Profilbild von Tamagotchi

Tamagotchi

Lesejury Star
offline

Tamagotchi ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Tamagotchi über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.10.2021

Entfremdung in der eigenen Familie

Wenn ich wiederkomme
0

Die Rumänin Daniela ist die ärmlichen Verhältnisse, in denen sie mit ihrer Familie lebt, leid und verlässt in einer Nacht- und Nebelaktion ihre Heimat, ihren Mann und ihre Kinder, um in Italien als Altenpflegerin ...

Die Rumänin Daniela ist die ärmlichen Verhältnisse, in denen sie mit ihrer Familie lebt, leid und verlässt in einer Nacht- und Nebelaktion ihre Heimat, ihren Mann und ihre Kinder, um in Italien als Altenpflegerin Geld zu verdienen und somit die finanzielle Situation aufzubessern. Besonders ihre Kinder sollen davon profitieren. Zunächst läuft alles noch gut, die Kinder freuen sich über ein wenig westlichen Luxus und ihr Mann fängt an, das Haus zu renovieren. Aber schon bald verlässt auch der Vater die Familie, um im Osten Geld zu verdienen. Mehr und mehr entfremden sich die Kinder von ihrer Mutter und versagen ihr sogar weitgehend den gewünschten persönlichen Kontakt per Telefon. Was bleibt, ist nur oberflächliches Gerede.
Zunächst wird das Leben der Kinder beleuchtet, die ohne elterliche Führung zurechtkommen müssen, wobei Sohn Manuel gerade in der Pubertät steckt und Unterstützung gebrauchen könnte. Er leidet am schlimmsten, er erscheint mir einsam und hilflos, besonders nachdem dann sein geliebter Opa noch stirbt. Ohne jegliche Zuwendung wird er depressiv und versucht, diesem Zustand zu entfliehen. Mit schrecklichem Ergebnis!
Seine ältere Schwester Angelica erträgt die Situation besser, sie hat einen Freund und studiert, so dass sie nicht in Einsamkeit verfällt. Trotzdem wird auch von ihr viel verlangt, denn sie muss sich um alles kümmern und nebenbei studieren. So entwickelt sich ein sehr distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter. Während sie früher ihre Vertraute in ihr sah, geht sie nun auf Abstand und nimmt ihr Lebensglück selbst in die Hand, soweit es geht.
Im zweiten Teil sehen wir die Geschehnisse aus Sicht der Mutter, und meine Gefühle sind hier zwiegespalten. Auf der einen Seite sehe ich sie als mutige und aktive Frau, die sich für ihre Familie mancher Entbehrung unterzieht, auf der anderen Seite zeigt sich mir eine gewisse Rücksichtslosigkeit und Dominanz. Sie bestimmt über das Leben der anderen, bzw. sie möchte darüber bestimmen, denn immer klappt es nicht. Sympathisch ist Daniela mir nicht, obwohl ich ihre Beweggründe gut verstehe. Ihre anfänglichen Träume platzen, und was bleibt übrig?
Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen, der Autor versteht es, die Emotionen der Protagonisten deutlich werden zu lassen. Man fühlt sich in diesem Roman verankert und empfindet mit den Personen, variierend zwischen Mitleid, Verständnis bis hin zur Verachtung. Auf diese Weise hat mich das Buch regelrecht gefesselt, und ich habe es als spannend und informativ empfunden. Informativ insofern, als ich einen Einblick in das schwierige Leben der Pflegekräfte aus Osteuropa bekommen habe.
Ein sehr lesenswerter Roman!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.09.2021

Immer näher zum Abgrund

Shuggie Bain
0

Hier wird eine Familientragödie im Glasgow der 80er Jahre beschrieben, die vor dem Hintergrund der Zechenschließung und der daraus folgenden Massenarbeitslosigkeit und Armut spielt. Unmittelbare Folge ...

