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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.10.2021

Witzig, tragisch, nachdenklich

Barbara stirbt nicht
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Meinung

„Barbara stirbt nicht“ beschreibt Herrn Schmidts Credo. Er kocht, er backt, weil er überzeugt ist, dass, wenn seine Frau nur ordentlich isst, sie wieder auf die Beine kommt. Das Barbaras gesundheitliche ...

Meinung

„Barbara stirbt nicht“ beschreibt Herrn Schmidts Credo. Er kocht, er backt, weil er überzeugt ist, dass, wenn seine Frau nur ordentlich isst, sie wieder auf die Beine kommt. Das Barbaras gesundheitliche Situation eine andere ist, wird nie offen ausgesprochen, dennoch ahnt man schnell, wie es wirklich um sie steht.

Herr Schmidt ist auf den ersten Blick kein liebenswerter Charakter. Er ist schroff, rassistisch und fest verankert in seinen alten Werten. Doch zwischen den Zeilen blitzt immer wieder seine Unsicherheit hervor. Ich schätze ihn auf Mitte siebzig. Nach dem Krieg musste er mit seiner Mutter, von seinem Vater ist nie die Rede, nach Westdeutschland fliehen. Der Makel des Flüchtlings, des Zugezogenen hat sich tief in ihm festgesetzt und ist für mich der Grund, weshalb er kaum soziale Kontakte hat. Er fühlt sich nicht dazugehörig, auch wenn er fast sein ganzes Leben schon in dieser Kleinstadt verbracht hat.

Seine Weigerung die lesbische Beziehung seiner Tochter anzuerkennen oder den fremd klingenden Namen seiner Schwiegertochter auszusprechen, lässt ihn unsympathisch wirken. Hinzu kommt noch der deutsche Schäferhund namens Helmut. Alle Klischees erfüllt, aber so einfach ist es nicht. Im Verlauf des Romans verändert sich Herr Schmidt, er reflektiert sein Leben an der Seite seiner Frau, die er eigentlich gar nicht hatte heiraten wollen oder war es seine Mutter, die Barbara für die falsche Frau hielt? Im Verlauf der Erzählung kommen einige Lebenslügen ans Licht, ohne das sie tatsächlich offengelegt werden.

Herr Schmidt ist immer für eine Überraschung gut. Ja, er ist ein herrischer alter Herr, der sehr verletzend sein kann, vor allem seinen Kindern gegenüber, doch dann scheint wieder eine andere Seite von ihm durch. Auf liebevolle Art kümmert er sich um Barbara. Er versucht ihre Essenswünsche zu erfüllen, er hält den Laden am Laufen, übernimmt ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten und er stellt sich der größten Lüge ihrer Ehe und versucht sein Verhalten von damals zu korrigieren.

In Herrn Schmidts Leben treten die unterschiedlichsten Personen und auch hier zeigt sich, dass er gar nicht so verbohrt ist, wie er tut. Das er geradeheraus sagt, was er denkt, führt zu einer Fülle von Szenen mit Situationskomik. Ich habe während der Lektüre sehr viel gelacht, weil ich mich an Menschen erinnert fühlte, die Herrn Schmidt ähneln. Dadurch hatte ich ein ziemlich genaues Bild von ihm im Kopf. Alina Bronsky ist es gelungen diesen vermeintlich unsympathischen Zeitgenossen auf humorvolle Weise zu entlarven. Sie zeigt seine verletzlichen und guten Seiten, die sich hinter dieser teilweise unerträglichen Art verbergen.

Dieser Roman ist unglaublich witzig und zugleich zeigt er auch die tragischen Seiten des Lebens. Die hervorragende Beobachtungsgabe der Autorin wird mit diesem Buch wieder mehr als deutlich. Um die persönliche Geschichte der einzelnen Charaktere zu erzählen braucht sie nicht viele Worte. Alina Bronskys Schreibstil ist unverwechselbar auf den Punkt.

Mein einziger Kritikpunkt betrifft das Ende, das kam mir zu abrupt. Ich war von der Handlung und der letzten Figur doch sehr überrascht. Ich hätte mir frühere Hinweise gewünscht, um nicht so überrumpelt zu werden. Mittlerweile habe ich mich damit versöhnt, weil ich glaube, Herr Schmidt will reinen Tisch machen, für sich, aber auch für seine Frau. Sein unfreiwilliger Neustart soll frei von dem Ballast der Vergangenheit sein.

