Leserunde zu "Melmoth" von Sarah Perry

Ein Buch, das einen packt und nicht mehr loslässt.
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Sarah Perry (Autor)

Melmoth

Roman

Ein fesselnder und wunderbar unheimlicher Roman


Helen Franklins Leben nimmt eine jähe Wende, als sie in Prag auf ein seltsames Manuskript stößt. Es handelt von Melmoth - einer mysteriösen Frau in Schwarz, der Legende nach dazu verdammt, auf ewig über die Erde zu wandeln. Helen findet immer neue Hinweise auf Melmoth in geheimnisvollen Briefen und Tagebüchern - und sie fühlt sich gleichzeitig verfolgt. Liegt die Antwort, ob es Melmoth wirklich gibt, in Helens eigener Vergangenheit?


Ein Buch, das einen packt und nicht mehr loslässt. Ein weiteres Meisterwerk von Sarah Perry.



Timing der Leserunde

  1. Bewerben 05.08.2019 - 25.08.2019
  2. Lesen 09.09.2019 - 29.09.2019
  3. Rezensieren 30.09.2019 - 13.10.2019

Bereits beendet

Teilnehmer

Diskussion und Eindrücke zur Leserunde

Veröffentlicht am 13.10.2019

Melmoth

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„Melmoth“ von Sarah Perry ist von dem erfolgreichen Schauerroman „Melmoth der Wanderer" von Charles Maturin inspiriert. Dieser erschien im Jahr 1820 und stellt einen Mann in den Mittelpunkt, der für 150 ...

„Melmoth“ von Sarah Perry ist von dem erfolgreichen Schauerroman „Melmoth der Wanderer" von Charles Maturin inspiriert. Dieser erschien im Jahr 1820 und stellt einen Mann in den Mittelpunkt, der für 150 Jahre seine Seele dem Teufel verkauft und dann auf der Suche nach jemanden ist, der seinen Platz einnimmt. Bei Sarah Perry ist Melmoth eine Frau, ein mystisches Wesen, das einer unglaublich düsteren und quälenden Dunkelheit verhaftet ist. Denn Melmoth ist Zeugin einiger historischer, wahrlich teuflischer Gräueltaten der Menschheit.

Im Mittelpunkt des Geschehens im Winter des Jahres 2016/2017 steht die in Prag asketisch lebende und als Übersetzerin arbeitende Engländerin Helen Franklin: „Klein, unscheinbar, umweht von einer Traurigkeit, deren Ursache niemand errät; still erfüllt sie ihre Selbstbestrafung, pflichtbewusst, ohne Umschweife und voller Selbsthass.“ Unter ihrem Bett liegt ein grauer Pappkarton, in dem Helens ganzes Dasein auf dreißig mal zwanzig Zentimetern verstaut ist, so tief vergraben wie unter englischer Erde, begonnen vor zweiundvierzig Jahren in Essex in einem Haus mit Rauputzfassade und zweiundzwanzig Jahre später durch einen reinen Willensakt beendet. Er stammt aus einer Zeit, in der Helen wirklich lebendig war. Alles davor ist nur Prolog, alles danach eine Randnotiz gewesen.

Trotzdem sie sich Vergnügen und Kameradschaft widersetzt, findet sie einen Freund: Dr. Karel Pražan. Durch ihn macht sie zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Mythos der Melmoth, Melmotte oder Melmotka, wie sie in Prag genannt wird, einer Frau, die dazu verdammt ist, auf nackten, blutigen Füßen die Welt zu durchstreifen, um Zeugnis abzulegen von der Gewalt und Grausamkeit der Menschheit und auf der Suche nach denjenigen, die in die Abgründe des Elends geraten sind.

„Sie ist einsam. Ihre Einsamkeit ist uferlos und wird erst enden, wenn die Welt untergeht und Melmoth Vergebung erfährt. Sie erscheint den Menschen am Tiefpunkt ihres Lebens, und nur die Erwählten spüren ihren Blick. Sie heben den Kopf, und plötzlich steht die Zeugin vor ihnen. Angeblich streckt sie dann die Arme aus und sagt: Nimm meine Hand! Ich war so einsam!“

Melmoth scheint Menschen zu mögen, die etwas zu verbergen haben. Wie Helen.

