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Veröffentlicht am 22.07.2022

Vergangenes oder die Angst vor der Zukunft

Zeitzuflucht
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In “Zeitzuflucht” entwirft der bulgarische Autor Georgi Gospodinov eine Zukunft, in der Menschen in einer Klinik für die Vergangenheit in alten Zeiten leben können. Was zunächst als geriatrische Einrichtung ...

In “Zeitzuflucht” entwirft der bulgarische Autor Georgi Gospodinov eine Zukunft, in der Menschen in einer Klinik für die Vergangenheit in alten Zeiten leben können. Was zunächst als geriatrische Einrichtung für Alzheimer- und Demenzkranke gedacht ist, die in der einzigen Zeit, an die sie sich noch zu erinnern vermögen, glücklich ihre letzten Lebensjahre verbringen sollen, wird schon bald so beliebt, dass sich auch gesunde Menschen in die Zimmer einmieten.

Und dann macht sich die Vergangenheit auf, ganz Europa zu erobern. Plötzlich wollen Menschen wieder an Schreibmaschinen schreiben, wollen, dass ihre Milch von Milchmännern gebracht wird, lesen Zeitungen, hören Radio, tragen Trachten und sprechen antiquiert. Der Höhepunkt der Zeitzuflucht wird erreicht, als es zu nationalen Abstimmungen kommt, in der jedes Land entscheiden soll, in welchem Jahrzehnt sie von nun an leben wollen.

Was ist Vergangenheit? Was sind Erinnerungen? Und vor allem: Wie sicher sind sie und wie sehr kann man sich auf sie verlassen? Bis zu welchem Grad sind sie unsere eigenen und wie sehr werden sie von anderen beeinflusst? Auch: Wie schnell vergessen wir das, was wirklich war, idealisieren das Vergangene, verklären, blenden aus und schwelgen kritiklos?

All diesen Fragen widmet sich Gospodinov mit seinem Gedankenexperiment, das vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine plötzlich nicht mehr nur wie eine utopische Fantasie wirkt, sondern in gewisser Weise längst in die Realität eingedrungen ist.

Und deshalb erscheint es einem plötzlich kaum noch abwegig, wenn sich die Menschen in Bulgarien wieder mit “Genosse” ansprechen und wenn die Rückkehr zum Sozialismus so reibungslos verläuft, dass es wirkt, als wäre er nie weg gewesen.

Trotzdem bleibt der Humor und die Ironie, die die Geschichte ausmachen. Das Komisch-Absurde der ganzen Situation wird immer wieder auf die Spitze getrieben, zum Beispiel wenn der Erzähler eine Karte eines Großbulgariens sieht „von dem ich mich nicht erinnern konnte, wie genau es in dieser Form existiert hätte [...]. Fast ganz Europa war bulgarisch, plus zwei Stück, die von Asien abgeschnitten worden waren“.

Der Roman bricht mit dem Traum einer geordneten Vergangenheit, die Geborgenheit und Sicherheit bietet, weil in ihr die Zukunft bereits feststeht und sie nichts Unerwartetes bereit hält. Er ist klug, scharfsinnig und geistreich. Eine lohnende Lektüre!

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Veröffentlicht am 22.07.2022

Für alle Literaturliebhaber

Bei Regen in einem Teich schwimmen
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Wie funktionieren Geschichten eigentlich? Welche Erwartungen wecken sie im Leser und wie lenken sie die Wahrnehmung?

Diesen Fragen geht George Saunders in seinem neuen Buch “Bei Regen in einem Teich ...

Wie funktionieren Geschichten eigentlich? Welche Erwartungen wecken sie im Leser und wie lenken sie die Wahrnehmung?

Diesen Fragen geht George Saunders in seinem neuen Buch “Bei Regen in einem Teich schwimmen” nach, indem er sich intensiv sieben Kurzgeschichten der russischen Meister annimmt. Er kann dabei auf seinen Erfahrungen als Dozent an der Syracuse University aufbauen, wo er jahrelang Creative Writing unterrichtet hat. Wir als Leser haben nun die wunderbare Möglichkeit, in eines seiner Seminare reinzuschnuppern. Wir können unter Saunders Anleitung das entdecken, was Literatur ausmacht und tauchen tief in die Zeilen der von ihm ausgewählten Kurzgeschichten ein.