Fazit

„Barbara stirbt nicht“ hat mich oft zum Lachen gebracht, mich gut unterhalten, aber auch zum Nachdenken angeregt.

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Veröffentlicht am 29.09.2021

Fesselnder Mix

Alles, was wir sind
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Inhalt

Der bekannte russische Dichter Boris Pasternak stellt seinen Roman „Dr. Schiwago“ fertig, doch in der Sowjetunion wird das Buch aufgrund der staatsfeindlichen Schilderungen nicht veröffentlicht. ...

Inhalt

Der bekannte russische Dichter Boris Pasternak stellt seinen Roman „Dr. Schiwago“ fertig, doch in der Sowjetunion wird das Buch aufgrund der staatsfeindlichen Schilderungen nicht veröffentlicht. Als ein italienischer Verleger sich um die Rechte des Romans bemüht, um diesen in Europa zu veröffentlichen, willigt Pasternak ein und tritt damit eine Lawine los, die ihn in seinem Land das Leben kosten könnte.

Der Roman erscheint und wird zum Bestseller. Mitten im Kalten Krieg wird der US-amerikanische Geheimdienst auf diesen Literaturerfolg aufmerksam. Die CIA lässt den Roman im Original drucken und schmuggelt das Buch in die Sowjetunion, um Widerstand in der Bevölkerung zu wecken. Als der KGB davon erfährt, versucht er mit allen Mitteln die Verbreitung des Romans zu verhindern. Als Pasternak dann auch noch der Nobelpreis verliehen wird, sieht die Sowjetunion sich gezwungen zu handeln. Es ist der Kampf der Systeme, die einen Roman kurzzeitig zum Spielball der Macht machen und dadurch das Leben einiger Menschen tiefgreifend verändern.


Meinung

„Alles, was wir sind“ erzählt die Geschichte eines berühmten Romans; Doktor Schiwago. Der sensible Schriftsteller und Arzt Schiwago, hin und her gerissen zwischen seiner Familie und seiner großen Liebe Lara und das alles vor dem historischen Umbruch der russischen Oktoberrevolution. „Dr. Schiwago“ wurde bei seinem erscheinen zu einem Politikum, zum Spielball im Kalten Krieg. Der Roman „Alles, was wir sind“ beruht auf wahren Tatsachen. Dafür hat die Autorin Lara Prescott aufwendig recherchiert.

Die Geschichte spielt über das gesamte Jahrzehnt der 1950er. Dabei wechseln sich Ost und West ab, sodass die Handlung aus völlig unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Den Anfang macht Olga, also der Osten. Sie ist Pasternaks Geliebte. Eine verhängnisvolle Liebe zu Zeiten Stalins und Chruschtschow. Noch bevor Schiwago überhaupt fertig gestellt ist, verbringt sie drei Jahre im Arbeitslager. An Pasternak selbst traut man sich nicht heran, zu groß ist seine Beliebtheit. Als der Roman beendet ist, findet sich in der Sowjetunion niemand, der es wagt,das Buch zu veröffentlichen. Am Beispiel von Pasternak wird deutlich, wie der Staat seine Macht ausspielt, wie sehr er über die Kultur bestimmt und wie er es versteht sein Volk zu manipulieren. Olgas Schilderungen vom Umerziehungslager sind erschreckend. Dort sind keine Straftäterinnen, sondern nur Frauen, die die rechtliche Willkür einer Diktatur zu spüren bekommen.

Auch in Pasternaks Gedanken tauchen wir ein und erfahren seine Sicht der Dinge. Ich kann verstehen, dass er seinen Roman veröffentlichen will, dass er den Nobelpreis annehmen will, doch er bringt damit nicht nur sich selbst, sondern vor allem Olga und ihre Kinder in Gefahr. Er nimmt meiner Ansicht nach wenig Rücksicht. Drei Jahre hat sie wegen ihm schon im Lager verbracht. Sie, nicht seine Frau! Und es werden nach seinem Tod weitere hinzukommen. Wohl wissend welche Konsequenzen sein Handeln haben könnte, lässt er zu, dass Schiwago in Europa veröffentlicht wird. Er unternimmt auch keinerlei Anstrengung Olga herauszuhalten. Jedenfalls wirkt es auf mich so.