Nach dem Verschwinden von Karel hinterlässt er ihr nicht nur seine Besessenheit von Melmoth, sondern auch ein Manuskript, das eine Sammlung primärer historischer Quellen enthält, die auf besondere Art Melmoth darstellen. Jene vielfältige Texte bieten ein klares und sorgfältiges, gleichwohl erschreckend erschütterndes Zeugnis: Da ist der tschechoslowakische Junge, der aus Unverständnis und Langeweile versagt und Schuld auf sich lädt, als er seine Nachbarn, eine jüdische Familie, denunziert. Wir erfahren von einem Bettler, dessen Arbeit als türkischer Beamter den Völkermord an den Armeniern 1915 begünstigt und einem Engländer, der sich im 17. Jahrhundert an der Verfolgung der Katholiken beteiligt. Und wir lernen eine junge Frau kennen, deren Körper durch eine Säureattentat ihres eifersüchtigen Freundes verbrannt wurde und sich nichts sehnlicher wünscht, als von ihrem qualvollen Leiden erlöst zu werden.

Sarah Perrys Prosa ist üppig, malerisch und anspruchsvoll. Mit Scharfsinn und durchaus unheimlich anmutenden Bildern wie schwarzen Dohlen gelingt ihr die Verdichtung der detaillierten Ereignisse und die atmosphärische Einbindung des Lesers, der zudem immer wieder direkt angesprochen wird.

Die Autorin formuliert ethische und philosophische Fragen, beispielsweise nach dem Unterschied zwischen dem, was gut, richtig oder gesetzmäßig ist. Lassen wir uns nicht zu sehr von Äußerlichkeiten ablenken, weil wir das Innere nicht kennen? Was sind unsere Pflichten in der Gemeinschaft? Reicht es aus, zu wissen und Zeugnis abzulegen, oder sind wir miteinander verbunden und involviert, so dass dies aktive Reaktionen hervorrufen muss? Sollten wir dem Wunsch nach Verdrängung, auch in Momenten der Schuld nachgeben oder Verantwortung übernehmen und uns das Gefühl von Anstand und Hoffnung auch im tiefsten Dunkel erhalten? Sarah Perry hat eine Antwort hierfür:

"Wir sind ganz allein, deswegen müssen wir tun, was Melmoth tun würde: Wir müssen hinsehen und bezeugen, was nicht in Vergessenheit geraten darf."

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Veröffentlicht am 13.10.2019

Wunderschöne, anspruchsvolle Sprache & faszinierende, düstere Atmosphäre – leider fehlt Spannung

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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Im Roman stößt Helen auf ein seltsames Manuskript, das von einer Legende handelt: von Melmoth, einer Frau in Schwarz, die angeblich dazu verdammt sein soll, für immer ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Im Roman stößt Helen auf ein seltsames Manuskript, das von einer Legende handelt: von Melmoth, einer Frau in Schwarz, die angeblich dazu verdammt sein soll, für immer über die Erde zu wandeln und menschliche Gräueltaten zu bezeugen. In Prag findet Helen immer mehr Hinweise auf die Frau in Briefen und Tagebüchern…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 336
Erzählweise: Allwissender Erzähler, Präteritum und Präsens wechseln sich ab
Perspektive: männliche und weibliche Perspektive
Kapitellänge: Es gibt keine Kapitel im Buch, nur Überschriften, wenn eine neue Quelle präsentiert wird.

Tiere im Buch: +/- Es wird im Buch Fleisch gegessen, Menschen tragen Schuhe aus Kalbsleder, es werden Hahnenkämpe erwähnt und Kakerlaken in großer Zahl erschlagen. Vögel fliegen gegen Glas und sterben, und es gibt Beschreibungen von halbverhungerten Straßenhunden, denen niemand hilft. Immerhin wird auch geschildert, dass im Winter immer wieder Schwäne aus dem Eis der Moldau befreit werden. Falls das in Prag wirklich geschieht, ist das sehr erfreulich!

Warum dieses Buch?

