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Veröffentlicht am 01.08.2021

"Eine Frau, die geliebt wird, hat immer Erfolg." (Vicki Baum)

Vor Frauen wird gewarnt
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Die 1888 in Wien geborene Jüdin Hedwig Baum (Rufname Vicki) war fünf Jahre als Verlagsangestellte für den Berliner Ullstein-Verlag tätig, bevor sie in die USA emigrierte. In den 20er Jahren des vergangenen ...

Die 1888 in Wien geborene Jüdin Hedwig Baum (Rufname Vicki) war fünf Jahre als Verlagsangestellte für den Berliner Ullstein-Verlag tätig, bevor sie in die USA emigrierte. In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde sie mit ihren erfolgreichen Romanen wie „Menschen im Hotel“ oder „Vor Rehen wird gewarnt“ eine der bekanntesten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik. Baum war eine emanzipierte, selbstsichere und vor allem selbstkritische Frau mit beruflichen Ambitionen, die sich von den Nazis als jüdische Asphaltliteratin bezeichnen lassen musste, gerade weil ihre Romane neben Unterhaltung vor allem gesellschaftskritisch angelegt waren. Besonders ihre weibliche Leserschaft war ihr treu ergeben und hegte größte Bewunderung für ihre Selbständigkeit.
Heidi Rehn hat mit „Vor Frauen wird gewarnt“ einen sehr unterhaltsamen biografischen Roman vorgelegt, der das Ausnahmetalent von Vicki Baum, vor allem aber ihre persönliche Seite in den Vordergrund rückt. Der flüssige Schreibstil nimmt den Leser mit in die Vergangenheit, wo er auf Hedwig/Vicki trifft, die in einer von Männern dominierten Welt emanzipiert und selbstbewusst genug ist, als verheiratete Frau und Mutter in Berlin ihr Domizil aufzuschlagen, um sich dort ihren Traum einer eigenen Karriere zu erfüllen, wobei sie von ihrem Ehemann, dem Dirigenten Richard Lert, unterstützt wurde. Die beiden führen eine moderne, offene Ehe, fühlen sich aber gefühlsmäßig fest aneinander gebunden. Berlin ist für Vicki eine Offenbarung, sämtliche Möglichkeiten, die sich ihr bieten, nimmt sie in Anspruch, während sie im Verlagshaus Ullstein als Redakteurin arbeitet und nebenbei auch ihre eigenen Werke verfasst. Ihr Roman „Menschen im Hotel“ wurde 1930 am Nollendorfplatz-Theater uraufgeführt und nach der englischen Übersetzung sogar am New Yorker Broadway inszeniert, was alsbald sogar zur Verfilmung in Hollywood führte und Baum weltbekannt machte. Heidi Rehn hat akribisch recherchiert und sämtliche Informationen in ihren biografischen Roman einfließen lassen. Der Leser bekommt nicht nur eine interessante, schillernde Persönlichkeit präsentiert, sondern schnuppert ins Verlagsleben und auch jede Menge Berliner Luft der 20er Jahre. Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen sind hervorragend eingearbeitet, so dass der Leser den Umschwung ebenfalls zu spüren bekommt durch die immer mehr an Einfluss gewinnenden Nazis.
Vicki Baum war eine Frau von Format, eine, die weiß, was sie will und kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie ist intelligent, selbstbewusst, vor allem aber bodenständig, weshalb sie von ihrer damaligen Fangemeinde angebetet wird. Sie kämpft und erfüllt sich ihren Wunsch nach einer Karriere, von der viele Frauen träumen, es ihnen aber untersagt bleibt, ob aus fehlendem Mut oder einem bevormundenden Ehemann, sei dahin gestellt. Sie verkörperte schon damals das Frauenbild, dass viele Frauen heutzutage anstreben: Karriere, Ehefrau und Mutter zu sein erfolgreich unter einen Hut zu bringen. Dafür bringt sie allerdings auch einige Opfer, die sich aber durch ihren Erfolg und die damit verbundene Zufriedenheit die Waage halten.
Heidi Rehn hat mit „Vor Frauen wird gewarnt“ ein wunderbares Porträt einer außergewöhnlichen Frau geschaffen. Der Roman liest sich nicht nur hervorragend, sondern besticht mit in Worten gemalten Beschreibungen, die das Kopfkino anspringen und der Leser gemeinsam mit Vicki das Berlin der 20er Jahre erleben lassen. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 31.07.2021

