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Veröffentlicht am 07.11.2021

Alles wird gut

Wir sind schließlich wer
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Im Mittelpunkt von Anne Gesthuysens neuem Roman steht die dem Landadel angehörende Familie von Betterray: die verwitwete Mutter Mechthild mit den Töchtern Maria und Anna. Die vier Jahre ältere Maria ist ...


Im Mittelpunkt von Anne Gesthuysens neuem Roman steht die dem Landadel angehörende Familie von Betterray: die verwitwete Mutter Mechthild mit den Töchtern Maria und Anna. Die vier Jahre ältere Maria ist die Vorzeigetochter, die alles richtiggemacht hat, indem sie den Adligen Gottfried von Moitzfeld heiratete und nicht ihre nicht standesgemäße erste Liebe. Die unkonventionelle Anna dagegen ist zum Protestantismus konvertiert und nach einigen Umwegen Pastorin geworden. Nach einem traumatischen Erlebnis mit dem Zwillingsbruder ihres Mannes ließ sie sich scheiden und vertritt in der niederrheinischen Gemeinde Alpen den erkrankten Pastor. In der Gemeinde stößt sie auf Ablehnung und sieht sich sofort Klatsch und übler Nachrede ausgesetzt. Vor allem Frau Erbs, die Haushälterin des Pfarrers, begegnet ihr äußerst feindselig und verbreitet jede durch Lauschen erlangte Information sofort weiter. In dieser Zeit trifft die Familie ein Schicksalsschlag, der ihren Ruf nachhaltig schädigt. Marias Mann wird wegen krimineller Finanzgeschäfte verhaftet. Ihn erwartet eine längere Gefängnisstrafe. Kurz nach Bekanntwerden des Skandals verschwindet Sascha, der 11jährige Sohn des Paares, und bald darauf treffen Erpresserbriefe mit einer Millionenforderung ein. Die alte Ottilie,92 wird zur größten Stütze der Familie. Sie war schon immer Annas einzige Vertraute. Anna hat Erfahrung mit dem Ertragen von Leid und stellt sich der Herausforderung mit großer Stärke. Auch Maria, die ihre Schwester ein Leben lang verachtet hat, muss umdenken und ihr Leben angesichts der Katastrophe ändern. Arroganter Dünkel nützt hier gar nichts.
Gesthuysen hat einen einfühlsamen Roman geschrieben, der zeigt, dass wir einander mit Liebe begegnen und zusammenhalten müssen. Ihre Charaktere helfen einander mit viel Empathie, wodurch es im letzten Teil gewaltig menschelt. Sehr berührend ist auch Annas Verhältnis zu ihrem Hund Freddy, dem wichtigsten männlichen Wesen in ihrem Leben. Ich habe das Buch gern gelesen und empfehle es allen, die eine ungewöhnliche Familiengeschichte schätzen.

Veröffentlicht am 07.11.2021

Wie gut kennen wir unseren Nächsten?

Die Enkelin
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Als der Buchhändler Kaspar Wettner, 71 eines Abends aus der Buchhandlung nach Hause zurückkehrt, findet er seine Ehefrau Birgit tot in der Badewanne. Sie war depressiv und alkoholabhängig, aber es lässt ...


Als der Buchhändler Kaspar Wettner, 71 eines Abends aus der Buchhandlung nach Hause zurückkehrt, findet er seine Ehefrau Birgit tot in der Badewanne. Sie war depressiv und alkoholabhängig, aber es lässt sich nicht sagen, ob ihr Tod Selbstmord oder ein Unfall war. Einige Zeit später liest er auf der Suche nach einem angefangenen Romanmanuskript ihre tagebuchartigen Aufzeichnungen und erfährt auf diese Weise vieles, was er nicht wusste. Ihm war immer bewusst, dass er Birgit mehr liebte als sie ihn und dass sie sich ihm nie wirklich geöffnet hat. Kaspar hatte Birgit 1964 in Ost-Berlin kennengelernt und ihr ein Jahr später zur Flucht in den Westen verholfen. Er wusste nicht, dass sie von dem verheirateten Leo Weise schwanger war, der das Kind mit seiner Frau Irma aufziehen wollte. Birgits Freundin Paula sollte den Säugling an einer Kirche oder vor einem Heim aussetzen. Tatsächlich hat sie das Mädchen jedoch zu den Weises gebracht. Aus den Aufzeichnungen seiner Frau erfährt der Witwer, dass Birgit die Tochter suchen wollte, es aber nie gewagt hat. Kaspar will anstelle seiner Frau die Tochter suchen.
Mit Hilfe von Paula findet er Svenja, die mit Björn verheiratet ist und einen Bauernhof bewirtschaftet, und er lernt deren 14jährige Tochter Sigrun kennen. Kaspar stellt den Kontakt zur Enkelin mit Hilfe von großzügigen finanziellen Zuwendungen für den Vater her. Schon bald empfindet er große Zuneigung für Sigrun. Die größte Schwierigkeit für ihn besteht in der rechten Gesinnung dieser Familie, die in einer völkischen Gemeinschaft lebt und in der Beachtung von Traditionen, in Kleidung und Sprache den Nationalsozialismus fortleben lässt. Um Sigrun eine andere Perspektive zu bieten, ohne belehrend zu wirken, macht er sie mit Musik und Kunst bekannt und bezahlt ihr Klavierunterricht. Mit dem Vater Björn gibt es immer wieder Zusammenstöße, gefolgt von einem zweijährigen Kontaktverbot, bevor Sigrun selbst bereit ist, eigene Wege zu gehen – auch gegen den Willen der Eltern.
Schlink hat einen sehr lesbaren, auch sprachlich eindrucksvollen Roman geschrieben, in dem Kaspars Perspektive mit der Birgits in ihren Aufzeichnungen wechselt. Durchgehend verdeutlicht er den Gegensatz von West und Ost, vor allem die ausgeprägten rechtsextremistischen Tendenzen in den neuen Bundesländern und zeigt, wie schwer es für die Menschen war, zu einander zu finden. Mir hat das Buch gut gefallen und ich empfehle es gern weiter, weil es Zeitgeschichte, in diesem Fall die deutsche Vergangenheit und Gegenwart nachvollziehbar macht.