Auf dieses Buch haben mich das wunderschöne Cover und das mit viel Liebe gestaltete Design neugierig gemacht. BücherliebhaberInnen wie wir lieben es ja, solche Schmuckstücke ins Regal zu stellen und zu bewundern! Als ich dann noch gehört habe, dass dieses Buch zur "gothic fiction" (also zur Schauerliteratur) gezählt wird wie 2 meiner absoluten Lieblingsbücher – „Sturmhöhe“ / „Wuthering Heights“ und „Jane Eyre“ - , wusste ich, dass ich es unbedingt lesen muss!

Meine Meinung

Einstieg (+/-)

„Karel glaubte zu spüren, wie ihm die Neugier eine Hand zwischen die Schulterblätter legte und ihn vorwärtsschob.“ Seite 31

Der Einstieg ist mir leider nicht leicht gefallen. Es hat einige Seiten gedauert, bis ich ganz in die Geschichte eintauchen konnte. Dann wurde die Lektüre aber zu einem intensiven, faszinierenden Erlebnis. Man muss sich selbst am Anfang auf jeden Fall genug Zeit geben, um ins Buch zu finden.

Schreibstil (♥)

Sarah Perrys Schreibstil fand ich absolut großartig - ich war ganz verzaubert von den wunderschönen Vergleichen und sprachlichen Bildern und von den atmosphärischen Beschreibungen. Dabei muss man allerdings wissen, dass die Autorin sehr anspruchsvoll schreibt – man kann das Buch auf jeden Fall nicht nebenbei lesen, sondern muss sich voll und ganz darauf konzentrieren. Dieses Buch ist also genau das Richtige für Menschen, die beim Lesen gefordert werden möchten. Das Lesen kam mir stellenweise (obwohl ich das Buch rückblickend gern gelesen habe) vor wie ein Kraftakt – ich war erleichtert, als ich die letzte Seite umgeblättert hatte. Viel zu wenige Absätze im Buch erschweren zusätzlich die Lektüre.

Ungewöhnlich, aber sehr gelungen und spannend fand ich außerdem die direkte Ansprache und Miteinbeziehung der LeserInnen – dieses Stilmittel macht das Buch zu einer sehr besonderen Lektüre!

„Wenn sie nicht hinsieht, müssen Sie es an ihrer Stelle tun – dort hinter dem Geländer – nein, noch ein kleines Stückchen weiter, da unten, zwischen zwei geparkten Autos – warten Sie, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Da, jetzt haben Sie es, nicht wahr?“ Seite 72

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„‘Glaubst du, man kann sich nach etwas sehnen, vor dem man höllische Angst hat?‘“ Seite 143

Mit „Melmoth“ hat Sarah Perry einen Roman geschaffen, der sich ohne Frage sehr gut der Schauerliteratur („gothic fiction“) zuordnen lässt und der einem während der Lektüre auch immer das Gefühl gibt, dass wir uns eigentlich gar nicht in der Gegenwart befinden, sondern weit in der Vergangenheit, vielleicht sogar in der Blütezeit der Schauerliteratur im 19. Jahrhundert. Der interessante und düstere Schauplatz – die geschichtsträchtige Stadt Prag im Winter – wird sehr eindrucksvoll genutzt. Melmoth selbst ist eine faszinierende, tragische, mysteriöse und gleichzeitig Furcht einflößende Figur mit biblischer Vorgeschichte, die laut der Legende, die man Kindern erzählt, gezwungen ist, einsam und für immer auf der Erde zu wandeln.

Das eigentliche „Böse“ in dieser Geschichte hat jedoch nichts Übernatürliches an sich; es sind die Menschen, die zu unfassbaren Gräueltaten fähig sind. Verschiedene Quellen, die in die Geschichte eingewebt sind und einen relativ großen Teil davon ausmachen, führen uns immer wieder in die Vergangenheit und in andere Länder, wo wir ZeugInnen von verschiedenen menschlichen Verbrechen werden: Ein Junge verrät in der Zeit des Nationalsozialismus eine jüdische Familie, weil er neidisch auf ihr Radio ist; Kinder werden verprügelt; ganze Familien vergiften sich aus Angst. Besonders die Kriegsgräuel schildert die Autorin bis ins grausigste Detail und zwingt somit ihre LeserInnen, (wie Melmoth) diese furchtbaren Szenen zu bezeugen. Viele ihrer ungeschönten und eindringlichen Beschreibungen machen wütend, schockieren oder liegen noch lange Zeit schwer im Magen. Themen wie Ethik, Schuld, Trauer, Antisemitismus, Egoismus und Krieg werden eindrucksvoll und tiefgründig im Roman verarbeitet.