„Der Kaffee muss schwarz sein wie der Teufel, heiß wie die Hölle, rein wie ein Engel und süß wie die Liebe.“ (Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord)

Die Kaffeedynastie - Momente der Hoffnung
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Die kleine Kaffeerösterei „Öcher Böhnchen“ in Aachen erfreut sich großer Beliebtheit, und auch die Beziehung zu Noah entwickelt sich für Corinne Ahrensberg glücklich und lassen sie auf Wolken schweben. ...

Die kleine Kaffeerösterei „Öcher Böhnchen“ in Aachen erfreut sich großer Beliebtheit, und auch die Beziehung zu Noah entwickelt sich für Corinne Ahrensberg glücklich und lassen sie auf Wolken schweben. Doch die heitere Stimmung wird plötzlich getrübt, denn zum einen gibt es auf einmal Probleme mit dem Erben ihres Ladenlokals, der sie herausekeln will. Und als wäre das nicht schon übel genug, steht plötzlich auch noch Noahs Ex-freundin vor der Tür, die angeblich von ihm schwanger ist. Corinne kommt ungebremst zurück auf den Boden der Realität, denn zudem wünschen sich ihre Eltern, dass sie mit Noah auf den Familiensitz umsiedelt, um das alte von Großvater Eberhard gegründete Unternehmen zu retten, zumal ihr Vater schwer erkrankt ist…
Paula Stern entführt den Leser mit „Momente der Hoffnung“ wieder in die köstlich duftende Welt des Kaffees. Der zweite Band der Kaffeedynastie-Trilogie knüpft nahtlos an den ersten Teil an und weiß mit einer spannenden Familiengeschichte, die sich über zwei Zeitebenen erstreckt, erneut wunderbar zu unterhalten. Der flüssige, farbenfrohe und gefühlvolle Erzählstil lässt den Leser zwischen der Gegenwart um Corinne und der Vergangenheit kurz nach Kriegsende 1946 um deren Großvater Eberhard Ahrensberg hin und her pendeln gebannt die Vorgänge verfolgen. Gerade, als es für Corinne nach harter Arbeit geschäftlich endlich gut läuft und auch das Privatleben glücklich Fahrt aufnimmt, sieht sie sich einem Berg von Problemen gegenüber, die sie zu bewältigen hat. Die Autorin lässt ihre hervorragende Recherche über Kaffeesorten und deren Röstung wunderbar in ihre Handlung miteinfließen, so dass der Leser während der mitreißenden Lektüre nicht nur ein tolles Kopfkino, sondern auch dauerhaft den Geruch von frisch geröstetem Kaffee in der Nase hat. Ist schon Corinnes Leben aufregend, wird dies noch durch die Geschäftsanfänge ihres Großvaters Eberhard übertroffen, hat dieser doch durch Schmuggelgeschäfte in der Nachkriegszeit die Familie halbwegs über die Runden gebracht. Auch die Geschichte der Jüdin Sara Rosenbaum ist hervorragend in die Geschichte eingepasst, die mit ihrer Familie von den Nazis ins KZ Buchenwald verbracht wurde. Paula Stern verbindet ihre unterschiedlichen Handlungsstränge perfekt miteinander und lässt den Leser gemeinsam mit den Protagonisten ein wahres Gefühlsbarometer durchlaufen, während jede Menge Probleme gewälzt und gelöst werden wollen.
Lebendige und facettenreiche Charaktere haben sich weiterentwickelt und bestechen mit realistischen menschlichen Eigenschaften, die ihnen das Herz des Lesers sofort öffnen und er ihnen auf Schritt und Tritt gerne folgt, um bloß nichts zu verpassen. Eberhard ist ein verantwortungsvoller und mutiger Mann, der alles für seine Familie tut, um sie sicher versorgt zu wissen. An dieser Verantwortung hat er schwer zu tragen, lässt sich jedoch nicht unterkriegen. Corinne arbeitet mit Leidenschaft und Herzblut für ihr Kaffee. Sie steht neuen Ideen immer offen gegenüber und reicht auch ihrem Bruder Alexander nach den Zwistigkeiten wieder die Hand. Noah ist ein liebenswerter Mann, der Corinne in allen Belangen unterstützt, allerdings mit einigen Problemen zu kämpfen hat, die sich nicht einfach beiseiteschieben lassen. Aber auch Sara Rosenbaum und ihre Familie hinterlassen nachhaltigen Eindruck auf den Leser.
„Momente der Hoffnung“ ist ein rundum gelungener Mix aus Familiengeschichte mit historischem Hintergrund, viel Wissenswertes über Kaffee, dessen Röstung und natürlich Liebe. Wunderbar miteinander verwoben und fesselnd erzählt, so dass man voller Vorfreude auf den dritten Teil wartet! Absolute Leseempfehlung!!!

