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Veröffentlicht am 15.03.2023

Denkmal fur eine Familie

Viktor
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In ihrem Roman “Viktor” macht sich die niederländische Autorin Judith Fanto auf die Suche nach ihrer jüdischen Identität, spürt der Geschichte ihrer Familie nach und legt Gefühle von Schuld, Angst und ...

In ihrem Roman “Viktor” macht sich die niederländische Autorin Judith Fanto auf die Suche nach ihrer jüdischen Identität, spürt der Geschichte ihrer Familie nach und legt Gefühle von Schuld, Angst und Verlust frei.

Judith, zu Beginn noch Geertje genannt, wächst in den Niederlanden auf. Ihre Großeltern mussten während des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat Wien fliehen und in Belgien untertauchen. Die Beziehung der Familie zum eigenen Judentum ist kompliziert und stark durch Angst, Traumata und Verdrängung geprägt. Daher ist Judith sich lange Zeit der eigenen Familiengeschichte und Identität kaum bewusst.

Mit ihrer Akzeptanz dieser Identität stellt sich Judith der Geschichte entgegen. Als Erste in ihrer Familie erkämpft sie sich einen Platz in der Gegenwart, der sich nicht durch Ängste, Schuldgefühle und Traumata definiert. Sie will sich nicht verstecken, sondern sucht nach der Wahrheit und scheut keine Konfrontation.

Doch damit ist nur eine der zwei Zeitebenen beschrieben, auf denen der Roman spielt. Der Roman macht den Leser auch mit dem Leben Viktors bekannt, dem Bruder des Großvaters von Judith. Judith fühlt sich mit Viktor verbunden, denn ihre eigene rebellische Art erinnert die Großeltern oft an Viktor. Die Faszination für ihren Vorfahren rührt sicherlich auch daher, dass sie immer nur Bruchstücke aus seinem Leben erfährt und nie seine ganze zusammenhängende Lebensgeschichte. Also macht sie sich im Familienarchiv selbst auf die Suche, findet Briefe, Tagebucheintragungen und andere Dokumente, die es ihr ermöglichen, Viktors Geschichte nachzuzeichnen.

Viktor ist eine starke Figur, die sich nichts vorschreiben lässt, die sich weigert, die Umstände zu akzeptieren und sich auflehnt. Dass er anstatt “Heil Hitler” konsequent “Drei Liter” ruft, ist lediglich eine seiner zahlreichen Wiederstandshandlungen.

Diese zweite Handlungsebene verdeutlicht, wie sich der institutionelle Antisemitismus während der Nazi-Herrschaft in Wien allmählich ausbreitete, wie Razzien, Ausschreitungen und Gewalt den Alltag zu bestimmen anfingen. Zunächst begann man, getrennte Schulklassen für jüdische Kinder einzurichten. Doch schon bald kam es zu einer Entfesselung von Hass, der in der Enteignung, Demütigung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung endete und in einem drei Tage und Nächte andauernden Pogrom nur einen ihrer Höhepunkte fand.

Judith Fanto hat mit diesem Roman ihrer eigenen Familie, und ganz besonders Viktor, ein Denkmal gesetzt. Sie hat die verlorenen Stimmen, die der Welt auf grausamste Weise entrissen wurden, wieder zum Leben erweckt und sie ihre Geschichte erzählen lassen. “Viktor” ist ein lesenswerter Roman, der gekonnt geschrieben und oft tiefsinnig ist und zuweilen sehr nahe geht.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Bereichernd

Briefe an den Reichtum
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Carl Amery hat in der Anthologie Briefe an den Reichtum vornehmlich Briefe gesammelt, die an den Kapitalismus gerichtet sind, an den Neoliberalismus und an eine Wirtschaftsweise, die auf Gier und auf der ...

Carl Amery hat in der Anthologie Briefe an den Reichtum vornehmlich Briefe gesammelt, die an den Kapitalismus gerichtet sind, an den Neoliberalismus und an eine Wirtschaftsweise, die auf Gier und auf der endlosen Anhäufung von Kapital beruht, ohne jegliche Rücksicht auf Umwelt und Gesellschaft zu nehmen.

Die Texte scheuen keine Konfrontation. Sie nennen Namen und Fragen und klagen an. Besonders die Manager werden dabei in den Briefen von Harald Schumann und Oskar Negt unter die Lupe genommen. Beide Autoren decken das ungerechte Verhältnis, das zwischen Arbeitsleistung und Gehalt besteht, auf. Sie stellen dar, wie Manager und Vorstände sich durch Prämien in Millionenhöhe bereichern, um im nächsten Moment die Streichung von Tausenden von Arbeitsplätzen zu erklären. Auch nennen sie Beispiele für eine Klassenjustiz, die Steuerhinterziehungen und Finanzkriminalität nicht ahndet. Ihre Briefe zeigen eine Refeudalisierung der Verhältnisse und Zerfallstendenzen der Demokratie und des Sozialstaates auf.

In den anderen Beiträgen setzt sich die Anklage an den Reichtum und die Forderung nach Moral, nach Anstand, nach Verantwortung und einer Pflicht der Reichen dem Gemeinwohl gegenüber fort. Auch mangelt es den Autoren der Anthologie nicht an Ideen für eine bessere, eine gerechtere Gesellschaft. Am einprägsamsten ist dabei wohl Andres Eschenbachs Vorschlag: “Lachen Sie die Plakate Ihrer Banken aus”.

Die Anthologie hat seit ihrem Erscheinungsjahr 2005 an keinerlei Aktualität eingebüßt. In Zeiten von immer skrupelloserer Finanzkriminalität, die durch Skandale wie Cum-Ex und Wirecard nur bruchstückhaft an die Öffentlichkeit gelangt, sind die Briefe wahrscheinlich sogar wichtiger denn je. Die Beiträge rütteln auf, nennen Namen, klagen an, scheuen keine Konfrontation und dringen mal durch Satire, mal durch Fakten und konkrete Lösungsvorschläge zum Kern unserer heutigen sozialen, ökologischen und ökonomischen Probleme: die Gier und die “Unendlichkeit der Akkumulation”.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Eine Bereicherung

Noah – Von einem, der überlebte
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Noah konfrontiert den Leser schonungslos mit der Wirklichkeit des letzten Jahrhunderts und lässt die Schrecken und die unvorstellbare Grausamkeit der Nazi-Herrschaft lebendig werden. Es führt schlicht ...

Noah konfrontiert den Leser schonungslos mit der Wirklichkeit des letzten Jahrhunderts und lässt die Schrecken und die unvorstellbare Grausamkeit der Nazi-Herrschaft lebendig werden. Es führt schlicht kein Weg an einem Buch wie diesem, das Dokumentation und Erinnerung in einem ist, vorbei.

Noah Klieger, dessen Erinnerungen das Buch festhält, wurde 1925 in Straßburg geboren, verbrachte seine Jugend in Belgien und schloß sich einer Organisation an, die jüdische Kinder in die Schweiz brachte. Als er beschlossen hatte, dass es auch für ihn an der Zeit war, das Land zu verlassen, wurde er von der Gestapo an der französisch-belgischen Grenze festgenommen. Er war 17 Jahre alt.

Noah wurde zunächst in ein Sammellager gebracht, um anschließend nach Auschwitz deportiert zu werden. Dort gab er sich als professioneller Boxer aus, um sich mit der Suppe, die die Boxer bekamen, stärken zu können. Mehrmals entglitt er in seiner Zeit in Auschwitz dem Tod nur knapp, überlebte eine Lungenentzündung und eine Selektion, bei der er den Todeskandidaten zugeordnet wurde.

Noah überlebte Auschwitz. Er war Zeuge der Befreiung durch die Alliierten und bestieg schließlich nach Ende des Krieges in Sète das berühmte Flüchtlingsschiff Exodus, das jüdische Flüchtlinge nach Palästina bringen sollte. Noah erlebte die Gründung des israelischen Staates, wurde Journalist, begleitete die Auschwitz-Prozesse und hielt unzählige öffentliche Vorträge. 2018 verstarb er.

Das Buch ist das Zeugnis dieser außergewöhnlichen und erinnerungswürdigen Lebensgeschichte und Takis Würger hat einen Stil gefunden, der diesem Leben gerecht wird. Er verzichtet auf Ausschmückungen und auf Nebensächlichkeiten. Noahs Leben wird in kurzen, klaren Sätzen wiedergegeben, die den dokumentarischen Charakter des Buches unterstreichen.

Dieses Buch in Händen halten zu dürfen und Noah Kliegers Geschichte kennenlernen zu dürfen, ist eine Bereicherung für jeden Leser. Es ist ein kostbares Zeitzeugnis, das Noahs Stimme laut und klar in die Zukunft trägt und das auch all denjenigen, denen Noah auf seinem Weg begegnet ist und die den Holocaust zum großen Teil nicht überlebt haben, ein Denkmal setzt.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Lesenswert, stark, wichtig

Der ehemalige Sohn
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Die Hauptfigur dieses Romans ist Franzisk Lukitsch, auch Zisk genannt, der zu Beginn der Geschichte Schüler an einem Lyzeum für Musik ist. Zusammen mit seinen Freunden macht er sich an einem sonnigen Abend ...