Wer mit einer detaillierten Literatur-Recherche in der Gegenwart rechnet, wird übrigens enttäuscht werden: Helen werden alle Quellen auf dem Silbertablett serviert, ihr Erzählstrang nimmt stellenweise erstaunlich wenig Platz in der Handlung ein. Die vielen kleinen Erzählungen, aus denen sich die Geschichte zusammensetzt, haben mich manchmal aus dem Lesefluss gerissen, aber ansonsten nicht gestört, da ich sie alle sehr interessant fand. Eine Einteilung in kürzere Kapitel und mehr Absätze hätte sicher noch etwas für die Leserfreundlichkeit des Buches tun können. Ansonsten stimme ich mit verschiedenen RezensentInnen überein – auch ich glaube, dass es die etwas sperrige und oftmals langatmige Geschichte schwer haben wird, ihr Publikum zu finden. Wer jedoch bis zum Schluss durchhält, wird mit einem grandiosen, fulminanten Gänsehaut-Ende belohnt, das einem lange in Erinnerung bleibt.

Protagonistin & Figuren (+)

Die Figuren konnten mich insgesamt überzeugen, auch wenn viele von ihnen schwer zugänglich sind und man erst einmal mit ihnen warm werden muss. Eine extrem unsympathische Figur habe ich sogar gehasst. Fest steht, dass Sarah Perry ein Talent dafür hat, sehr interessante und ungewöhnliche Charaktere zu erschaffen, die sich von jenen in anderen Büchern auf erfrischende Weise abheben.

Spannung (-!)

Mein einziger großer Kritikpunkt an der Geschichte ist die fehlende Spannung. Es gibt einige Abschnitte, die sich für mich unglaublich gezogen haben und die ich deshalb auch sehr langatmig und anstrengend zu lesen fand. Immer wieder bin ich gedanklich abgeschweift und musste mich zwingen, mich wieder auf die Geschichte zu konzentrieren. Ich befürchte leider, dass das langsame Tempo der Geschichte in Kombination mit ihrer fehlenden Spannung, ihrer Sperrigkeit und ihrem anspruchsvollen Schreibstil dazu führen wird, dass viele Menschen das Buch nach einigen Seiten bereits wieder abbrechen und beiseite legen werden, was ich durchaus verstehen könnte.

Atmosphäre (♥)

Absolut punkten konnte das Buch dafür bei mir mit seiner düsteren, intensiven und mysteriösen Atmosphäre und seinen vereinzelten Horror-Elementen. Sarah Perry weiß das Setting (Prag) und die Jahreszeit (Winter) zu nutzen. Die subtile Bedrohung durch Melmoth und die unheimliche Stimmung, die ständig im Hintergrund mitschwingt, fand ich großartig! Ich liebe es, mich zu gruseln - und das gelang der Autorin immer wieder ausgezeichnet.

„Plötzlich werden ihre Unterarme kalt, die Härchen sträuben sich, und in ihrer Brust tut sich ein Vakuum auf, als nähme das Herz Anlauf zu einem verstolperten Schlag. Es fühlt sich an, als würde sie von leblosen, gierigen Augen gemustert.“ Seite 43

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Positiv ist anzumerken, dass das Buch den Bechdel-Test auf den ersten Seiten besteht, dass Frauen oft sehr hoch qualifiziert sind (viele haben studiert, Thea war zudem eine sehr erfolgreiche Anwältin), dass Männer weinen und dass das Geschlechterverhältnis sehr ausgeglichen ist.