Im Westen, in Washington D.C., sind die Frauen nach dem zweiten Weltkrieg wieder auf ihren Platz verwiesen worden. Die meisten fügen sich in die neue alte Welt, heiraten, werden Mutter. Nur wenige bleiben dem Geheimdienst treu. Die feine, aber auf den Punkt gebrachte Kritik der Autorin hat mir sehr gefallen. Sie sagt wie es ist. Die Männer, egal wie unfähig, machen Karriere, die Frauen, mit gleicher Qualifikation, bleiben Stenotypistinnen. Auch sonst finden sich in dem Roman einige deutliche Seitenhiebe auf das patriarchische System.

Die Grundzüge dessen, was den Westen bewegt, erzählen uns eben diese Stenotypistinnen. Es ist ähnlich wie der Klatsch auf dem Büroflur, den man im Vorübergehen aufschnappt. Informativ, kurzweilig und wahrhaftiger als so manches offizielle Statement. Jedenfalls erzählen sie uns von früher, von jetzt und erklären den Lesern die Zusammenhänge und versorgen uns mit allen Neuigkeiten. Tiefer in die Geschichte steigen wir mit Irinas und Sallys Erzählungen ein. Aus ihren Perspektiven erleben wir sowohl ihre Liebesaffäre als auch ihre geheimen Aktivitäten hautnah mit. In den konservativen 1950er Jahre war Homosexualität in den USA undenkbar und wurde verfolgt. Eine Haltung, die es den beiden Frauen unmöglich macht, ihre Liebe zu leben.

Die Autorin Lara Prescott hat aus einer wahren Geschichte rund um „Doktor Schiwago“, die mir bisher nicht in dem Umfang bekannt war, einen packenden und gesellschaftskritischen Roman verfasst. „Alles, was wir sind“ kritisiert dabei nicht einseitig nur die willkürliche und menschenverachtende Politik der ehemaligen Sowjetunion, sie schreibt auch über die Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf Ehefrau und Mutter reduziert wurden. Ihre Leistungen während des Krieges waren schnell vergessen und die Männer nahmen wieder ihre angestammten Positionen ein. Es war ein Zurück zu den konservativen Werten. Auch das Thema der Homosexualität oder die sexuelle Übergriffigkeit mancher Männer spart die Autorin nicht aus.

Aufgrund der klaren Unterteilung zwischen West und Ost, den verschiedenen Erzählperspektiven, die meinen Lesefluss nie gestört haben, ist der/die Leser:in immer mitten im Geschehen und lernt die Charaktere in allen Facetten kennen. Die Hauptakteurinnen des Romans sind die Frauen. Olga und im späteren Verlauf des Buches auch ihre Tochter Ira für den Osten und natürlich Irina und Sally ebenso wie der Pulk der Stenotypistinnen für den Westen. Dem Roman gelingt es großartig die Stimmung der Angst, die in der Sowjetunion umgeht, einzufangen ebenso wie die biedere, patriarchische Gesellschaft in den USA auf den Punkt zu beschreiben. Der Roman schlägt sich auf keine Seite. Kein schwarzweiß Denken, kein Gut und Böse, etwas, das mir sehr gut gefallen hat.


Fazit

Es ist ein lebendiger als auch bemerkenswerter Roman nach einer wahren Geschichte.

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Veröffentlicht am 19.09.2021

Soannend, unterhaltsam und aktuell

A. S. Tory und das Spiel mit der Zeit
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Meinung

Der letzte Teil der Reihe blendet die Pandemie nicht aus, gibt ihr jedoch auch nicht mehr Raum als nötig. Meiner Ansicht nach ist es der Autorin hervorragend gelungen die richtige Balance zu finden. ...

Meinung

Der letzte Teil der Reihe blendet die Pandemie nicht aus, gibt ihr jedoch auch nicht mehr Raum als nötig. Meiner Ansicht nach ist es der Autorin hervorragend gelungen die richtige Balance zu finden. Da jeder Roman in der Jetztzeit spielte, hätte ich es seltsam gefunden, die Pandemie nicht zu erwähnen und so zu tun, als ob alles wäre wie 2019.

Es wirkt sich diesmal auch auf den Auftrag aus, den Sid von Tory bekommt. Anstatt wie in den vorherigen Teilen verschiedene Länder zu bereisen, bleiben Chiara und Sid diesmal in Deutschland. Die sonstigen Reisen werde durch Reisen durch die Zeit ersetzt. So spielt der Roman über zwei Generationen hinweg. Zum einen handelt es sich um den Großvater, der ab den 1940er Jahren verschwindet, zum anderen geht es um Arne, der Mitte der 80er abhaut.