Hier wird eine Familientragödie im Glasgow der 80er Jahre beschrieben, die vor dem Hintergrund der Zechenschließung und der daraus folgenden Massenarbeitslosigkeit und Armut spielt. Unmittelbare Folge der Perspektivlosigkeit dieser Zeit war der Griff zum Alkohol, der die Sorgen und Probleme vernebeln sollte.
Agnes lebt wegen ihres geringen Einkommens zunächst noch mit ihren drei Kindern und ihrem Mann bei ihren Eltern in sehr beengten Umständen. Dadurch ergeben sich ständige Probleme, und die Familie zieht um in eine abgeschiedene Sozialsiedlung, in der Tristesse und Verzweiflung auf der Tagesordnung stehen. Schnell stellt sich heraus, dass ihr Mann die Familie quasi loswerden wollte, denn er lässt sich dort selten blicken, geht eine neue Beziehung ein und zieht sich weitgehend aus dem Familienleben zurück. Nur ab und an lässt er sich blicken, um seine sexuellen Wünsche abzureagieren. Die Restfamilie ist auf sich allein gestellt und lebt von den staatlichen Zuwendungen. Shuggie ist der jüngste Sohn und er liebt seine Mutter abgöttisch, schon bald merkt er, dass seine Mutter dem Alkohol immer mehr verfällt und möchte sie retten. Nun sind die Rollen vertauscht. Ab einem Alter von acht Jahren muss Shuggie sich um seine Mutter kümmern und sie versorgen, was ein Kind in diesem Alter natürlich überfordert. Und es wird immer schlimmer, so schlimm, dass oft kein Geld für einfache Lebensmittel da ist, weil alles in Alkohol investiert wird. Shuggie muss beobachten, dass seine Mutter sich erniedrigt, um die Sucht zu befriedigen. Trotzdem liebt er sie, denn es ist seine Mutter, sonst hat er keinen Freund....auch in der Schule läuft es nicht gut, Mobbing ist an der Tagesordnung, ausgelöst durch die desaströse Familiensituation.
Das Buch hat mich sehr betroffen gemacht, denn die Hoffnungslosigkeit und die Qualen des jungen Shuggie in dieser Situation sind extrem. Man möchte dem Jungen helfen, ihn herausziehen aus dieser Misere, aber das Milieu hält ihn gefangen.
Der Roman ist eine intensive Milieustudie, sehr fein und authentisch ausgearbeitet, so dass man das Elend spürt. Auch wenn man das Buch beiseite legt, beschäftigt es einen in Gedanken weiter. Ebenso wird der Alkoholismus mit einer Vehemenz beschrieben, dass man den drohenden Absturz deutlich wahrnimmt. Der Schreibstil insgesamt ist sehr sprachgewaltig, angelehnt an den Glasgower Arbeiterdialekt. Sicher war es sehr schwer, diesen Slang ins Deutsche zu übertragen, an einigen Stellen scheint mir die Übersetzung etwas daneben zu greifen. Aber ich wusste immer, was ausgedrückt werden sollte.
Der Autor hat den Booker-Preis mit Recht bekommen! Der Roman, mit teilweise autobiographischen Geschehnissen, ist herausragend und hinterlässt Spuren. Keine leichte Unterhaltungslektüre, aber von mir eine klare Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.09.2021

Davor und Danach

Der Mauersegler
0

In diese beiden Phasen teilt der Arzt Prometheus sein Leben ein. Die Grenze dazwischen wird gesetzt durch den Tod seines besten Freundes Jakob. Das 'Davor' ist voll schöner Momente, an die er sich gern ...