In den verschiedenen Quellen über Melmoth, die natürlich alle zu einer früheren Zeit spielen, sind die Geschlechterrollen oft sehr traditionell verteilt (Frauen kochen, sind für den Haushalt zuständig etc.), und vereinzelt finden sich sehr stereotypisierende Beschreibungen von Frauen (sie lauschen immer, sie erzählen Dinge sofort weiter). Zur Kriegszeit wird auch geschildert, wie Frauen beleidigt (Hu++) und (von mehreren Männern) vergewaltigt werden – diese Szenen hatten eine schockierende Wirkung auf mich und sollen, denke ich, aufrütteln. Auch toxische Männlichkeit und die furchtbaren Taten, die damit einhergehen, werden angesprochen. So hat zum Beispiel ein Mann seine Freundin mit Säure übergossen, weil er seinen „Besitz“ mit niemandem teilen wollte. Ähnliche Verbrechen und sogar Frauenmorde passieren übrigens noch heute – sogar bei uns. Jeden dritten Tag stirbt eine Frau in Deutschland durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners.

Mein Fazit

„Melmoth“ ist ein gelungener Schauerroman mit einer wunderschönen, anspruchsvollen Sprache und einer düsteren, unheimlichen Atmosphäre, dem es aber leider an Spannung fehlt. Der Einstieg fiel mir schwer, dann wurde die Lektüre jedoch zu einem intensiven, faszinierenden Erlebnis. Sarah Perrys anspruchsvollen Schreibstil fand ich großartig - ich war ganz verzaubert von den wunderschönen sprachlichen Bildern und atmosphärischen Beschreibungen. Ungewöhnlich, aber äußerst gelungen fand ich auch die direkte Ansprache der LeserInnen. Mit Melmoth hat die Autorin eine faszinierende, tragische, mysteriöse und gleichzeitig Furcht einflößende Figur geschaffen. Das eigentliche „Böse“ in der Geschichte sind jedoch die Menschen. Verschiedene Berichte, die in die Geschichte eingewebt sind, führen uns in die Vergangenheit, wo wir ZeugInnen von unfassbaren Gräueltaten werden. Diese schildert die Autorin bis ins grausigste Detail. Viele der ungeschönten und eindringlichen Beschreibungen machen wütend, schockieren oder liegen noch lange Zeit schwer im Magen. Themen wie Schuld, Trauer, Antisemitismus und Krieg werden eindrucksvoll und tiefgründig im Roman verarbeitet. Die Figuren konnten mich überzeugen, auch wenn viele von ihnen schwer zugänglich sind und man erst einmal mit ihnen warm werden muss. Fest steht, dass Sarah Perry ein Talent dafür hat, sehr interessante, erfrischende und ungewöhnliche Charaktere zu erschaffen. „Melmoth“ gibt einem während der Lektüre ständig das Gefühl, dass wir uns eigentlich gar nicht in der Gegenwart befinden, sondern weit in der Vergangenheit. Der interessante Schauplatz – die geschichtsträchtige Stadt Prag im Winter – wird sehr eindrucksvoll genutzt. Mit seiner düsteren, intensiven und mysteriösen Atmosphäre und seinen Horror-Elementen konnte der Schauerroman bei mir punkten. Die subtile Bedrohung durch Melmoth und die unheimliche Stimmung, die ständig im Hintergrund mitschwingt, fand ich großartig! Trotz alledem kam mir die Lektüre stellenweise vor wie ein Kraftakt – ich war erleichtert, als ich die letzte Seite umgeblättert hatte. Mein einziger großer Kritikpunkt an der Geschichte hängt damit zusammen: Es ist die fehlende Spannung. Es gibt einige Abschnitte, die sich für mich unglaublich gezogen haben und die ich deshalb auch sehr langatmig und anstrengend zu lesen fand. Immer wieder bin ich gedanklich abgeschweift und musste mich zwingen, mich wieder auf die Geschichte zu konzentrieren. Hier stimme ich mit einigen anderen RezensentInnen überein – auch ich glaube, dass es die etwas sperrige und oftmals langatmige Geschichte mit ihrem langsamen Tempo und ihrem anspruchsvollen Schreibstil schwer haben wird, ihr Publikum zu finden. Wer jedoch bis zum Schluss durchhält, wird mit einem grandiosen, fulminanten und unvergesslichen Gänsehaut-Ende belohnt.