Ich bin davon überzeugt, dass dieses Buch jeden, der sich für Literatur interessiert, begeistern wird. Es ist klug und zeugt von einem tiefen Verständnis für die Gattung der Kurzgeschichten, der Saunders sich selbst als Autor gewidmet hat. Sein eigenes Können beweist er im Übrigen in seinen Erläuterungen, die seinen Humor und seinen meisterhaften Umgang mit Sprache widerspiegeln.

“Bei Regen in einem Teich schwimmen” ist ein Buch für alle leidenschaftlichen Leser, Fans von Kurzgeschichten und der russischen Literatur, für Nerds der Literaturwissenschaft und Close Reading-Liebhaber, für angehende Schriftsteller und Hobbyautoren. Und auch allen anderen, die sich in dieser Liste nicht wiederfinden, kann das Buch nur ans Herz gelegt werden! Es ist eine Bereicherung und ein riesiges Vergnügen.

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Veröffentlicht am 10.07.2022

Prekarität, Armut und Chancenlosigkeit

Beifang
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Als das Haus seiner Eltern, in dem er aufgewachsen ist, verkauft werden soll, begibt sich der Erzähler zurück in seinen Heimatort am Rande des Ruhrgebiets: Selm-Beifang. Dort setzt er sich zum ersten Mal ...

Als das Haus seiner Eltern, in dem er aufgewachsen ist, verkauft werden soll, begibt sich der Erzähler zurück in seinen Heimatort am Rande des Ruhrgebiets: Selm-Beifang. Dort setzt er sich zum ersten Mal mit der Geschichte seiner Familie und besonders die seines Vaters und Großvaters auseinander. Es ist eine Geschichte, die geprägt ist von Prekarität, Armut und Chancenlosigkeit.

So wurde der Großvater nach dem Krieg zwar Bergmann, aber: „was er [...] überhaupt nicht gern war, war Bergmann. Und das blieb er sein Leben lang.“ Er wäre gerne gereist und hatte auch ein Talent für das Fotografieren, was er nie richtig ausleben konnte. Spätestens dann nicht mehr, als dem Vater des Protagonisten der Blinddarm durchbricht und der Großvater seine Kamera verkauft, um die Behandlung bezahlen zu können.

Auch beim Vater wird die Entscheidung über die Berufswahl durch die Umstände bestimmt. Um Fahrtkosten für Bus und Bahn zu sparen, muss er eine Ausbildung im Fernsehgeschäft machen. Dann ist da noch die Großmutter, die eigentlich Kinderärztin werden wollte und am Ende ihres Lebens sagt: „Ich wollte es doch ganz anders“.

Es sind die Umstände, der Ort, die Lotterie des Lebens, die diese Menschen gefangen halten und die den Vater behaupten lassen, als er vom Sohn das Buch „Die Asche meiner Mutter“ geschenkt kriegt: „Bei uns war es schlimmer“. Fatalismus und oft auch das Zerbrechen am eigenen Schicksal bestimmen über Generationen hinweg das Leben der einzelnen Familienmitglieder.

„Er machte nicht den verbreiteten Fehler, die grundsätzlichen Ungerechtigkeiten des Lebens als etwas Persönliches misszuverstehen.“

Die Lektüre hat mich an Didier Eribon erinnert, an Edouard Louis, an Christian Baron, die bekanntlich auch auf einem literarischen Weg ihre Beziehungen zum Vater reflektieren. Martin Simons Roman reiht sich ein in diese Gruppe von Werken, die sich mit der sozialen Herkunft der eigenen Familie auseinandersetzen und geht in ihr durchaus nicht unter, im Gegenteil.

Das Buch wird deshalb all diejenigen Leser überzeugen können, die das unbeschönigte, glaubhafte Erzählen über das Schicksal einer Arbeiterfamilie zu schätzen wissen und nicht zuletzt auch all diejenigen, die sich für literarische Darstellungen des Lebens im Ruhrgebiet interessieren. Mich jedenfalls hat es vollends überzeugt.

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Veröffentlicht am 23.06.2022

Ein außergewöhnlicher Science-Fiction-Roman

Der Mann, der vom Himmel fiel
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Was passiert mit einem Außerirdischen, der auf die Erde kommt, um Raumschiffe zu bauen und die Bewohner seines eigenen Planeten zu retten? Diese Frage bildet den Kern des von Walter Tevis bereits 1963 ...