Veröffentlicht am 30.07.2021

"Liebe ist die stärkste Macht der Welt, und doch ist sie die demütigste, die man sich vorstellen kann." (Mahatma Gandhi)

Die zweite Braut von Cold Ashton Manor
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1799 England. Als Lord Richard Clarke zufällig auf die Apothekertochter Amber Devaney trifft, verlieben sich die beiden Hals über Kopf ineinander. Der große Standesunterschied kümmert die beiden nicht, ...

1799 England. Als Lord Richard Clarke zufällig auf die Apothekertochter Amber Devaney trifft, verlieben sich die beiden Hals über Kopf ineinander. Der große Standesunterschied kümmert die beiden nicht, obwohl eine Zukunft für beide vor allem seitens seines Elternhauses nicht in Frage kommt. Vielmehr finden sie immer wieder Möglichkeiten, sich heimlich zu treffen und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, was vor allem für Amber nicht ohne Folgen bleibt. Daheim in Cold Ashton Manor versucht der Vater Richard in eine Vernunftehe mit der wohlbetuchten Lady Helen zu drängen, denn ihn plagen aufgrund seiner Spielsucht große finanzielle Sorgen, so dass sogar das Anwesen auf dem Spiel steht. Eines Tages ist Amber spurlos verschwunden und Richards ausgiebige Suche nach ihr bleibt erfolglos. Wird er dem Drängen seines Vaters nachgeben? Und was wird aus Amber?
Ingrid Kretz entführt mit ihrem historischen Roman „Die zweite Braut von Cold Ashton Manor“ einmal mehr ins Regency-Zeitalter, wo sie den Leser am Schicksal von Amber und Richard hautnah teilhaben lässt. Der flüssige, bildhafte und gefühlvolle Erzählstil fesselt schon mit dem Prolog und schickt den Leser mit einem tollen Kopfkino auf Zeitreise, wo er sich einer ereignisreichen Zeit gegenüber sieht, wo Standesdünkel, gesellschaftliche Normen und Werte das Leben der Menschen bestimmen. Mit wechselnden Perspektiven, in denen der Leser mal an der Seite von Amber, mal an der von Richard steht, erlebt er nicht nur die Gedanken- und Gefühlswelt der beiden Hauptprotagonisten hautnah mit, sondern die Autorin steigert durch die Ereignisse auch die Spannung innerhalb der Geschichte, die immer wieder neue überraschende Wendungen bergen und somit auch das Ende nicht vorhersagen lassen. Der Leser wird von Beginn an zum Miträtseln animiert, während er mitfiebert, welche Richtung die Handlung wohl nehmen wird. Dazu kommen die farbenfrohen Beschreibungen der Örtlichkeiten, so dass der Leser neben der Apotheke, auch St. Davids und das Anwesen Cold Ashton Manor klar vor dem inneren Auge hat. Der christliche Aspekt wird wunderbar mit der Handlung verwoben, in denen es neben Vergebung vor allem um Gottvertrauen geht.
Ihre Charaktere hat die Autorin detailreich und lebendig in Szene gesetzt, sie sind ihrer Zeit gemäß wunderbar eingepasst, besitzen glaubwürdige menschliche Ecken und Kanten, die sie authentisch wirken lassen und den Leser sofort von sich überzeugen können, der regelrecht mit ihnen fiebert. Amber ist eine offene, großzügige, warmherzige, tiefgläubige und hilfsbereite junge Frau, die sich sofort ins Leserherz schleicht. Richard ist ein aufrichtiger, ehrlicher und tierlieber Mann, der sich seiner Verantwortung bewusst ist und in deshalb in einer Zwickmühle sitzt. Sir Millweard ist ein sympathischer Mann, der jedem ohne Standesdünkel seine Unterstützung angedeihen lässt. Francis ist Richard ein echter Freund, der ihm auch schonungslos ins Gewissen zu reden weiß. Ambers Tante Juliette sowie Onkel Ethan sind herzensgute Menschen, die Amber eine neue Heimat bieten. Richards Vater ist ein Egoist, dem das Wasser bis zum Hals steht. Lady Helen ist zwar vermögend, kann sich damit aber nicht das Glück der wahren Liebe erkaufen.
„Die zweite Braut von Cold Ashton Manor“ ist ein rundum gelungenes Gesamtpaket aus historischem Roman, bittersüßer Liebesgeschichte und vielen Spannungsmomenten. Unvorhersehbar und zum Miträtseln, dabei ein wunderbares Kopfkino – sehr empfehlenswert, hier ist eine absolute Leseempfehlung mehr als verdient!!!

