Sehr angenehm überrascht!
Ach, was ist das für ein schönes Gefühl, wenn man von einem Buch eigentlich nicht viel erwartet, es sogar eher mit einer gewissen Skepsis beginnt und dann so angenehm positiv überrascht wird! Ich muss ...
Ach, was ist das für ein schönes Gefühl, wenn man von einem Buch eigentlich nicht viel erwartet, es sogar eher mit einer gewissen Skepsis beginnt und dann so angenehm positiv überrascht wird! Ich muss zugeben, ich hatte durchaus Bedenken: Eine Drehbuchautorin, die sonst Stoffe für Schweiger- und Schweighöferkomödien schreibt? Und sich jetzt so eines ernsten Themas annimmt? Humor ist bekanntlich sehr subjektiv, und besagte Komödien treffen sonst eher nicht so meinen Geschmack - kann das gut gehen mit mir und diesem Buch hier? Oh ja, und wie! Frau Decker, ich muss aufrichtig Abbitte leisten.
Das vorliegende Werk ist sehr an die eigene Lebens- und Leidensgeschichte der Autorin angelehnt, aber sie betont, dass es sich um kein autobiografisches Werk handelt. Die äußeren Fakten zumindest stimmen: Sowohl Anika Decker als auch die Protagonistin Rahel Wald sind Drehbuchautorinnen, die den Durchbruch geschafft haben und mit den Stars und Sternchen der deutschen Film- und Medienbranche arbeiten. Und beide vereint ein schwerer Schicksalsschlag: Eine durch einen Nierenstein ausgelöste Sepsis, die zu mehrfachem Organversagen, einen dadurch bedingtem künstlichen Koma, dem erfolgreichen Überlebenskampf und den mühevollen Weg zurück "auf die andere Seite" geführt hat.
Ob nun Autobiografie oder nicht, Frau Decker weiß, wovon sie spricht, und das merkt man dem Buch auf jeder Seite an. Rahel kämpft sich nicht nur einfach zurück in ihr altes, sondern in ein ganz neues Leben. Die Erkenntnisse, die sie aus ihrer Krankheit, der drohenden stetigen Verschlimmerung und der Wiedergenesung zieht, sind schonungslos offen und kompromisslos echt dargestellt. Dabei umschifft die Autorin gekonnt jegliche Klischees, die sich so einer Erzählung in den Weg stellen könnten: Rahel erlebt keine komplette "vom Saulus zum Paulus"-Verwandlung, wird also nicht vom oberflächlichen Zicklein zum altruistischen Schwan. Auch ist die Gesichte nicht klamaukig bis an der Grenze zum Hysterischen erzählt, sondern wählt ihre (oft eher makabren) Pointen und komischen Szenen und Charaktere mit Bedacht. Ansonsten tummeln sich hier sehr viele, sehr kluge Gedanken, und das alles sehr straight, sehr direkt erzählt. Ob die eher oberflächliche Filmwelt oder die Beziehungen zu ihrer Familie, ihrem Freund und anderen Menschen - Rahel analysiert und hinterfragt alles. Dabei spart sie keinesfalls an Selbstkritik, dieses Buch ist erstaunlich selbstreflektierend:
"Fast lustig, wenn ich daran denke, wie verzweifelt ich oft um die Liebe und Anerkennung irgendwelcher Idioten gekämpft habe. Wie anstrengend das war, permanent meine Unzulänglichkeit mit möglichst viel Aktionismus zu überdecken. Wie dumm ich doch immer war, zu denken, ich müsste Kunststücke vollführen und Eindruck schinden, um das zu bekommen, was ich offensichtlich schon immer hatte."
Daneben kommen auch die "größeren" Themen wie Sexismus in der Filmbranche und allgemein, Fallstricke des Gesundheitssystems, Klassenunterschiede oder der Umgang mit schwachen, kranken und/oder alten Menschen zur Sprache - fast immer nebenbei, nie mit erhobenen Zeigefinger, sodass Menschen, die sich für derartige Themen sonst vielleicht nicht interessieren, trotzdem ein paar wichtige Botschaften mit aufnehmen. Beispiel: Da geht es in einer Szene um Rahels Wunsch nach Intimität, vor der sie sich aufgrund ihres Gesundheitszustands fürchtet (Sex bei schwachem Herzen und so), und dann versteckt sich mitten in diesem scheinbar eher halbtiefen Gedanken ein Satz wie dieser:
"Die Altersheim sind voll von Menschen, deren Hand niemand hält und deren Kopf sich nirgendwo anlehnen darf."
Hach!
Und noch ein ganz besonderer Pluspunkt: Rahel hat einen besten Freund, Kevin, der wirklich sehr gut und lustig geschrieben ist - und der nicht schwul ist! Ich bin Frau Decker sehr dankbar, dass sie auf diese "best gay friend"-Stereotype verzichtet hat. Wie auch auf so viele andere Klischees.
Dies wird nicht mein liebster Roman des Jahres sein, dafür gibt es schon jetzt zu viel Konkurrenz - aber auf den Titel für positivste Überraschung des Jahres ist "Wir von der anderen Seite" ein ganz heißer Anwärter!
"Hier geht es aber nicht um mich, hier geht es darum, was Attila will. Sie wollen, dass der Star happy ist, und gehen davon aus, dass den Zuschauern die Geschichte egal ist, und sie sowieso ins Kino gehen. Ich halte die Zuschauer für nicht ganz so blöd."
Und die Lesenden zum Glück auch nicht - vielen Dank dafür!
Tl;dr: Äußerst authentischer Unterhaltungsroman mit ordentlich Tiefgang.