In diese beiden Phasen teilt der Arzt Prometheus sein Leben ein. Die Grenze dazwischen wird gesetzt durch den Tod seines besten Freundes Jakob. Das 'Davor' ist voll schöner Momente, an die er sich gern erinnert, während das 'Danach' ihn fallen lässt, seine Schuld ihn zermürbt und er keinen Sinn mehr im Leben sieht. Er befindet sich im freien Fall wie die Mauersegler, die er so gern beobachtet. Findet Prometheus die Kraft, sich wieder hoch zu bewegen, seine Schuld zu verarbeiten und einen Neustart zu wagen?
Der junge Arzt Prometheus hat sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet und führt eine Studie durch, die beweisen soll, dass eine Immuntherapie eine sanfte Variante zur Chemotherapie darstellt, um z.B. Blasenkrebs zu heilen. Unglücklicherweise erkrankt Jakob daran, und Prometheus wird geradezu bedrängt, seinen Freund in seine Studie aufzunehmen, obwohl die Teilnehmer schon feststehen. Da noch keine Ergebnisse vorliegen, hätte Prometheus seinem Freund eher zur Chemotherapie geraten. Aber der Erwartungsdruck auf ihn ist so groß, dass er Jakob trotz Bedenken noch in der Studie unterbringt.....Als Jakob stirbt, bricht für Prometheus die Welt zusammen, er sieht sich von Schuld erdrückt, empfindet Verzweiflung, Angst und Schockstarre. Er flieht ziellos nach Norden, ans Meer, wo er von zwei älteren Frauen aufgenommen wird, die einen Reiterhof betreiben.
Das Buch hat mich durch das schöne Cover sofort angesprochen, da ich Mauersegler sehr gern beobachte und ihr Flugverhalten bewundere. Voller Neugier habe ich das Buch gelesen und wurde nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil hat mich das Buch gefesselt, des öfteren zum Weinen gebracht (was ich aber als wohltuend empfand) und mich überzeugt. Obwohl nicht wirklich viel passiert, habe ich stets eine gewisse Spannung empfunden, ob Prometheus sich nach dem Absturz wieder in die 'Lüfte heben kann' wie die Mauersegler es bisweilen schaffen, wenn sie kräftig genug sind.
Die Geschichte ist sehr emotional, was durch den ausdrucksstarken Schreibstil unterstützt wird. Was ich sehr ansprechend fand, ist die Naturverbundenheit. Die Autorin lässt immer wieder einfließen, wie andere Lebewesen wohl den 'Menschling' einschätzen und beurteilen mit all seinen Fehlern und Merkwürdigkeiten. Das hat mich so sehr berührt, dass meine Gedankenwelt sich in dieser Richtung geöffnet hat, was mir gut gefällt.
Auch der Humor kommt ab und zu zum Zuge trotz aller Schwermut, z.B. als der kleine Prometheus die Telefonnummer seiner Schwester überall verteilt, um ihr einen neuen Freund zu beschaffen, weil sie so traurig ist nach einer Trennungsgeschichte.
Ich kenne den Vorgänger 'Marianengraben' nicht, werde mir das Buch aber nun besorgen, denn Jasmin Schreiber hat mich mit diesem empfehlenswerten Werk überzeugt. Es hat bei mir bleibende Spuren hinterlassen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.09.2021

Die 70er und viele tiefgreifende Entscheidungen

Die Wunderfrauen
0

Der dritte Band der Wunderfrauen-Trilogie spielt in den bunten und rebellischen 70er Jahren. Alle vier Frauen, die wir schon seit dem ersten Band kennen , erfahren durchgreifende Veränderungen in ihrer ...

Der dritte Band der Wunderfrauen-Trilogie spielt in den bunten und rebellischen 70er Jahren. Alle vier Frauen, die wir schon seit dem ersten Band kennen , erfahren durchgreifende Veränderungen in ihrer Lebensgestaltung und in ihren Partnerbeziehungen. Sie schmieden gemeinsam Pläne für die neue Zukunft und immer wieder kreuzen sich ihre Vorstellungen. Sie stützen und beraten sich untereinander, keine ist allein.
Es ist kein Problem, mit dem dritten Band in die Trilogie einzusteigen, denn die Autorin gibt immer wieder kurze Rückblenden und füllt so die Lücken. Für den Kenner beider vorherigen Bände ergibt sich so manches Ach-ja-Erlebnis. Und solche Erlebnisse hatte ich nicht nur in Bezug auf die Wunderfrauen, sondern auch im Rückblick auf die 70er Jahre. Da ich diese sehr intensiv erlebt habe, war es für mich wunderbar, an typische Moden, Ereignisse, Musikproduktionen usw. erinnert zu werden.
Alle vier Frauen entwickeln und emanzipieren sich weiter, sie gründen neue Existenzen und werfen kritische Blicke auf ihre Männer. In einem Fall kommt es endlich zur Scheidung. Lange gehütete Geheimnisse werden voller Elan aufgedeckt. Wenn man heute auf diese Zeit zurückblickt, schüttelt man verwundert den Kopf, wenn man realisiert, wie unterdrückt die Frauen in den 70ern teilweise noch waren. Da fiel eine Frau in einem öffentlichen Auftritt mit Hosenanzug direkt auf. Das übergreifende Motto des Buches beschreibt aber wieder die Macht der Gemeinsamkeit. Die Frauen halten zusammen und können sich aufeinander verlassen, selbst in sehr schwierigen Situationen. Durch dieses Vertrauen entwickelt sich immer mehr Selbstbewusstsein!
Auch die Politik wird beleuchtet, der kalte Krieg, der sich hauptsächlich in und um Berlin herum abspielte. Hochinteressant, daran erinnert zu werden. Z.B. die abenteuerliche Fahrt nach Berlin, die abschreckende Abfertigung an der Grenze, die strengen Kontrollen ließen bei mir so manche Erfahrung von früher wieder aufblitzen. Schön!
Der Schreibstil ist sehr angenehm zu lesen und sehr lebendig. Die Autorin gibt dem Leser das Gefühl, in der Situation als Beobachter dabei zu sein. Besonders Stresssituationen werden sehr gekonnt skizziert. Was mir auch sehr gut gefallen hat, sind die wechselnden Perspektiven, die sich mit jedem Kapitel ändern. So erfahren wir viel über die Gefühlswelt der Frauen und ihre Gedankengänge und können Entscheidungen und Verhaltensweisen besser verstehen. Der Prolog ist unheimlich, man weiß nicht, ob es Realität oder Traum ist. Sogleich baut sich dadurch Spannung auf, und später kann man den Prolog gut einordnen.
Ich habe diese Trilogie sehr gern gelesen und jedes Buch genossen. Sehr empfehlenswert! Schade, dass die Reihe beendet ist, aber so kann man seiner Fantasie freien Lauf lassen.....