Veröffentlicht am 30.07.2021

Machtwechsel

Was uns durch die Zeiten trägt
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1943. Der kleine Ort Lindenau in Niederschlesien ist die Heimat von Luise Reich und ihrer Familie, die dort auf einem alten Bauernhof leben. Die Arbeit auf dem Hof ist hart, jeder muss zupacken, obwohl ...

1943. Der kleine Ort Lindenau in Niederschlesien ist die Heimat von Luise Reich und ihrer Familie, die dort auf einem alten Bauernhof leben. Die Arbeit auf dem Hof ist hart, jeder muss zupacken, obwohl die Familie den polnischen Zwangsarbeiter Marian als Unterstützung zugewiesen bekommen haben. In Wolfgang, den drei Jahre älteren Sohn der Nachbarn, ist Luise heimlich verliebt, deshalb droht ihre Welt zusammenzubrechen, als Wolfgang wie viele andere aus dem Ort zum Frontdienst einberufen wird. Während Wolfgang seinen Kriegsdienst verrichtet, nähert sich Luise immer mehr Marian an, was ihre Eltern gar nicht gern sehen. Als Deutschland den Krieg verliert, untersteht Lindenau auf einmal der polnischen Regierung und der vormalige Zwangsarbeiter Marian gehört nun zu den Siegern…
Marion Johanning hat mit „Was uns durch die Zeiten trägt“ einen sehr unterhaltsamen historischen Roman vorgelegt, der mit seinem farbenprächtigen, flüssigen und gefühlvollen Schreibstil von Anfang bis Ende zu überzeugen weiß und den Leser regelrecht an die Seiten fesselt. Per Zeitreise geht es zurück in das Jahr 1943, wo der Leser sich in Niederschlesien auf dem Hof der Reichs wiederfindet und dort bis 1946 verweilt, um die letzten Jahre des Krieges dort zu verbringen. Der Autorin gelingt es hervorragend, die düstere, erdrückende Atmosphäre empathisch wieder zu spiegeln, ebenso gelungen skizziert sie eine in sich zerrissene Dorfgemeinschaft, wo die einen den Nazis treu ergeben sind, während die anderen an deren Sieg zweifeln. Auch Wendehälse gibt es reichlich, Luises Vater ist einer davon, hauptsächlich, weil er sich sein Hab und Gut nicht nehmen lassen will und sich der Situation anpasst. Die Übernahme Schlesiens durch Polen bedeutet für viele, ihre Heimat zu verlieren und sich mit dem Nötigsten zu flüchten, andere harren aus, wollen ihren Besitz nicht verlassen und müssen sich den neuen Machthabern beugen, deren Willkür sie fortan ausgesetzt sind. Aber auch die Polen verlieren ihre Heimat an die Russen und mussten zudem unter den Gräueltaten der Deutschen extrem leiden. Die Landschaftsbeschreibungen sind farbenfroh und spulen während der Lektüre im Kopf des Lesers einen Film ab. Die eingepflegten Tagebuchausschnitte von Luise geben dem Leser Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlslage, zudem geben sie eine kleine Verschnaufpause zwischen den einzelnen Kapiteln.
Den Charakteren wurde Leben eingehaucht, sie wirken authentisch, glaubwürdig und für ihre Zeit sehr realistisch in ihrem Handeln und Tun. Der Leser darf als unsichtbarer Gast in Lindenau einquartieren, um das Schicksal von Luise, ihrer Familie und den Dorfbewohnern zu verfolgen. Luise ist eine lebensfrohe junge Frau, die nie die Hoffnung verliert. Sie ist hilfsbereit, offen, mutig und vorausschauend, Niederschläge lassen sie immer stärker werden. Christel ist Luises Konkurrentin um Wolfgangs Zuneigung. Sie hält sich für etwas Besseres, zudem ist sie manipulativ und hält es mit der Wahrheit nicht so genau. Marian ist ein netter Mann, der Luise nicht nur ein guter Freund wird, sondern sie respektiert und ihr bei einigen Dingen die Augen öffnet. Aber auch Luises Familie, Wolfgang und einige andere Protagonisten wissen mit ihren Auftritten die Handlung interessant zu untermauern.
„Was uns durch die Zeiten trägt“ ist ein spannender historischer Roman, der mit einer akribischen geschichtlichen Hintergrundrecherche sowie einer unterhaltsamen Geschichte mit authentischen Protagonisten den Leser durchgängig fesselt. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 25.07.2021

Dies irae - Tag des Zorns (Totenmesse)

Das Kind von Gleis 1
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1939. Als sich die Lage für Juden in Prag immer mehr verschlechtert, schickt die ehemalige Pianistin Eva ohne das Wissen ihres Ehemannes Josef ihre Tochter Miriam mit einem Kindertransport nach England, ...

1939. Als sich die Lage für Juden in Prag immer mehr verschlechtert, schickt die ehemalige Pianistin Eva ohne das Wissen ihres Ehemannes Josef ihre Tochter Miriam mit einem Kindertransport nach England, um sie dort in Sicherheit zu wissen. Miriam kommt unvorhergesehen in die Familie der Quäkerin Pamela, deren Ehemann im Foreign Office unter Churchill arbeitet. Ihr eigener Sohn Will hat sich freiwillig zur Royal Air Force gemeldet und wird schon bald als vermisst gemeldet. Während Miriam in einem Internat aufwächst zusammen mit anderen tchechischen Kindern und in Pamela und Hugh eine liebevolle Ersatzfamilie gefunden hat, wird ihre leibliche Mutter Eva gemeinsam mit ihren Eltern und Ehemann Josef bald ins Lager Theresienstadt verbracht. Dort trifft Eva ehemals bekannte Musiker und Lehrer aus dem Konservatorium wieder, die im Lager nicht nur einen Chor aufbauen, sondern auch erfolgreich einige Aufführungen für die Nazis inszenieren. Während Miriam sich in England immer noch nach ihren leiblichen Eltern sehnt, begegnet Eva zufällig im Lager ihrer erstgeborenen Tochter Hana, die sie als junges Mädchen zur Adoption gegeben hat...