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne
Einstieg: 3 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 4 Sterne
Nebenfiguren: 4 Sterne
Spannung: 1 Stern
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 3-4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt vier Lilien!

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Veröffentlicht am 13.10.2019

Ungewöhnlich aber nicht uninteressant

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Helen lebt seit einigen Jahren in Prag in einer Art selbst gewähltem Exil. Sie hat nur wenige Freunde, lebt sehr spartanisch. Eines Tages erzählt ihr Karel von Melmoth, einer schwarzen Gestalt, die ihn ...

Helen lebt seit einigen Jahren in Prag in einer Art selbst gewähltem Exil. Sie hat nur wenige Freunde, lebt sehr spartanisch. Eines Tages erzählt ihr Karel von Melmoth, einer schwarzen Gestalt, die ihn zu verfolgen scheint. So wie vorher Josef Hoffmann, der in einer Bibliothek stirbt und Karel all seine Unterlagen über Melmoth hinterlässt. Einige dieser Unterlagen gibt Karel an Helen weiter und verschwindet dann spurlos. Fortan fühlt sich Gehen beobachtet und verfolgt. Ist Melmoth nun auch hinter ihr her?
Die Autorin greift hier den Mythos um Melmoth auf, einer gefallenen Gestalt, dir dazu verdammt ist ewig allein auf Erden zu wandeln und Zeugnis abzulegen über die Sünden und Verfehlungen der Menschen. Erzählt wird die Geschichte in mehreren Ebenen. So werden unter anderem alte Berichte und Geschichten zitiert, und wir erfahren die Lebensgeschichte von Josef Hoffmann.
Anfangs ist das Buch genauso, wie ich spannende Bücher liebe. Man wird schon gleich nach ein paar Sätzen so neugierig, dass man am liebsten gar nicht mehr aufhören möchte mit lesen. Leider wird das Buch durch die teilweise doch recht langen Berichte etwas langatmig, und man kommt nur schleppend voran.
Der Schreibstil in der Gegenwartsform und scheinbar aus Sicht eines neutralen Betrachters gefällt mir ausgesprochen gut. Auch die Beschreibung von Prag ist so bildhaft, dass ich mich an meinen Besuch in dieser wundervollen Stadt vor einigen Jahren erinnert fühlte.

Insgesamt ein Buch, das ich nicht wirklich einordnen kann. Auf der einen Seite habe ich es gerne gelesen. Aber auf der anderen Seite fehlt mir dich das gewisse etwas.
Wer hier, wie ich, aufgrund des Klappentextes und der Leseprobe einen spannenden Mystery- oder auch Gruselroman erwartet, wird hier unter Umständen enttäuscht sein. Hier ist eher ein sehr anspruchsvolles Buch mit einer Botschaft entstanden, die dich der Leser im Laufe der Geschichte auch ein bisschen selbst erarbeiten muss.

Mit einigen Abstrichen durchaus empfehlenswert.

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Veröffentlicht am 13.10.2019

Beklemmend, düster, überrumpelnd - von der Geschichte in der Geschichte

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Das neuste Werk "Melmoth" von Sarah Perry ist ein sehr aufwühlender Roman. Dies hat allerdings weniger mit der Geschichte der Protagonistin selbst zutun, denn obwohl Helen Franklin in Prag auf ein seltsames ...

Das neuste Werk "Melmoth" von Sarah Perry ist ein sehr aufwühlender Roman. Dies hat allerdings weniger mit der Geschichte der Protagonistin selbst zutun, denn obwohl Helen Franklin in Prag auf ein seltsames Dokument stößt, in dem von einer mysteriösen, angsteinflößenden Frau die Rede ist, und sie sich seitdem verfolgt fühlt, sind es eher die eingeschobenen Manuskriptfragmente, Briefe und Erinnerungen, die hier mit einer großen Intensivität hervortreten. Aber eins nach dem anderen...

"Während der vergangenen zehn Tage konnte ich an nichts anderes denken als an meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld! Ich kann nicht mehr schlafen. Ich spüre ihren Blick und drehe mich um, erfüllt von Hoffnung und Furcht und bin doch immer allein."