Das vorrangige Thema des Romans ist die sexuelle Orientierung und der Umgang mit ihr. Immer wieder gab es Vorstöße für Toleranz, dann ging es jedoch gesellschaftlich wieder rückwärts. Seit nicht einmal dreißig Jahren ist Homosexualität keine Straftat mehr. In vielen Familien wurde über solche Sachen nicht gesprochen, sowie in der Familie, deren Geheimnisse Chiara und Sid nun aufdecken. Der Roman ist ein Appell für Toleranz, aber auch dafür miteinander zu reden und Dinge nicht tot zu schweigen.

Frankfurt, Leipzig und das Elbsandsteingebirge sind diesmal die Orte, an denen die Geschichte spielt. Auch hier wird die jeweilige Atmosphäre wunderbar eingefangen. Gerade im Elbsandsteingebirge verbringen Chiara und Sid drei Tage in Abgeschiedenheit. Denn das, was sich im letzten Band offensichtlich anbahnte, kommt nun auf den Tisch. Die Frage, wie Chiara und Sid zueinander stehen, gehört zu den stetigen Entwicklungen der Reihe. Ebenso wie bei der Pandemie, findet die Autorin bei dieser zwischenmenschlichen Frage die passende Gewichtung zu der eigentlichen Handlung.

Vom ersten bis zu diesem Band haben sich die Charaktere merklich entwickelt. Sid ist nun volljährig, besitzt seinen Führerschein und wenn die Pandemie ausklingt, wird er sicher die Welt erkunden. Aus dem Teenager ist nun ein junger Mann geworden. Auch Chiara hat sich gemacht. Ihr Leben bekommt langsam Kontur und wer weiß, was sie studieren wird. Beide stehen nun an einem neuen Lebensabschnitt, dass wird in der Erzählung deutlich. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Reihe hier endet. Tory spielt in diesem Teil nur noch eine sehr nebensächliche Rolle, da er durch sein Alter und die Pandemie in London bleibt. Schlussendlich ist es auch ein Abschied von dem alten Herren, der die Abenteuer erst ermöglicht hat.

Als Leserin verabschiede ich mich von dem letzten Teil der Reihe mit ein bisschen Wehmut. Mir haben Chiaras und Sids Abenteuer sehr gefallen. „A.S. Tory und das Spiel mit der Zeit“ ist ein unterhaltsamer Jugendroman, der Themen der Zeit mit einer Leichtigkeit aufgreift ohne belehren zu wollen. Besonders gefällt mir, dass er zum eigenständigen Denken anregt. Jeder Leser:in kann etwas für sich daraus mitnehmen.


Fazit

Ein gelungener Abschluss einer fantastischen Buchreihe. Unterhaltsam, spannend und ein Aufruf dazu neugierig und abenteuerlustig zu bleiben.

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Veröffentlicht am 22.08.2021

Lebensnahe Erzählung

Wildtriebe
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Inhalt

Der Bethches Hof ist nach den Frauen benannt, die ihn prägten. Die bislang letzte in dieser Reihe ist Lisbeth, eine traditionsbewusste Großbäuerin. Doch die Zeiten in der Landwirtschaft ändern ...

Inhalt

Der Bethches Hof ist nach den Frauen benannt, die ihn prägten. Die bislang letzte in dieser Reihe ist Lisbeth, eine traditionsbewusste Großbäuerin. Doch die Zeiten in der Landwirtschaft ändern sich. Als ihr Sohn heiratet, zieht die Schwiegertochter auf dem Hof. Marlies ist eine moderne Frau, die nicht von einem Bauernhof stammt und sich an dessen Rhythmus erst gewöhnen muss. Bald entstehen die ersten Konflikte zwischen den zwei Frauen. Wortlos werden diese ausgetragen. Anfangs bemüht Marlies sich ein Teil der Familie zu werden, doch immer öfter sucht sie lieber das Weite, als ihren Platz auf dem Hof einzunehmen. Ihre Tochter Joanna soll später, wenn sie erwachsen ist, freier in ihren Entscheidungen sein. Joanna wächst zwar zu einer selbstbestimmten, jungen Frau heran, doch unterscheiden sich ihre Vorstellungen vom Leben sehr von den Plänen, die Marlies für ihre Tochter hat. Drei Frauen, drei Generationen, drei Lebenswege, geprägt von der Unfähigkeit miteinander zu reden.