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.08.2021

Leben gemäß der Natur

Greta und Jannis
0

Greta und Jannis wachsen in einem abgelegenen Bergdorf gemeinsam auf wie Bruder und Schwester, sie verstehen sich bestens und leben sehr naturverbunden. Als sie älter werden, spüren sie immer stärker die ...

Greta und Jannis wachsen in einem abgelegenen Bergdorf gemeinsam auf wie Bruder und Schwester, sie verstehen sich bestens und leben sehr naturverbunden. Als sie älter werden, spüren sie immer stärker die gegenseitige sexuelle Anziehung. Sie lassen der Natur freien Lauf und kommen sich wirklich näher, aber das darf nicht sein....Ihre Wege trennen sich, Jannis heiratet sogar, während Greta sich in ihrem abgelegenen Bergdorf zusammen mit ihrer Tante um Pflegekinder kümmert. Aber Greta und Jannis verlieren sich nie aus den Augen, und erst recht nicht aus dem Sinn. Jannis frühe Heirat ist sicher als Ausdruck der schwer zu ertragenden Realität zu sehen, die wahre Gefühle unterbindet und immer wieder Ausbrüche erlebt.
Außergewöhnlich an diesem Buch ist der Schreibstil, der mich auch zunächst abschreckte, dann aber so faszinierte, dass mich der Roman in Gedanken reichlich beschäftigte. Denn erstens gewöhnt man sich an diese Sätze, in denen die wörtliche Rede in Kursivdruck einfach in den normalen Satzbau integriert wurde, was erstmal irritierend ist. Und zweitens hatte ich immer mehr das Gefühl, dass dieser Schreibstil genau die Denkweise und Einfachheit der Bergbewohner ausdrückt, was nicht negativ gemeint ist, sondern mit der Naturverbundenheit und der damit einhergehenden Spontanität zu erklären ist. Die Autorin hat mit der Sprache experimentiert und somit einen sehr atmosphärischen Roman geschrieben.
Sehr schön ist, dass die Natur im Mittelpunkt steht und das Leben der Menschen stark beeinflusst. Sie lassen sich darauf ein und erleben dadurch eine Intensität, die ihnen viele Glücksmomente beschert. Die Natur hilft Greta trotz ihrer großen Traurigkeit positive Gefühle zu haben. Natürlich gibt es auch negative Erfahrungen, aber das gehört dazu. Bisweilen werden die Grenzen der Realität überschritten und erreichen den Bereich der träumenden Fantasie.
Sehr interessant ist auch das Frauenbild in diesem Roman. Die Einstellung der Tante lautet: Wenn du dich auf einen Mann verlässt, bist du verlassen. Entsprechend leben auch die Frauen dieses Romans, sie sind autark, stützen sich gegenseitig und bekommen dadurch zuverlässigen Halt.
Alles in allem hat mich dieses Buch nach anfänglichem Zögern stark beeindruckt, aber man muss sich Zeit nehmen, um sich einzulesen und darüber nachzudenken. Es ist kein Buch für zwischendurch, sondern verdient, dass man sich intensiv damit beschäftigt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere