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Veröffentlicht am 18.09.2023

Lesenswert

Die gelbe Tapete & Herland - Zwei feministische Klassiker in einem Band
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Das Buch enthält zwei Geschichten aus der Feder von Charlotte Perkins Gilmans, die - so unterschiedlich sie in ihrer Handlung und Erzählstil auch sein mögen - in der feministische Kritik an der ungerechten, ...

Das Buch enthält zwei Geschichten aus der Feder von Charlotte Perkins Gilmans, die - so unterschiedlich sie in ihrer Handlung und Erzählstil auch sein mögen - in der feministische Kritik an der ungerechten, patriarchalen Welt ihre Gemeinsamkeit haben.



Auszüge aus Herland, das als erste klassisch feministische Utopie der Literaturgeschichte gilt, habe ich vor Jahren im Politikstudium gelesen und auf Die gelbe Tapete wies mich Die kranke Frau hin - als nun beide Geschichten in einem Band veröffentlicht wurden, war das natürlich wie für mich gemacht!

Das Seminar Utopie & Geschlecht hatte ich ursprünglich nur belegt, weil es zeitlich gut in den Stundenplan passte, wirkliches Interesse hatte ich nicht. Doch das sollte sich ändern! Didaktisch wie inhaltlich wurde es, zusammen mit Geschichte der Ideen europäischer Männer über sich selbst vom selben Lehrbeauftragten, zum besten Seminar meines Studiums, brachte mich Ideengeschichte und vielen Autor*innen näher und änderte unter Anderem meine Ansichten zu gendergerechter Sprache. Und Herland war einer der Texte, den ich auszugsweise in diesem Seminar las und diskutierte. Ich habe meine alten Unterlagen herausgekramt und vieles von dem, was wir da angeschnitten und überlegt hatten, fand ich beim Lesen erneut; teilweise habe ich sogar die gleichen Textpassagen markiert.

Zwischen all´ den Texten von Platon, Morus, Adorno, Bloch oder Engels empfand ich Gilmans Schilderung damals schon als angenehm niederschwellig; einfach zu lesen. Das erging mir auch jetzt mit der deutschen Fassung so; ich flog durch die Zeilen und Seiten. Während ich mehr mit den Frauen aus Herland denn dem männlichen Protagonisten und seinen Kumpanen sympathisierte, stolperte ich zugleich über die unangenehmen Aspekte dieser Utopie - Eugenik und Rassismus (oder zumindest die Annahme einer Überlegenheit von Weißen gegenüber "Wilden") schwangen durchaus nicht subtil mit. Auch die binäre Heteronormativität stieß mir auf; Begeisterung jedoch für den Spiegel, den Gilman der patriarchalen Gesellschaft vorhält - und für Frauenbekleidung mit vielen Taschen!

Die gelbe Tapete nimmt mit weniger als 40 Seiten nur einen geringen Teil des Buches ein und hat einen ganz anderen Erzählstil. In Tagebuchform folgen wir den Gedanken einer jungen Frau und frischen Mutter; immer wieder unterbrochen von fast schon wahnhaften Beschreibungen eben jener titelgebenden Tapete, die zur eigentlichen "Hauptperson" der Geschichte wird. Die Kritik an Patriarchat, fast schon rechtloser Stellung der Frau in der Ehe, "Hysterie" und deren "Behandlung" sind lauter, als die (wie aussagekräftig!) namenlose Protagonistin es formuliert; gleichzeitig ist diese Geschichte ausgesprochen skurril und lässt bei mir einige Fragen offen.



Kritik und Gegenentwurf - zwei stilistisch völlig verschiedene und zugleich beides dezidiert feministische Texte aus den Vereinigten Staaten zwischen 19. und 20. Jahrhundert, die auch heute noch Beachtung verdienen. Die gelbe Tapete ist hierbei autobiographisch geprägt, wie eine Stellungnahme der Autorin im Buch verrät und Herland hat noch eine Fortsetzung, von der ich hoffe, dass sie ebenfalls übersetzt und verlegt wird. Wie gesagt - völlig unkritisch sollen und dürfen Gilmans Werke nicht gelesen werden, gerade weil sei Befürworterin der Eugenik war. Zugleich war sie eben auch Vorbild in ihrem unorthodoxen Leben und Schreiben, Reformerin und wichtig für die Frauenrechtsbewegung.