Veröffentlicht am 29.10.2021

Wenn Profit wichtiger ist als die Menschen

Wie schön wir waren
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In Imbolo Mbues neuem Roman “Wie schön wir waren“ geht es um das fiktive Dorf Kosawa irgendwo in Afrika, das Seine Exzellenz, der lokale Despot, dem amerikanischen Ölkonzern Pexton zwecks Ausbeutung der ...


In Imbolo Mbues neuem Roman “Wie schön wir waren“ geht es um das fiktive Dorf Kosawa irgendwo in Afrika, das Seine Exzellenz, der lokale Despot, dem amerikanischen Ölkonzern Pexton zwecks Ausbeutung der Ölvorkommen überlassen hat. Zu Beginn des Romans im Jahr 1980 ist im Grunde schon alles verloren. Das Ackerland und das Wasser des Flusses sind genauso vergiftet wie die Luft. Die Menschen sterben, vor allem die Kinder, und niemand kümmert es. Die Regierung streicht enorme Summen von Pexton ein und unterdrückt brutal jeden Versuch, irgendetwas zu ändern und dem Dorf und den Menschen zu helfen. Pexton macht Versprechungen, die nicht gehalten werden, und über einen Zeitraum von 4o Jahren wird alles nur immer schlimmer.
Im Mittelpunkt der Erzählung stehen Thula Nangi und ihre Familie. 1980 ist Thula 10 Jahre alt. Ihr Vater und ihr Onkel werden gefangen genommen und getötet, als sie mit einer Delegation aus dem Dorf den Vertretern des Konzerns die verheerende Situation schildern wollen. Da Thula eine sehr gute Schülerin ist, wird sie von einer Hilfsorganisation in die USA geschickt, wo sie 10 Jahre studiert. Sie will später ihr Wissen zum Wohl ihres Volkes einsetzen und verzichtet dafür auf ihr privates Glück. Sie gründet eine Bürgerbewegung und will ohne Gewalt für eine bessere Zukunft kämpfen. Unter ihren Mitstreitern gibt es allerdings auch einige, die nicht so lange warten wollen und gewaltbereit sind. Welche Chancen haben sie alle, wenn man die Geschichte des Kolonialismus, die Kautschukgewinnung und den Umgang mit den indigenen Völkern betrachtet? Da siegt die Profitgier auch bei den eigenen Leuten und verdrängt alle moralisch-sittlichen Erwägungen.
Mbue erzählt aus wechselnder Perspektive von Menschen aus drei Generationen. Das Thema ist wichtig und immer noch brandaktuell. Es ist aber auch der Grund, dass das Ergebnis eine traurige Geschichte ist, die wenig Raum für Hoffnung lässt. Schon mit dem Titel des Romans und dem ersten Satz wird der Leser eingestimmt: „Wir hätten wissen müssen, dass das Ende nahte“ (S. 9). Ich empfehle das Buch, obwohl es sich nicht mühelos liest und nicht durchweg spannend ist.

Veröffentlicht am 24.10.2021

Eurowaisen und Frauen mit Italiensyndrom

Wenn ich wiederkomme
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Im neuen Roman von Marco Balzano geht es um eine rumänische Familie: Daniela und Filip und ihre Kinder Manuel, 12 und Angelica, 20. Eines Tages verlässt die Mutter nachts unangekündigt ihre Angehörigen, ...

