezählt werden. Im Zusammenwirken mit Beth‘s Gedankenwelt ist mit jedem Spiel wieder ein neuer kleiner Thriller entstanden, dessen Ausgang ich unbedingt wissen wollte. Beth manövriert sich gekonnt durch das Ranking der Schachwelt, vom Rookie mutiert sie schnell zu Profi. Ich habe gern mit ihr mitgefiebert.

Auch wenn Schach in diesem Roman viel Platz einnimmt, setzt er noch weitere Schwerpunkte. Es geht um Einsamkeit und Frust, um Freundschaft, um Missbrauch von Betäubungsmitteln und Alkohol, aber auch ums Erwachsenwerden insgesamt. So bekommt dieser Schachroman eine menschliche Komponente, wirkt überhaupt nicht so technisch, wie er im ersten Moment anmutet und ist insgesamt ein wahres Lesevergnügen.

Gern empfehle ich das Damengambit, ein Begriff, den ich jetzt zu meinem Wissensschatz zählen darf. Ein ganz tolles Buch.

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