Die Hauptfigur dieses Romans ist Franzisk Lukitsch, auch Zisk genannt, der zu Beginn der Geschichte Schüler an einem Lyzeum für Musik ist. Zusammen mit seinen Freunden macht er sich an einem sonnigen Abend zu einem Konzert auf. Als plötzlich ein Regenschauer über die Stadt hereinbricht, findet sich Zisk in einer U-Bahn Unterführung wieder. Da alle Konzertgänger in dieser den einzigen Unterschlupf erkennen, kommt es zu einem Massengedränge und dutzende Menschen werden zerquetscht, zertrampelt und sterben. Zisk kommt zwar mit seinem Leben davon, fällt aber in ein Koma, das die nächsten zehn Jahre andauern wird. Als er dann erwacht, scheint alles wie zuvor, als läge nicht ein ganzes Jahrzehnt zwischen dem Unfall und seinem Erwachen.

Dieselbe Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit prägt auch nach einem Jahrzehnt noch das Leben der Menschen. Und obwohl die Mehrheit des Volkes den Präsidenten nicht unterstützt und unzufrieden ist, schaffen sie es nicht, etwas gegen das Regime zu tun. Denn durch Angst und Gewalt wird die Macht erfolgreich aufrecht erhalten. Filipenko zerlegt das politische System in seine einzelnen Bestandteile und stellt dar, durch welche Mechanismen und Strukturen es aufrecht erhalten wird. Diese überraschen nicht, weil sie in jeder Diktatur zu finden sind: Das Einsperren von Oppositionellen und von allen kritischen Stimmen (denn “gesunde Menschen stellen keine Fragen”), die Ermordung von Journalisten, das gewalttätige Vorgehen gegen Demonstranten, das Festhalten an einer bestimmten Version der Geschichte, die Kontrolle und Gleichschaltung der Medien, die Zensur der Kunst, die politische Isolation, usw. Diese Strukturen führen dazu, dass es überhaupt keine Veränderungen und keine Entwicklung gibt. Einer der Ärzte fasst das sehr treffend zusammen: “Wir leben im besten Land für erwachende Komapatienten. Hier ändert sich absolut nichts. Egal, wie lang sie im Koma liegen. Monatelang, jahrelang, ewig...”

Filipenko erschafft durch seinen Erzählstil eine greifbare und dichte Atmosphäre und erweckt ein Land und seine Menschen zum Leben. Der Ton ändert sich immer wieder, manchmal mutet er poetisch an, dann kritisch und ernst und er kann auch durchaus humorvoll sein. Das Besondere an dem Roman ist meiner Meinung nach jedoch, dass seine Figuren selbst sehr häufig zu Wort kommen, wodurch ein Gefühl von Nähe und Authentizität entsteht. Die Charaktere wirken vielschichtig und greifbar. An Zisks Krankenbett beispielsweise werden zahlreiche Monologe von unterschiedlichen Figuren gehalten und es sind diese Monologe, die so viel über die Entwicklung und den Zustand im Land verraten. Außerdem wird der Roman durch sie zu einer Bühne, auf der die Figuren ihre Meinungen, Gedanken, Sorgen, Nöte und ihre Wut äußern können.

Fazit: Ein lesenswerter, wichtiger und starker Roman, der die Stimmen eines Landes einfängt und den Horizont des Lesers erweitert.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Großartig!

Der Granatapfelbaum
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Memed, Yusuf, Hösük, Ali der Barde und Klein Memed beschließen eines Tages, ihr Dorf zu verlassen und in der Çukurova Ebene nach Arbeit zu suchen. Sie brechen voller Hoffnung auf, wollen Geld verdienen ...

Memed, Yusuf, Hösük, Ali der Barde und Klein Memed beschließen eines Tages, ihr Dorf zu verlassen und in der Çukurova Ebene nach Arbeit zu suchen. Sie brechen voller Hoffnung auf, wollen Geld verdienen und ihren Familien ein besseres Leben ermöglichen. Was sie in der Ebene erwartet ist jedoch nicht Arbeit, sondern Krankheit, Durst, Hunger, Erschöpfung, Hitze und Demütigungen.

Yaşar Kemal schreibt meisterhaft über Menschen, deren Stimmen in der Literatur sonst kaum berücksichtigt werden. Er lässt Tagelöhner und Landarbeiter zu Wort kommen, gibt ihnen eine Bühne und schafft damit das Abbild einer Welt, in der soziale Ungerechtigkeit und Hierarchien, Armut und Ausbeutung den tagtäglichen Überlebenskampf der Menschen prägen.
Der Granatapfelbaum bedient sich einer klaren, hellen und gleichzeitig tiefgründigen Sprache. Es ist ein Roman, der großartig geschrieben ist und lange nachhallt.

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