Im neuen Roman von Marco Balzano geht es um eine rumänische Familie: Daniela und Filip und ihre Kinder Manuel, 12 und Angelica, 20. Eines Tages verlässt die Mutter nachts unangekündigt ihre Angehörigen, um in Mailand als Altenpflegerin zu arbeiten. Sie will ihre Familie aus der Armut befreien und den Kindern gute Schulabschlüsse und ein Studium finanzieren, damit sie es einmal besser haben als ihre Eltern und Großeltern. Die Kinder nehmen der Mutter die Abreise übel. Sie leiden trotz des telefonischen Kontakts unter der Trennung, zumal sie auch vom Vater verlassen werden, der wenig später als Lastwagenfahrer in Polen arbeitet. Nur die Großeltern kümmern sich noch um die Geschwister.
In drei Abschnitten erfahren wir, wie das Leben von Manuel, Daniela und Angelica weitergeht, welche Schwierigkeiten vor allem der Sohn in seinem Leben ohne die Mutter hat, denn trotz des Wiedersehens in jedem Sommer kommt es schon bald zu einer gravierenden Entfremdung zwischen Daniela und ihren Kindern. In dem Abschnitt über Daniela wird deutlich, wie hart das Leben dieser ausländischen Pflegekräfte und Kindermädchen ist. Viele leiden bald unter einem Burnout, denn besonders für diejenigen, die alte und kranke Menschen pflegen, gibt es häufig weder eine rechtliche Absicherung noch ausreichend Freizeit oder Schlaf. Sie reiben sich auf, ohne dass ihre wertvolle Arbeit angemessene gesellschaftliche Anerkennung findet.
Für den Autor ist es ein offensichtliches Anliegen, all diese Probleme zu verdeutlichen. Anders als in “Ich bleibe hier“ geht es nicht um ein historisches Thema, sondern um ein aktuelles gesellschaftliches Problem in der Beziehung von reichen Ländern zu ärmeren, die von der Not der Menschen gedankenlos profitieren. Ein sehr empfehlenswertes Buch.

Veröffentlicht am 06.10.2021

Familiengeheimnisse und Traumata

Die andere Tochter
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Antonia - genannt Toni - Petzold hat einen Arbeitsunfall, bei dem sie fast erblindet, als sie eine Wohnung entrümpelt. Durch eine Hornhauttransplantation kann sie wieder sehen. Sie bedankt sich bei der ...


Antonia - genannt Toni - Petzold hat einen Arbeitsunfall, bei dem sie fast erblindet, als sie eine Wohnung entrümpelt. Durch eine Hornhauttransplantation kann sie wieder sehen. Sie bedankt sich bei der unbekannten Familie der Spenderin durch ein Schreiben an die Datenbank. Wenig später nimmt die Mutter Kontakt zu ihr auf, und sie fährt zu Familie Mertens in Frankfurt. Sie wird herzlich aufgenommen, vor allem von Susannes - Zsazsas - Mutter Clara, die sie bald liebt wie eine Tochter. Clara ist ganz anders als ihre eigene Mutter, die ihr stets so distanziert und kalt begegnete, dass sie sie nie anders als “Brigitte“ genannt hat. Clara beauftragt sie, die Wohnung der Tochter auszuräumen, und durch die Dinge, die sie dort findet, taucht sie in das Leben der jungen Frau ein. Nur deren Schwester Evelyn begegnet ihr feindselig, vermutlich, weil sie zur Konkurrentin um die Liebe der Mutter geworden ist und sogar ein Verhältnis mit dem Ex-Verlobten der Schwester anfängt. Toni wundert sich über den unermesslichen Reichtum der Familie Mertens und stellt Nachforschungen an. Sie findet heraus, dass es Geheimnisse in dieser Familie gibt, und zwar nicht nur um die Todesursache der Tochter. Gleichzeitig wird ihr bewusst, dass es auch in ihrer eigenen Familie Dinge gibt, über die nie gesprochen wurde, z.B. warum der Großmutter das Sorgerecht übertragen wurde, als Toni fünf war und sie erst mit zwölf zu den Eltern zurückkehrte. In der Erzählgegenwart ist ein Verbrechen geschehen, wodurch die Wohnung der Eltern zum Tatort wurde und versiegelt ist. Toni verschafft sich Zugang, u.a. um nach einem Spenderausweis zu suchen, denn die Mutter liegt schwer verletzt im Koma.
Die Geschichte hat eine raffinierte Zeitstruktur, denn sie beginnt im Oktober 2019 und holt die vergangenen 6 Monate bis zur Gegenwart nach. Erzählt werden die Geschichten zweier Familien, aber es geht auch um Traumaverarbeitung und -vererbung, um Organspende, vor allem um die psychischen Veränderungen beim Empfänger durch eine Transplantation von Gewebe oder ganzen Organen, außerdem um Raubkunst und Restitution im Zusammenhang mit der Nazizeit. Man verfolgt gespannt, wie Toni alle Geheimnisse lüftet und endlich auch begreift, dass ihre wiederkehrenden Albträume nichts mit der Transplantation, sondern mit der Verarbeitung von Traumata zu tun haben. “Die andere Tochter“ ist ein anspruchsvoller Roman mit Krimielementen und wird dadurch zu einer spannenden Lektüre. Auch seine sprachliche Qualität hat mich überzeugt.