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Veröffentlicht am 22.10.2022

Zeit(un)gerechtigkeit & was sich verändern muss

Alle_Zeit
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Zeitarmut - was ist das, warum gibt es sie (und für wen!) & was könn(t)en wir dagegen tun? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich Teresa Bücker in ihrem Buch.

Ich empfand es ausgesprochen interessant ...

Zeitarmut - was ist das, warum gibt es sie (und für wen!) & was könn(t)en wir dagegen tun? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich Teresa Bücker in ihrem Buch.

Ich empfand es ausgesprochen interessant und bereichernd, mit diesem Buch Erwerbsarbeit und (unbezahlte) Care-Arbeit, patriarchale Ausbeutung, Verteilungsungerechtigkeit, Nachhaltigkeit und politische Partizipation aus einer anderen Perspektive, mit einem veränderten Blickwinkel zu betrachten - dadurch entstehen nicht nur ganz neue Erkenntnisse und Fragen, sondern auch ein verändertes Verständnis dafür, was uns von einer besseren, gerechteren, inklusiven und sozialen Gesellschaft trennt. Und das Zeit unfassbar politisch ist.

Ich nehme für mich den Begriff "Zeitkonfetti", die Erkenntnis, dass "Freizeit" nicht unbedingt freie Zeit bedeutet, sondern ein (bewusst?) unglücklich gewählter Begriff für die Zeit außerhalb von Erwerbsarbeit ist und den Wunsch, die aktuelle Zeitkultur (radikal) zu verändern, mit. Spannend fand ich auch den Gedanken eines Mindestmonatslohns statt Mindeststundenlohns, um reduzierte Arbeitszeiten finanziell realisierbar zu machen.

Das Buch bietet viel food for though und reizvolle Gedankenanstöße; ich hätte es mir jedoch auch kürzer, vielleicht sogar in Essayform vorstellen können. Das mag aber auch daran liegen, dass ich mich mit vielen verknüpften Themen bereits beschäftigt habe und einige Ausführungen nicht gebraucht hätte. Alles in allem bilden fundierte Recherche, angenehmer Schreibstil, interessante Blickwinkel, Forderungen und Ideen eine lesenswerte Lektüre, die sich der Zentrierung um und auf Erwerbsarbeit als Kern von Identität und Lebenszeit mutig entgegenstellt.

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Veröffentlicht am 25.09.2021

Aufschlussreich & anschaulich

Die Erfindung der Kontinente
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Anspruchsvoll, aber wahrlich interessant und großartig bebildert - für mich eine großartige Verschmelzung aus Kartenmaterial der Menschheitsgeschichte und Einblicken in die Imagination, Konzeption und ...

Anspruchsvoll, aber wahrlich interessant und großartig bebildert - für mich eine großartige Verschmelzung aus Kartenmaterial der Menschheitsgeschichte und Einblicken in die Imagination, Konzeption und Wahrnehmung der Welt. In aller Fairness muss ich jedoch sagen, dass sowohl Preis als auch Sprachstil die Zielgruppe wohl stark einengen; ich kann das Buch jedoch besten Gewissens empfehlen.


Weltkarten üben schon immer eine Faszination auf mich aus - egal ob Berufswunsch Archäologin, Diplomatin oder nun Seefahrerin: Die Frage nach dem Wo ist das? spielt eine große Rolle. Diesem Buch konnte ich also gar nicht widerstehen.

Glücklicherweise; entführte es mich doch auf eine wunderbar lehrreiche Rundreise durch die Zeiten - von den ersten Darstellungen der Welt bis ins All. Es ist faszinierend, wie die Menschen verschiedenster Kulturen und Epochen unseren Planeten (bzw. meist Teile davon) sahen, was sie sich vorstellten und ausdachten und wie diese Imaginationen und Erklärungen bis heute unser Verständnis der Geographie und Kartographie prägen.

Allen, denen schonmal eine Karte untergekommen ist, die nicht der klassischen Mercatorprojektion (winkeltreu, genordet, Europa zentral) entspricht, ist bewusst, dass Darstellung Wahrnehmung prägt - Abstände, Größen, aber eben auch das "zentral" und "am Rand". Dass aber nicht nur die Art, wie wir die Welt heute darstellen, sondern auch wie wir über sprechen, dass Begriffe wie Kontinent historisch und kulturell stark geprägt sind; wie viel unterschwellige Botschaften mitschwingen - das arbeitet Christian Grataloup ausgezeichnet heraus. Karten sind natürlich Resultat des technischen Fortschrittes und der wissenschaftlichen Erkenntnisse - aber eben auch "Träger einer Weltsicht, die auf ältere Quellen zurückgeht", wie Grataloup schreibt.

Und so ist das Buch nicht nur eines über Geographie und Kartographie, sondern auch und vor allem über Geschichte und sich wandelnde Weltbilder. Dabei ist fast jede Seite mit farbigen Abbildungen ausgestattet. Mich hat besonders erfreut, dass diese (fast immer) im Text oder der Unterschrift erklärt, gedeutet oder näher betrachtet wurden; Bilder und Ausführungen bilden eine Einheit.

Sicherlich kann in diesem Buch auch einfach nur geblättert werden - gerade die doppelseitigen und aufwendigen Karten laden dazu ein. Das Spannende passiert jedoch im Text. Der ist jedoch, das muss ich zugeben, durchaus akademisch; erinnerte mich an Seminaren zu kritischer Geographie. Keineswegs schreibt Grataloup fachidiotisch oder vollkommen unverständlich, aber schon anspruchsvoll und in den Sozialwissenschaften verhaftet.

Geographie und Geschichte also - durchaus aber auch Politik (letztlich sind diese Teildisziplinen sowieso nicht trennscharf voneinander abzugrenzen ^^) bringt der Autor ein, indem er EU-Erweiterung(en) und Brexit streift. Ich konnte auf jeden Fall eine Menge mitnehmen.

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Veröffentlicht am 19.09.2021

Zeitlos

Die Bucht des Franzosen
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Daphne du Maurier überzeugt erneut mit Wort und Gefühl - ein Roman, der von ihrem einnehmenden Schreibstil lebt; beim Lesen lebendig wird. Der Pirat und die Lady - keine Schmonzette, sondern zeitloser ...

Daphne du Maurier überzeugt erneut mit Wort und Gefühl - ein Roman, der von ihrem einnehmenden Schreibstil lebt; beim Lesen lebendig wird. Der Pirat und die Lady - keine Schmonzette, sondern zeitloser Klassiker.


Noch immer steht Rebecca auf meiner Leseliste, aber nachdem mich Jamaica Inn begeistern konnte, musste ich auch diesem Werk mit maritimen Cover eine Chance geben.

Und verliebte mich erneut in den unheimlich dichten Schreibstil Daphne du Mauriers - die Autorin vermag es, Worte zu Bildern zu verweben, voller Gefühl und Farbe. Wieder konnte ich die cornische Landschaft förmlich vor mir sehen, mit der Hauptprotagonistin mitfühlen und klar, vor allem die Seeszene(n) rissen mich mit.

Mit Lady Dona zeichnet du Maurier erneut einen starken, unabhängigen weiblichen Charakter, der seiner Zeit zu entfliehen versucht - während sie Männer mit ihrer Schönheit geschickt zu manipulieren weiß, ist sich Dona zu gleich eigenständig und eigensinnig; reitet und trägt Männerkleidung, stellt sich Gefahren, wirft sich kopfüber in Abenteuer wünscht sich um der Freiheit willen, ein Mann zu sein; frei von Konventionen und Erwartungen an Frauen (ihrer Epoche). Sie lässt sich nicht unterbuttern, lebt und liebt so frei es ihr eben möglich ist. Ausgesprochen erfrischend, gleich von der ersten Seite an einer taffen Figur folgen zu können, statt auf die "große (Selbst-)Befreiung" zu warten. Zugleich entwickelt sich Dona aber auch weiter bzw. wird von den Ereignissen geprägt - mehr möchte ich dazu aber nicht verraten.

Die Handlung ließe sich auf einige wenige Sätze runterbrechen - Dynamik und Spannung waren durchaus vorhanden und doch hatte ich ein diffuses Gefühl der Enttäuschung; hatte mir mehr als die beiden Schlüsselereignisse erhofft. Die Autorin bleibt sich hier treu, das Augenmerk liegt auf der allgemeinen Stimmung, die über der malerischen cornischen Landschaft schwebt; auf all den Gefühlen und ja, auf der Liebesgeschichte.

Dona und der Franzose - der Kosmos hat es so gewollt; so fühlen die Beiden und diese Unvermeidlichkeit baut du Maurier von der ersten Erwähnung des Piraten an auf. Der unromantische Teil von mir möchte angesichts dieser Instantlove die Augen verdrehen, doch: Die Liebesgeschichte fühlte sich nicht unangenehm schmalzig an. Die Beziehung der Beiden und die Entwicklung dieser war für mich ein Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmtheit, ein unkompliziertes "Wir haben eine gute Zeit", ein Entfliehen aus den eigenen Rahmenbedingungen und Begrenzungen.

Ich finde, "Liebesgeschichte vor atemberaubender Landschaft" wird diesem Roman nicht gerecht - kein Nackenbeißer-Highlander oder Rosamunde-Pilcher-Schmöker verbirgt sich hier - wer aber mehr Wert auf Action denn auf Atmosphäre legt, dürfte mit der Geschichte Schwierigkeiten haben.

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Veröffentlicht am 10.01.2021

Wunderbar für Groß & Klein

Die Abenteuer des Pinocchio
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Liebevoll gestaltete, für Jung und Alt angenehm zu lesende, unterhaltsame Geschichte voller Moral und Erziehungsabsicht sowie fast schon satirisch anmutender (subtiler) Gesellschaftskritik.


Dass mir ...

Liebevoll gestaltete, für Jung und Alt angenehm zu lesende, unterhaltsame Geschichte voller Moral und Erziehungsabsicht sowie fast schon satirisch anmutender (subtiler) Gesellschaftskritik.


Dass mir die Abenteuer des Pinocchio als Kind vorgelesen wurden und dass sie mich bewegt haben, daran konnte ich mich noch erinnern - aber weder dran, was genau ich gefühlt habe noch was die bekannte Holzmarionette unterwegs erlebt. Umso größer also die Freude, mit der neuen MinaLima Ausgabe wieder in diese Welt einzutauchen!

Und klar - die Gestaltung ist wieder vom Feinsten und ein wahrer Augenschmaus - für Kinder als interaktives Theater gestaltet, aber auch für Erwachsene eine große Freude! Bunt und verspielt.

Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte - für Kinder durchaus unterhaltsam und lehrreich, für Erwachsene jedoch nicht weniger ansprechend, zumal aus der Erwachsenenperspektive spitzzüngige Gesellschaftsbeobachtung und subtile Botschaften sichtbarer werden. Armut, Erwachsenwerden, Fleiß und Faulheit, Betrug und Vertrauen - alles Themen dieses Buches aus der Feder des italienischen Carlo Lorenzini.

Was mich gewundert hat, war dass das allbekannte und so berühmte Wachsen von Pinocchios Nase beim Lügen kaum vorkam - ich bin mir nun jedoch nicht sicher, ob meine Erinnerungen da durch Popkultur und Zeit getrübt sind oder ob diese Ausgabe gegebenenfalls gekürzt ist. Lesen ließ sie sich auf jeden Fall ganz wunderbar; durch die kurzen Kapitel sowohl als Bettlektüre als auch als Vorlesegeschichte hervorragend geeignet :)

Ich hatte viel Freude damit, den hölzernen Pinocchio auf seinem Weg zum liebenswerten Jungen aus Fleisch und Blut auf all seinen Um- und Irrwegen zu begleiten, über skurrile Situationen zu schmunzeln und regelrecht mitzufiebern, ob und wie er den Sprung doch noch schafft und in welches Abenteuer er wohl als nächstes tappen würde - auch wenn Ende und Erkenntnis vorhersehbar und wenig überraschend waren.

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