Meinung

Unprätentiös beschreibt der Debütroman „Wildtriebe“ von Ute Mank das Leben auf einem traditionellen Bauernhof. Hierbei stehen drei Generationen Frauen im Fokus. Zwischen Tradition und Moderne müssen sie allerlei Erwartungen standhalten. Erwartungen der Familie, der Nachbarn und auch den eigenen.

Von Lisbeth wurde, nach dem beide Brüder im Krieg gefallen sind, erwartet, den Hof zu übernehmen. Ihre Eltern, besonders ihre Mutter, sind am Tod der Söhne zerbrochen und waren für die junge Lisbeth keine große Hilfe mehr. Zum Glück hatte sie Karl, der für sie auf seinen eigenen Hof verzichtete. Schnell wurden sie ein eingespielten Team. Jeder kannte seine Platz, seine Aufgaben und wichtige Dinge wurden abends im Bett besprochen. Doch die Ehe bleibt lange kinderlos und der Druck auf Lisbeth erhöht sich. Sie fühlt sich dem Gerede der anderen Dorfbewohner ausgesetzt. Bezeichnend für die Zeit ist es aus meiner Sicht, dass Lisbeth nie der Gedanke kommt, dass es an Karl liegen könnte. Sie sieht es zeitlebens als ihr persönliches Versagen an, obwohl Karl immer zu ihr steht. Die alte Generation hat sich nie gefragt, ob es ein Leben abseits des Hofs geben könnte. Einen großer Bauernhof zu bewirtschaften war mehr, als die meisten hatten. Lisbeth und Karl sind mit ihrem Schicksal zufrieden.

Marlies kommt aus bürgerlichen Verhältnissen. Als Mädchen wurde sie von Kindesbeinen dazu erzogen einmal zu heiraten und Mutter zu werden. Andere Möglichkeiten werden für sie ausgeschlossen. Zwei Jahre lang gehen sie und Konrad zusammen aus, dann ist es an der Zeit zu heiraten. Wie damals üblich zieht Marlies zu Konrad auf den Hof. Schon kurz nach der Hochzeit spürt Marlies, dass sie fehl am Platz ist. Es ist ein furchtbares Dilemma, in das Marlies hineinschlittert. Sie ist gefangen in den Konventionen und kann sich daraus nicht befreien.

Der Autorin gelingt es vortrefflich diesen Zwiespalt zu beschreiben. Marlies Auszeiten, in denen sie den Hof, Konrad und Lisbeth vergessen kann und doch immer wieder der aufkommende Druck, Erwartungen erfüllen zu müssen, die seit jeher an sie gerichtet wurden, und ihr innerer Kampf sich dagegen aufzulehnen. Oftmals steht sie sich selbst im Weg, gefangen in ihrer Wortlosigkeit. Die Freundin als Gegenpol, die anscheinend alles so mühelos bewältigt und in der Rolle der Hausfrau und Mutter aufgeht.

Durch ihre Unfähigkeit ihre Gefühle auszudrücken, entfernt Marlies sich auch von ihrer Tochter. Ab der Pubertät scheint Marlies kaum an Joanna heranzukommen, was auch nicht besser wird, als Joanna aus Afrika zurückkommt. Joanna wendet sich eher an ihre Oma Lisbeth, sie ist ihre Vertraute in der Familie. Ich hatte nie das Gefühl, dass Lisbeth ihrer Schwiegertochter absichtlich das Leben schwer macht, doch auch ihr fehlen die Worte, die eine Brücke hätten schlagen können. Zu verschieden sind die Frauen auf dem Bethches Hof.

Die Geschichte wird abwechselnd aus Lisbeths oder Marlies Sicht geschildert. Ihre Gedanken und Erinnerungen geben Aufschluss über das Innenleben der Zwei, die ansonsten nie über sich reden. Der unaufgeregte Schreibstil der Autorin passt zur Geschichte und den Figuren, die allesamt wahrhaftig erscheinen. Die Männer treten nur am Rande in Erscheinung, manches muss man sich eher denken, als das es geschrieben steht. So bleiben manche Sätze unvollständig. Auch hier, lieber weniger als zu viele Worte. Die Romanerzählung erstreckt sich über ungefähr 25 Jahren und endet mit einem Hoffnungsschimmer für alle Charaktere.

Als Leser:in erfährt man viel über den Wandel des Hoflebens. Zu Lisbeths Zeiten beschäftigte der Hof viele Knechte und Mägde, dann kamen die Maschinen und die politischen Reglementierungen und dann das aus. Lisbeth war mir von den drei Frauen am nächsten. Ich konnte sie gut verstehen, vielleicht auch, weil ich Ähnlichkeiten zu meiner Oma entdeckte. Marlies empfand ich als anstrengend. Ihr fehlt meiner Meinung nach nicht nur das Gespür für ihre eigenen Bedürfnisse, sondern auch Empathie für die Menschen, die ihr Nahe stehen sollten. Diese krankhafte Eifersucht auf Lisbeth, habe ich nur bedingt nachvollziehen können. Ich kann verstehen, dass sie das Beste für ihre Tochter will, allerdings ahmt sie das Verhalten ihrer Eltern nach und fragt nie danach, was Joanna will. Ebenso zeigt sie kaum Interesse an Konrad. Sie entscheidet allein. Was er möchte, übergeht sie einfach. Dabei versucht er sie in allem zu unterstützen. Er nimmt wesentlich mehr Rücksicht auf sie als sie auf ihn. Für mich ist Marlies die einsamste Person in dem Roman, weil sie nie gelernt hat, Dinge zu auszusprechen oder sich Konflikten zu stellen.

„Wildtriebe“ ist ein ruhiger Roman, der von drei Frauen erzählt, die versuchen den Erwartungen ihrer Zeit gerecht zu werden und darüber ihre eigenen Bedürfnisse aus den Blick verlieren. Ihre Generationenkonflikte entstehen vor allem durch ihre Unfähigkeit miteinander zu reden.



Fazit

Ein ganz wunderbarer, lebensechter Roman. Wem beispielsweise die Romane von Dörte Hansen gefallen haben, wird „Wildtriebe“ ebenso gerne lesen. Für mich ein vollkommenes Lesevergnügen und eines der besten Bücher.

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Veröffentlicht am 29.07.2021

Eine meisterhafte, fesselnde Erzählung

Revolution der Träume
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Inhalt

In „Revolution der Träume“ kommen die Freunde Isi, Carl und Artur endlich wieder zusammen. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, aber Hunger, Armut und politische Revolten wollen nicht enden. Ihr Heimatort ...

Inhalt

In „Revolution der Träume“ kommen die Freunde Isi, Carl und Artur endlich wieder zusammen. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, aber Hunger, Armut und politische Revolten wollen nicht enden. Ihr Heimatort Thorn gehört nun zu Polen und in Berlin scheint alles möglich zu sein, seit der Kaiser abgedankt hat.
Isi hat sich dem Spartakusbund angeschlossen, Artur ist Chef einer zwielichtigen Truppe und betreibt ein berüchtigtes Lokal, in dem alle gesellschaftlichen Schichten feiern. Carl arbeitet bei der UFA und lernt die Filmgrößen dieser Zeit kennen.

Auch in den unsicheren Jahren des Umbruchs versuchen die Drei ihre Träume zu verfolgen. Das ist gar nicht so leicht, denn überall lauern Gefahren, spinnen sich Intrigen und die allgegenwärtige Gewalt fordert viele Opfer. Isi, Artur und Carl wissen, dass sie sich auf einander verlassen können. Sie vertrauen fest darauf, dass ihre Freundschaft sie unversehrt durch diese Zeiten bringen wird. Sie geben ihre Träume nicht auf.


Meinung

Nach wenigen Seiten war ich wieder mitten drin, in der Geschichte. Zu deutlich war mir der erste Teil „Schatten der Welt“ noch im Gedächtnis. Andreas Izquierdo erzählt in „Revolution der Träume“ detailgetreu vom Berliner Leben kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Vom Glamour der berüchtigten 1920iger Jahre ist zu dem Zeitpunkt kaum was zu spüren. Das Land und vor allem Berlin ist in Aufruhr. Straßenkämpfe mit kriegsähnlichen Charakter, Krankheit, bittere Armut, Kriegskrüppel und Flüchtlinge aus dem Osten prägen das Bild der Berliner Straßen. Die erste Demokratie hat es schwer sich gegen Rechtsnationale, Militär und Kommunisten zu behaupten. Mitten im Geschehen Isi, Carl und Artur, die auf einen Neuanfang hoffen, um ihre Träume zu verwirklichen.