Was passiert mit einem Außerirdischen, der auf die Erde kommt, um Raumschiffe zu bauen und die Bewohner seines eigenen Planeten zu retten? Diese Frage bildet den Kern des von Walter Tevis bereits 1963 verfassten Romans „Der Mann, der vom Himmel fiel“. Auf den ersten Blick mag die Geschichte an Science Fiction erinnern, doch im Laufe der Lektüre zeigt sich, dass es Tevis eigentlich um etwas anderes geht. Nämlich um die psychologische Entwicklung dieses Außerirdischen, der sich Newton nennt. Er gewöhnt sich zwar an das Leben als Mensch, doch zu den Menschen selbst bewahrt er stets eine Distanz. Einsamkeit und Melancholie plagen ihn. Er ist zerbrechlich, in physischer und psychischer Hinsicht. Bald kommen Alkoholismus, Verzweiflung und die Entfremdung von seiner Herkunft hinzu.

„Er war menschlich, aber nicht wirklich ein Mensch.“

Beschäftigt man sich näher mit Walter Tevis, so fällt auf, dass Newtons Schicksal auf der Erde einige Parallelen zum Leben des Autors aufweist. Genau wie Newton verfiel Tevis dem Alkohol. Er war als Kind außerdem krank und schwächlich, musste Medikamente nehmen. Schließlich verbindet auch Kentucky als Ort den Autor mit seiner Figur.

Das Außerirdischsein steht, wenn man diese Parallelen weiterdenkt, im übertragenen Sinne dafür, wie schnell es passieren kann, dass man unverstanden bleibt, dass man keinen Platz in der Gesellschaft findet.

Und diese biographische Lesart erklärt vielleicht auch, warum sich das Buch so introspektiv anfühlt, warum seine Melancholie nie aufgesetzt oder zwanghaft herbeigeschrieben wirkt. Es ist kein durchweg schweres Buch, aber auch keine leichte, unterhaltende Aliengeschichte. Und gerade das fasziniert.

Wenn man Tevis schon gelesen hat, dann weiß man, dass er erzählen kann. Und auch mit dem “Mann, der vom Himmel fiel” vermag er seinen Leser zu überzeugen. Es ist ein bemerkenswerter, nachdenklicher Roman.

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Veröffentlicht am 20.03.2022

„Ein Querkopf, ein Bergler, ein Wilderer“

Tell
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Mit seiner Neuerzählung der Tell-Sage entführt Joachim B. Schmidt den Leser in eine archaische und raue Welt. Wilhelm Tell lebt in ärmlichen Verhältnissen mit seiner Familie auf einem Bergbauernhof. Um ...

Mit seiner Neuerzählung der Tell-Sage entführt Joachim B. Schmidt den Leser in eine archaische und raue Welt. Wilhelm Tell lebt in ärmlichen Verhältnissen mit seiner Familie auf einem Bergbauernhof. Um zu überleben muss er wildern, doch das Wild gehört per Gesetz dem Landvogt Gessler. Dessen Soldaten und besonders deren Anführer Harras scheuen keine Konfrontation und so kann ein Blutvergießen zwischen ihnen und Tell nur knapp verhindert werden. Als Tell schließlich eine Kuh verkaufen möchte, weigert er sich auf dem Viehmarkt, den Hut des Landvogts zu grüßen. Was als Bestrafung folgt, ist der berühmte Apfelschuss.

Schmidts Roman ist lebendig. Er besticht durch eine moderne Sprache, die die Legende um Wilhelm Tell zugänglich macht, die zeitliche Distanz zu ihr überbrückt und sie dadurch nah wirken lässt. Die verschiedenen Figuren aus Tells Umfeld, die in den kurzen Kapiteln sprechen und denken, tragen außerdem dazu bei, dass die Geschichte schnell eine Vielschichtigkeit, Tiefe und Dynamik entwickelt. Schmidt porträtiert Tell durch Fremdperspektiven und lässt ihn so als einen wortkargen, grimmigen, aber auch furchtlosen, entschlossenen und unnachgiebigen Mann in Erscheinung treten. Er bleibt für den Leser interessant, das Sagenhafte scheint ihm schon anzuhaften.

“Tell” ist eine gelungene Neuerzählung, die die Legende des Schweizer Nationalhelden einer heutigen Leserschaft auf unterhaltsame Weise nahebringt. Unter Schmidts Feder nimmt die Geschichte eine aktualisierte Form an, die lesenswert ist und es nicht nötig hat, dass man sie mit filmischen Vergleichen bewirbt, wie der Verlag dies im Klappentext tut. Schmidts “Tell” muss sich nicht hinter “The Revenant” oder “Braveheart” verstecken. Ganz im Gegenteil!

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