Und gerade diese Angst bringt J.A. Hoffmann um den Verstand. Auch er fühlt sich von ihr verfolgt. Melmoth, die Frau die dazu verdammt ist, auf ewig über die Erde zu streifen und nach Bösem und Niederträchtigem Ausschau zu halten. "Sie erscheint den Menschen am Tiefpunkt ihres Lebens, und nur die Erwählten spüren ihren Blick. Sie heben den Kopf, und plötzlich steht die Zeugin vor ihnen. Angeblich streckt sie dann die Arme aus und sagt: Nimm meine Hand! Ich war so einsam!" Natürlich ist dies nur eine Legende, doch Hoffmann ist sich sicher, Melmoth schon einmal begegnet zu sein. Damals zur Zeit des zweiten Weltkrieges in einem tschechoslowakischen Dorf, am östlichen Ufer der Eger. Heute lebt er in Prag und hat seine Schuld, seine Geschichte und Begegnung mit der düsteren Frau als Manuskript verfasst und bereits mehrfach überarbeitet. Nach dem plötzlichen Tod Hoffmanns gelangt Helen Franklin über Umwege an eben dieses Dokument. Sie ist zweiundvierzig Jahre alt und lebt hier seit einigen Jahren im selbst auferlegten Exil, denn auch sie hat ihre eigene, dunkle Vergangenheit. Mit Hoffmanns Manuskript über seine Kindheit, geprägt von Neid, Missgunst und den auflehnenden Wirrungen des Krieges, öffnen sich zahlreiche, weitere Abgründe. Berichte, Briefe, Tagebucheinträge, die von Melmoths Existenz berichten und ihre eigenen Erlebnisse greifen um sich. Sie fühlt sich verfolgt und ist sich sicher, Melmoth wird auch sie holen, aber dann...

"Wer außer mir wird von deiner Bosheit erfahren? Wer außer mir hat gesehen, was in deinem Herzen ist? Was soll aus dir werden, [...] wenn dei anderen davon erfahren? Wenn sie es sehen?" "Dann bin ich also verdammt", sagte ich. "Verdammt? Oh ja, du bist verdammt! [...] Erkennst du denn nicht, welche Strafe dich erwartet?"

Sarah Perry nimmt uns dieses Mal also mit nach Prag, einem sehr geschichtsträchtigem Ort. Ihre Hauptprotagonistin kommt ursprünglich aus Essex und hat sich über einige Umwege hier eingefunden. Und da ist sie wieder: die Verbindung zu ihrem Buch "Die Schlange von Essex", einer Geschichte in der die Wissenschaft und die Kirche aufeinandertreffen und dem Unheil in Form einer Schlange, die im Moor ihr Unwesen treibt, auf Spurensuche geht. In ihrem neuen Werk ist es nun die Legende einer schwarz gekleideten Frau, die Verdammte, die Zeugin des Unheils. Und gerade nach den ersten Zeilen befindet man sich als Leser erneut in dieser sehr mystischen, poetischen Welt, mit der Perry bereits in ihrem vorherigen Roman begeistern konnte. Doch dann wird es nach und nach tatsächlich etwas viel. "Melmoth" ist eher geprägt von unterschiedlichen Geschichten und Erinnerungen und weniger durch die im Klappentext versprochene Handlung und Hinweissuche. Und dabei meine ich nicht nur 'Geschichten' sondern gefühlt sind es beinahe schon eigenständige Buchanfänge oder Kurzfassungen, die in dieser Kombination einfach zu viel abverlangen. Mir z.B. hätte bereits die Geschichte von Hoffmann, die etwa ein Drittel des Buchs ausmacht voll und ganz gereicht, aber es gibt eben auch noch Briefe und weitere Fragmente, die von der Existenz Melmoths zollen und dann ist da auch noch Helens Vergangenheit, die ein weiteres Feld in diesem eher bunten Sammelsurium öffnet. Insgesamt ist es daher ein eher wuchtig daherkommendes Werk, das auch den Leser sehr in Beschlag nimmt und fordert, ihm teilweise sogar zu viel abverlangt. Und auch wenn im Nachhinein gerade dies so faszinierend ist, so enttäuscht ist man dann von der eigentlichen, mangelnden gegenwärtigen Handlung. Für mich ist es eine Mischung aus einer Legende, einer Juden- und Kriegsgeschichte, leicht poetisch, leicht verwirrend. Teilweise hat es mich an zahlreiche andere Bücher erinnert, die Perry vielleicht als Inspiration genutzt hat und dann musste ich tatsächlich sehr häufig an "Der Vogelgott" von Susanne Röckel denken, in dem es auch um eine ominös, angsteinflößende Gestalt in Form eines Vogels ging - mehr verwirrend, beklemmend, aufwühlend, als verständlich und nachvollziehbar. Dohlen kündigen in Perrys Roman das Unheil an, es könnte genauso gut eine Anlehnung an Hitchcocks "Die Vögel" sein und doch ist es in dieser Form sehr speziell und eigenartig.
Direkt nach der Lektüre war ich ausgelaugt und konnte dem Roman gar nicht so viel abgewinnen, doch mit der Zeit finde ich ihn mehr und mehr faszinierend. Es ist die Geschichte in der Geschichte, neben der Geschichte und doch ist alles eben jene Geschichte, die den Leser in Beschlag nimmt, stellenweise vielleicht enttäuscht, fraglich zurücklässt und dennoch sehr fordert. An einigen Stellen wendet sich das Buch direkt an den Leser und an anderen ist es einfach nur eine weitere Erzählung, die eben mehr überfordert, als tatsächlich nützlich ist. Von daher ist es von mir eine vorsichtige Empfehlung und doch hätte ich hier deutlich mehr erwartet.

