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Veröffentlicht am 27.02.2023

Was für ein warmherziger und sprachlich herausragender Roman

Sibir
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Sibir (russisch) Sibirien (deutsch). So werden vereinfachend alle Gebiete hinter dem Ural bezeichnet. Dorthin wird Josef Ambacher 1945 von der Sowjetarmee mit seiner Familie verschleppt. Als ...

Sibir (russisch) Sibirien (deutsch). So werden vereinfachend alle Gebiete hinter dem Ural bezeichnet. Dorthin wird Josef Ambacher 1945 von der Sowjetarmee mit seiner Familie verschleppt. Als sie in der weiten Steppe von Kasachstan ankommen, haben es viele nicht geschafft. Aber Josef wird überleben und irgendwann nach West-Deutschland ausreisen können. Und fortan mit den Dschinn der Steppe kämpfen. Seine Tochter Leila wird in Friedenszeiten und relativem Wohlstand in der Lüneburger Heide aufwachsen. Doch auch sie wird geprägt von den Erinnerungen der Familie und vom Gefühl des "Nicht-Dazu-Gehörens".

" (...) einen Zusammenhang herzustellen (...) all jener, die mit uns am Stadtrand wohnten. Der Begriff RAND kennzeichnete gut unsere Gemeinschaft (...) ich und die anderen Kinder aus unserer Siedlung saßen nie, nie in der Mitte der Klasse, sondern stets an der Seite, ein wenig abgerückt (...). Instinktiv spürten wir, dass unsere Eltern von denjenigen in der Mitte der Gesellschaft kritisch beäugt wurden, belächelt oder schlicht nicht beachtet" (S.15f)

Eine neue Dynamik erhält dieses Gefühl 1990, als nach dem Fall der Mauer neue Aussiedler ankommen und der Vater sich erneut mit seiner Vergangenheit konfrontiert sieht, die er eigentlich verdrängen und vergessen wollte.

Eigentlich spielt der Roman abwechselnd in den Jahren 1945 und 1990 und erzählt die Geschichte des Vaters und seiner Tochter abwechselnd. Durch geschickt eingestreute Anmerkungen werden aber auch Zusammenhänge dargestellt und die gesamte Geschichte deutlich und verständlich. Und wenn auch viele Geschehnisse tragisch sind, so durchzieht das Buch doch eine große Wärme und Menschlichkeit und eine große Liebe zu den Menschen, die von historischen Ereignissen durch die Welt gewirbelt werden und alle ihre Kraft aufbringen müssen, um zu überleben. Das geht nicht ohne Wunden ab. Die Autorin ist mir schon mit ihrem ersten Roman "Katzenberge" positiv aufgefallen, dort erzählt sie ebenfalls eine Familiengeschichte von Flucht und Vertreibung, von ewiger Heimatlosigkeit, Entwurzelung und dem Gefühl eines ständigen Provisoriums. Diese Geschichte geht in die gleiche Richtung und ist ebenfalls von der eigenen Familiengeschichte der Autorin inspiriert.
Beeindruckend ist die herausragende, bildhafte und gut verständliche Sprache des Romans, die eine einzigartige Stimmung mit sich bringt. Voller Ruhe und Wärme, trotz aller schlimmen Ereignisse. Denn immer wieder gibt es einen Sonnenstrahl im Elend, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. Die Lektüre tut daher irgendwie gut. Zusätzlich werden wichtige historische Ereignisse erzählt, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Daher: Eine ganz große Lesempfehlung!

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Veröffentlicht am 10.08.2022

Außergewöhnlicher Roman über soziale Ungleichheit, Migration und ... Liebe

Jahre mit Martha
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Wow - Was für ein Roman. Auf sehr außergewöhnliche Art wird hier über Migration, soziale Ungleichheit, Bildungsaufstieg und die damit verbundenen Probleme erzählt. Kombiniert mit einer (vermeintlichen? ...

Wow - Was für ein Roman. Auf sehr außergewöhnliche Art wird hier über Migration, soziale Ungleichheit, Bildungsaufstieg und die damit verbundenen Probleme erzählt. Kombiniert mit einer (vermeintlichen? ungewöhnlichen?) Liebesgeschichte.
Zeljko, den in Deutschland alle nur Jimmy nennen, ist erst 15, als er Martha kennenlernt. Sie ist Professorin, etwa 20 Jahre älter und wohnt in einer Villa mit Park und Pool in Heidelberg. Ihre Putzfrau ist Zeljkos Mutter, Kroatin aus der Herzegowina und wohnhaft mit Mann und drei Kindern in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen. Zeljkos "Kinderzimmer" ist dort eine mit einem Vorhang abgetrennte Nische im Flur. Dort treffen sich Zeljko und Martha zum ersten Mal und von nun an wird eine besondere Anziehungskraft ihre Leben miteinander verbinden. Zunächst wird Zeljko die Sommerferien über als Aushilfe die Kaninchenställe für Marthas Tochter in deren Garten aufbauen. Und die Bibliothek im Haus nutzen dürfen. Dies bestärkt ihn noch mehr darin, sich Bildung anzueignen. Denn Zeljko erkennt schnell, dass nicht Geld und großzügige Häuser den Unterschied ausmachen, sondern Bildung. Und so wird Zeljko als erster in seiner Familie Abitur machen und studieren. Martha wird ihn unterstützen, jedoch nur sporadisch in seinem Leben präsent sein, dann aber unvergessliche Erlebnisse bereiten.
Eine klassische Liebesgeschichte ist es eigentlich nicht - aber was ist es dann? Und warum fühlt sich Zeljko so einsam und wenig angekommen in seiner neuen Welt? Sind es die sozialen Unterschiede? Die Probleme, als Migranten- und Arbeiterkind an einer Universität? Seine abenteuerlichen Experimente in der Sexualität? Sein Hang zu Marihuana?
Der Roman erzählt jedenfalls keine reine Erfolgsgeschichte, sondern direkt und episodenhaft die Eindrücke, Probleme und Gedanken eines Jungen aus einer einfachen, bildungsfernen Migrantenfamilie, die zwar liebevoll ist, in der vor lauter Geldverdienen jedoch der Fokus verloren geht. Und so schlingert der Protagonist durchs Leben, bis es am Ende ein wenig versöhnlicher wird. Für mich persönlich war es jedoch eher ein Scheitern und genau das Ende des Romans mochte ich deshalb weniger.

Trotzdem: Ein unbedingt lesenswerter Roman mit sehr genauen Beobachtungen und wie nebenher eingeflochtenen Alltagsbeschreibungen, die die sozialen Ungleichheiten unserer Gesellschaft punktgenau sezieren.

"Meine Geschichte will ich erzählen, weil ich glaube, dass wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land. ... Mir selbst will ich meine Geschichte erzählen, weil ich die Irrwege meines Erwachsenenlebens in eine Dramaturgie sortieren will..." (Seite 15)

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Veröffentlicht am 06.06.2022

Das perfekte Sommerbuch, wenn es zwischendurch auch melancholisch und nicht zu seicht sein darf

Ein unendlich kurzer Sommer
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Ein ziemlich heruntergekommener Campingplatz irgendwo in Deutschland an einem See. Die perfekte Kulisse für einen tollen Sommerroman mit interessanten Charakteren, ein wenig Liebesgeschichte ...

Ein ziemlich heruntergekommener Campingplatz irgendwo in Deutschland an einem See. Die perfekte Kulisse für einen tollen Sommerroman mit interessanten Charakteren, ein wenig Liebesgeschichte und der Erzählung über Neuanfänge im Leben.

Gustav ist ein alter Mann und krank. Er ist an den Ort seiner jungen Jahre zurückgekehrt, an dem er seine große Liebe kennengelernt - und wieder verloren hat. Er leitet jetzt den Campingplatz, mehr schlecht als recht. Als die junge Lale bei ihm landet, die einfach nur weg musste aus ihrem alten Leben, wird es besser mit der Platzführung. Lale repariert, hilft und lockt Gustav ein wenig aus seinem Schneckenhaus. Dann erscheint Christophe aus La Reunion auf dem Platz. Und bei Lale melden sich zarte Gefühle. Aber eigentlich will sie das nicht. Und frei ist sie auch nicht..... und Christophe ist eigentlich auch nicht ganz zufällig genau auf diesem Campingplatz gelandet...

Sehr atmosphärisch, mit einer melancholischen Grundstimmung und trotzdem viel Gefühl und in einer wunderschönen Sprache, die nie seicht oder kitschig wird, erzählt die Autorin von einem besonderen Sommer, an dem sich Schicksale kreuzen und Raum schaffen für Neuanfänge.

Das perfekte Buch für den Sommer, wenn man als Leser nicht nur gut unterhalten werden will, sondern auch tiefsinnige Gedankengänge mag. Und gleichzeitig die Leichtigkeit spüren möchte, wenn alles im Leben wieder offen zu sein scheint.

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Veröffentlicht am 02.05.2022

Eindringlicher und bewegender Roman über Heimat, Wurzeln & Familie

Auf der Straße heißen wir anders
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Dieser Roman hat mich sehr positiv überrascht. Ein sehr gut geschriebener und durch seinen Stil sehr eindringlicher Roman über eine armenische Familie in Deutschland, die sich mit Fragen zu Identität, ...

Dieser Roman hat mich sehr positiv überrascht. Ein sehr gut geschriebener und durch seinen Stil sehr eindringlicher Roman über eine armenische Familie in Deutschland, die sich mit Fragen zu Identität, Wurzeln und Heimat auseinandersetzt. Gleichzeitig tragisch und hoffnungsvoll, leise und doch prägnant. Der Roman besticht für mich vor allem durch seine Auslassungen, durch die Dinge, die nicht direkt, sondern indirekt erzählt werden. Dadurch entfaltete das Buch für mich mehr Kraft, als wenn Genozid, Ausgrenzung und Heimatverlust direkt angeprangert werden. Ich hatte vorher von Fatma Aydemir "Dschinns" gelesen, was ich als eine einzige Anklage gegen Rassismus, fehlende Integration und fehlende Anerkennung in der deutschen Gesellschaft empfunden habe. Laura Cwiertnia geht literarisch einen komplett anderen Weg. Sie erzählt leise und ruhig von den Menschen und auch vom Genozid. Oft indirekt und sehr subtil und manches wird auch nur angedeutet, die Auswirkungen auf das Leben der Menschen werden dadurch aber umso deutlicher. Ein sehr gelungenes und literarisch sehr geschickt geschriebener Roman, der multiperspektivisch geschrieben weit in die Vergangenheit zurückgeht und die Lebenswege von Vater, Großeltern, und Urgroßeltern erzählt.

Zentrale Figur ist Klara, Tochter einer Deutschen und eines Armeniers, der in Istanbul aufgewachsen ist. Klara ist der tristen Siedlung in Bremen Nord entkommen, in der sie wiederum aufgewachsen ist. Durch Bildung. Zur Beerdigung ihrer Großmutter kehrt sie zurück und ist mehr als überrascht, dass es ein typisch armenisches Beerdigungsritual gibt. Und ein dezidiert aufgeschlüsseltes Vermächtnis. Dazu gehört ein goldener Armreif mit dem Namen einer Frau in Armenien. Klara überredet ihren Vater zu einer Reise nach Armenien. Und bei dieser Reise kommt Klara ihrem Vater viel näher als bisher. Und sie erfährt sehr viel über ihre Herkunftsfamilie, die zwar aus der Türkei als Gastarbeiter kamen, jedoch keine richtigen Türken, sondern Armenier waren. Und so merkt Klara auch, dass sie mit ihrer Entscheidung, sich Klara und nicht mehr Karlotta zu nennen unbewusst eine Familientradition fortgesetzt hat. Denn "Auf der Straße heißen wir anders". Der Roman erklärt. warum es so war.

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Veröffentlicht am 28.02.2022

Was für ein Buch! Wird wohl mein Jahreshighlight

Der Papierpalast
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Was für ein Buch! Atmosphärisch dicht, sprachlich und stilistisch gelungen und unterhaltsam. Erzählt wird von einem Tag im Sommerhaus einer Familie auf Cape Cod. Wobei es sich um eine sehr einfache ...

Was für ein Buch! Atmosphärisch dicht, sprachlich und stilistisch gelungen und unterhaltsam. Erzählt wird von einem Tag im Sommerhaus einer Familie auf Cape Cod. Wobei es sich um eine sehr einfache Unterkunft handelt, daher der Name Papierpalast. Elle, die Protagonistin, hat dort jeden Sommer ihres Lebens verbracht. Aber diesmal ist etwas anders. Sie hat zum ersten Mal mit ihrem Jugendfreund geschlafen. Sie lieben sich seit ihrer Kindheit. Aber es gibt wohl ein Geheimnis, warum sie kein Paar geworden sind, sondern mit jeweils anderen Partnern verheiratet. Dieses Geheimnis und vieles mehr aus dem Leben von Elle wird in vielen Rückblenden erzählt, während der Tag unaufhaltsam fortschreitet und irgendwann eine Entscheidung ansteht.....

Geschickt konstruiert zwischen Jetzt und Gestern, werden tragische, schöne, verstörende und überraschende Erlebnisse erzählt. Das alles ist wesentlich tiefgründiger und auch dramatischer, als es sich am Anfang anfühlt. Eine leichte, sommerliche Unterhaltung ist das definitiv Buch nicht. Aber eine beeindruckende Erzählung darüber, wie unsere Herkunft uns prägt, wie sich einzelne Erlebnisse auf unser Leben auswirken und welche Rolle Familie spielt oder spielen kann.
Erzählt wird sehr viel von Frauen. Elle als moderne, inzwischen 50jährige Frau aus einem intellektuellen Haushalt, die doch so viele (auch finanzielle) Engpässe und Probleme aus ihrer Kindheit kennt und unbedingt Sicherheit sucht. Ihre Mutter und Großmutter, die noch auf (reiche) Männer angewiesen waren, um ihr Leben zu meistern - und doch so oft damit scheiterten. Was sich wiederum auf ihre Kinder auswirkte (was ihnen aber teilweise ziemlich egal zu sein schien - ich mag es, dass die Autorin die Frauencharaktere etwas gegen die Konventionen entwirft!). Die Handlung wird im Laufe der Erzählung immer komplexer und auch die Charaktere offenbaren sich immer mehr, wobei (fast) keiner nur eindimensional dargestellt wird.

Mich hat dieser Roman sehr gefesselt, ich habe oft über die Rolle der Frauen nachgedacht und mich oft gefragt, was ich in dieser oder jener Situation getan hätte. Darüber hinaus vermittelt das Buch eine einzigartige Stimmung und es wird nie langweilig. Denn irgendwie will man doch wissen, wie sich alles weiterentwickelt.
Von mir daher eine eindeutige Empfehlung für diesen Roman!

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