Gill Thompson hat mit „Das Kind von Gleis 1“ einen berührenden historischen Roman vorgelegt, der nicht nur das Schicksal der Prager Juden in den Fokus rückt, sondern auch das zweier unterschiedlicher Familien, deren Leben auf wundersame Weise miteinander verknüpft wird. Der flüssige, bildhafte und einfühlsame Erzählstil lässt den Leser in der Zeit zurückreisen, um sich mitten im Zweiten Weltkrieg in Prag wiederzufinden, um dort Eva und ihrer Familie zu begegnen. Eva ist eine hochbegabte angehende Pianistin, die aufgrund einer Gewalttat der Musik den Rücken kehrt und eine Familie gründet. Auch während die Nazis Prag schon vereinnahmt haben, wiegt sich vor allem Evas Ehemann noch in Sicherheit. Der Leser allerdings möchte ihm und seinen Lieben gern zurufen, so schnell wie möglich die Sachen zu packen und zu flüchten. Das Herz wird einem schwer, als Eva sich von ihrer kleinen Tochter trennt, damit diese in Sicherheit ist. Die große Mutterliebe ist durchweg spürbar. Aber auch Pamela in England bangt um ihren Sohn Will, der sich klammheimlich freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet hat. Immer wieder wechselt die Szenerie, mal ist der Leser in Prag bei Eva, mal bei Pamela und Hugh in London, verfolgt die Schicksale der beiden Familien, die doch so unterschiedlich zugeschnitten sind, denn während Eva durch die Hölle muss, ist Pamelas Alltag doch eher von ehrenamtlicher Tätigkeit bestimmt. Die Handlung untermalt die Autorin mit bittersüßer Musik, die so wunderbar zu dieser berührenden Geschichte passt, denn als Leser weiß man schon, was auf Eva und die mit ihr inhaftierten Juden zukommen wird. Wie absurd auch die Tatsache, dass die Nazis den Juden das Musizieren sowie Bücher, Theater und andere kulturelle Dinge verboten haben, doch im Lager dann genau diese Unternehmungen gestatten und deren Aufführungen sogar genießen. Das Nachwort der Autorin ist hochinteressant, denn sie hat ihre Geschichte rundum wahre Begebenheiten gestrickt, die sie während ihrer Recherche aufgedeckt hat.

Die Charaktere sind liebevoll und authentisch in Szene gesetzt, sie wirken glaubwürdig und vor allem sehr lebendig, so dass der Leser ihrem Schicksal gerne folgt, wobei er mit ihnen fiebert. Pamela ist eine pragmatische, gläubige Frau, die sich gern engagiert. Sie ist hilfsbereit, liebevoll und vor allem eine Mutter. Eva hat schon einiges erleben müssen, so dass sie kaum zu träumen wagt. Ihre Tochter Miriam ist ihr ein und alles, Eva will um jeden Preis ihr Leben retten. Evas Ehemann Josef ist ein Forscher, der bis zuletzt glaubt, die Nazis würden ihn brauchen, doch dann siegt sein Gewissen. Aber auch Hugh, Will, Tomasz, Otto und vor allem Hana spielen wichtige Rollen in dieser Geschichte, die so überraschend und anrührend endet.

„Das Kind von Gleis 1“ ist ein Roman über die unrühmliche deutsche Nazivergangenheit, in der vor allem Musik und die Liebe von Müttern eine große Rolle spielen. Die Autorin hat ihre Geschichte intensiv und fesselnd gewebt, so dass man als Leser das Buch kaum aus der Hand legen kann. Verdiente Leseempfehlung für einen Ritt auf der Achterbahn der Gefühle!