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Veröffentlicht am 12.10.2019

Düster und tiefgründig

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Im Leben von Helen geschehen seltsame Dinge:

Die junge Frau, die ein enthaltsames, zurückgezogenes Leben in Prag führt hat nur wenige Freunde. Als einer dieser Freunde ein seltsames Manuskript erbt, beginnt ...

Im Leben von Helen geschehen seltsame Dinge:

Die junge Frau, die ein enthaltsames, zurückgezogenes Leben in Prag führt hat nur wenige Freunde. Als einer dieser Freunde ein seltsames Manuskript erbt, beginnt dieser Text auch ihr Leben zu beeinflussen. Und so hört sie zum ersten Mal von Melmoth, der Zeugin...

Sarah Perry hat mit diesem Buch einen Schauerroman geschrieben, der mit vielen seiner mysteriösen Elemente und vor allem seinem Schreibstil stark an alte Größen des Genres wie Bram Stoker erinnert. Die Atmosphäre packt einen schnell und lässt nicht mehr los, man kann den Nebel in den Straßen Prags fast auf der Haut spüren.

Aber Melmoth begeistert mich nicht nur aufgrund der Stimmung. Sarah Perry hat eine sprachliche Kunstfertigkeit, die ihre Bücher zu einem besonderen Stück Literatur machen. Ihre Bücher lassen sich vielleicht nicht leicht lesen, man muss ihnen Raum und Zeit zum Wirken geben; sie verlangen die ganze Aufmerksamkeit des Lesers. Aber dafür treffen sie tief und wirken beinahe hypnotisierend.

Abgesehen von ihrem literarischen Unterhaltungswert schaffen sie es aber auch, zum Nachdenken anzuregen. Melmoth, die Zeugin, steht für die Verantwortung aller Menschen, bei Untaten, seien sie klein oder groß, nicht wegzusehen oder untätig zu bleiben. Und vor allem sollen wir uns erinnern, an alle Opfer vergangener Auseinandersetzungen.

"Nein, Thea, es gibt keine Melmoth, niemand beobachtet uns. Wir sind ganz allein, deswegen müssen wir tun, was Melmoth tun würde: Wir müssen hinsehen und bezeugen, was nicht in Vergessenheit geraten darf."

Ich befürchte, dass es "Melmoth" nicht leicht haben wird, Bewunderer zu finden. Dafür wirkt es manchmal zu sperrig und zu düster. Aber wenn man ihm die Chance gibt zu beeindrucken, wird es seine ganze Pracht entfalten.

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