Artur, der die Gunst der Stunde zu nutzen weiß, die furchtlose, temperamentvolle Isi, die für Gerechtigkeit eintritt und der unbedarfte, etwas naive Carl – drei ungleiche Freunde, die nach dem Krieg wieder zusammenfinden. Wie im letzten Band ist es Carl, der von ihren Erlebnissen berichtet und mit geschickt gesetzten Cliffhanger, die Spannung der Geschichte nie abflachen lässt. Carl findet sich auf dem Gelände der UFA unter den Stars der Zeit wieder. Lubitsch, Pola Negri und Emil Jannings.

Die Traumwelt des Films passt perfekt zu Carl und unterstreicht deutlich seinen Charakter als liebenswerten und aufrichtigen Traumtänzer. Trotz all dem Leid, dass er gesehen und erlebt hat, ist er immer noch dieser feine Mensch, der er immer war. Daher leide ich besonders mit, wenn ausgerechnet Carl böse mitgespielt wird. Jeder der drei Charakteren ist auf seine Weise liebenswert und absolut authentisch. Es ist ihre besonders tiefe Freundschaft, die den Zauber für mich ausmacht, denn egal welche Probleme es gibt, sie halten fest zusammen.

Auch andere Charaktere, die wir bereits aus „Schatten der Welt“ kennen, tauchen wieder auf. So hat Falk Boysen den Krieg überlebt und sich den Freikorps in Berlin angeschlossen. Seine Schwester hat nur einen kleinen, aber sehr wirksamen Auftritt. Anna, die ehemalige Magd der Boysens arbeitet nun für Artur. Carl lernt seinen Onkel aus Riga kennen, der vor den Russen fliehen musste und erfährt etwas über die Familie seiner Mutter. Doch nicht alle meinen es gut mit den drei Freunden. Oftmals wird ihr Vertrauen und ihre Hilfsbereitschaft missbraucht und vermeintliche Freunde werden schnell zu Feinden.

In „Revolution der Träume“ begleiten wir Isi, Artur und Carl durch das turbulente und gefährliche Berlin nach dem Ersten Weltkrieg. Der Autor schildert anschaulich, wie es damals zuging. Er erzählt von den vielen Toten, aber auch von den Lebenswirklichkeiten der Reichen und der Armen und der Flüchtlinge aus dem Osten. Von politischen Lügen, falschen Entscheidungen und der maßlosen Enttäuschung über den verlorenen Krieg. Aber auch über eine Stadt, die sich neu erfindet und voller Chancen steckt, wie zum Beispiel der aufstrebende Film und die zahlreichen Kinos, die in Berlin aus dem Boden schießen. Es sind zwar Nebenschauplätze, allerdings kann ich Carls Euphorie über „Das Cabinet des Dr. Caligari“ nachempfinden. In diesem Roman finden alle ihren Platz, die verlorenen Seelen, die Stars ebenso wie die Mächtigen dieser Zeit.

Ich konnte das Buch kaum weglegen, doch je näher ich dem Ende kam, so langsamer versuchte ich zu lesen. Ich wollte keinen Abschied nehmen müssen und wieder ein Jahr auf den nächsten Teil warten. Ich fühle mich, wie auch beim ersten Teil, als vierte Freundin. Die Entwicklung der Erzählung ist nicht leicht zu durchschauen ebenso wie einige Figuren mich ganz schön in die Irre geführt haben. Ein Falk Boysen ist und bleibt natürlich der Böse. Doch beispielsweise Anna, die ehemalige Dienstmagd aus Thorn, ist sie vertrauenswürdig oder spielt sie ein hinterhältiges Spiel? Warum taucht Carls Onkel immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort auf? Zufall? Durch die fesselnde Erzählweise des Autors bleibt der Roman über seinen 500 Seiten Umfang hinweg spannend. Ich freue mich auf den dritten Teil, um zu erfahren, wie es mit Isi, Artur und Carl weitergeht.

Fazit

„Revolution der Träume“ hat mich genauso begeistert wie „Schatten der Welt“. Ein erlebnisreicher Roman. Großes Kino!

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