Cover-Bild Milchmann
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25,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Tropen
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 464
  • Ersterscheinung: 08.02.2020
  • ISBN: 9783608504682
Anna Burns

Milchmann

Roman | Gewinner Man Booker Prize 2018
Anna-Nina Kroll (Übersetzer)

»'Milchmann' ist stilistisch vollkommen unverwechselbar. In einem Moment beängstigend, dann wieder inspirierend. Überwältigend.«
Jury des Man Booker Prize

- SPIEGEL BESTSELLER
- Man Booker Prize 2018 (Fiction)
- National Book Critics Circle Award 2018 (Fiction)
- Orwell Prize 2019

»Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.« Mit Milchmann legte Anna Burns das literarische Großereignis des vergangenen Jahres vor. Ein Roman über den unerschrockenen Kampf einer jungen Frau um ein selbstbestimmtes Leben – weltweit gefeiert und ausgezeichnet mit dem Man Booker Prize.

Eine junge Frau zieht ungewollt die Aufmerksamkeit eines mächtigen und erschreckend älteren Mannes auf sich, Milchmann. Es ist das Letzte, was sie will. Hier, in dieser namenlosen Stadt, erweckt man besser niemandes Interesse. Und so versucht sie, alle in ihrem Umfeld über ihre Begegnungen mit dem Mann im Unklaren zu lassen. Doch Milchmann ist hartnäckig. Und als der Mann ihrer älteren Schwester herausfindet, in welcher Klemme sie steckt, fangen die Leute an zu reden. Plötzlich gilt sie als »interessant« – etwas, das sie immer vermeiden wollte. Hier ist es gefährlich, interessant zu sein.

Doch was kann sie noch tun, nun, da das Gerücht einmal in der Welt ist? Milchmann ist die Geschichte einer jungen Frau, die nach einem Weg für sich sucht – in einer Gesellschaft, die sich ihre eigenen dunklen Wahrheiten erfindet und in der jeglicher Fehltritt enorme Konsequenzen nach sich zieht.


Stimmen zur englischen Ausgabe

»Ein einzigartiger Blick auf Irland in Zeiten des Aufruhrs.«
Jury des Man Booker Prize

»Brillant. Die beste Booker-Preisträgerin seit Jahren.«
Metro

»Tiefgründige, ausdrucksstarke, eindringliche Prosa.«
Sunday Telegraph

»Auf ein solches Buch haben wir dreißig Jahre lang gewartet.«
Vogue

»Originell, witzig, entwaffnend schräg. Einzigartig.«
The Guardian

»Beeindruckend, wortstark, lustig.«
Irish Times

»Milkman blickt mit schwarzem Humor und jugendlicher Wut auf die Erwachsenenwelt und deren brutale Absurditäten.«
The New Yorker

»Dieser Roman knistert vor intellektueller Kraft.«
New Statesman

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 21.02.2020

Anna Burns - Milchmann

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In einer unbenannten Stadt zu einer undefinierten Zeit wird die Ich-Erzählerin zum Stalkingopfer des Milchmanns. Er ist nicht ihr Milchmann, eigentlich ist er niemandes Milchmann, aber unter diesem Namen ...

In einer unbenannten Stadt zu einer undefinierten Zeit wird die Ich-Erzählerin zum Stalkingopfer des Milchmanns. Er ist nicht ihr Milchmann, eigentlich ist er niemandes Milchmann, aber unter diesem Namen kennt man ihn. Plötzlich ist er da, verfolgt sie, weiß scheinbar alles über sie. Obwohl bei den ersten beiden Begegnungen nichts passiert, läuft die Gerüchteküche heiß: das 18-jährige Mädchen hat sich mit einem verheirateten Mann Anfang 40 eingelassen. Wie kann sie nur, Schande bringt sie über ihre Familie und sie ist ein schlechtes Vorbild für die kleinen Schwestern. Nicht nur das Gerede, sondern das zunehmend aufdringliche Verhalten des Mannes setzen der jungen und eigentlich unabhängigen Frau mehr und mehr zu und sie kann sich kaum dagegen wehren, denn in der öffentlichen Meinung trägt sie die Schuld an ihrer Situation.

Anna Burns Roman hat 2018 den renommierten Man Booker Prize erhalten. Die Jury begründete ihre Entscheidung mit Burns‘ außergewöhnlichen Erzählweise, in der sie eine Stadt im Kriegszustand schildert, dem Hintergrund, vor welchem die Protagonistin erwachsen wird, die sozialen Spannungen der oppositionellen Gruppen erlebt und zum Opfer sexueller Bedrängung wird. Auch Burns Humor wird hervorgehoben - wie auch von vielen Kritikern - dies ist jedoch völlig an mir vorbeigegangen, humorvoll fand ich wenig, ganz im Gegenteil.

Der Milchmann, der gar keiner ist, ist die einzige Figur, die einen Namen erhält, alle anderen werden über den Verwandtschaftsgrad identifiziert. Das Geschilderte könnte jedem passieren, zumindest jedem in Belfast zu Zeiten der Troubles. Auch wenn die Stadt nicht namentlich genannt wird, geht doch eindeutig aus dem Text hervor, dass es sich hier um den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten und der englischen Besatzungsmacht handelt. Der Verlauf der Front ist geografisch wie sozial klar erkennbar und nur gelegentlich darf die Grenze überschritten und die politischen Auseinandersetzungen vergessen werden.

Gewalt ist omnipräsent im Leben der Erzählerin und so ist sie über Prügel, die jemand bezieht, ebenso wenig verwundert wie über die Waffe, die man ihr an die Brust hält oder die Drohung, dass ihr Liebhaber durch eine Autobombe getötet werden könnte. In jeder Familie gibt es Opfer des Konflikts zu beklagen, Märtyrer, denen man huldigt. Aber die Gewalt ist anders als an anderen Orten:

„Gewöhnliche Morde waren unheimlich, unbegreiflich, genau die Morde, die hier nicht passierten. Die Leute wussten nicht, wie sie so etwas beurteilen, wie sie es einordnen, wie sie einen Diskurs darüber anfangen sollten, weil es hier eben nur politische Morde gab. ‚Politisch‘ deckte dabei natürlich alles ab, was im weitesten Sinne mit der Grenze zu tun hatte.“

Der Alltag wird von den Unruhen bestimmt und ebenso wie jeder Bürger eine klare Position vertritt, die qua Geburt festgelegt ist, kann er sich auch nicht entziehen.

„Schlussendlich gab man von Staatsseite zu, dass man bei der Verfolgung der richtigen Leute versehentlich ein paar falsche abgeschossen habe, dass Fehler gemacht worden seien, was bedauerlich sei, aber man müsse die Vergangenheit hinter sich bringen, und es habe keinen Zweck, darauf herumzureiten.“

Das Vertrauen in den Staat und staatliche Institutionen könnte kaum geringer sein, nicht einmal medizinisch notwendige Versorgung nehmen die Menschen aus Sorge vor möglichen Folgen in Anspruch. Selbst private Angelegenheiten wie das Stalking des Milchmanns wird zur politischen Angelegenheit.

Der Roman ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Der Verzicht auf Namen irritiert zunächst, macht in der Gesamtschau jedoch Sinn. Die Perspektive der Protagonistin ist zwar begrenzt, verdeutlicht aber umso mehr, wie sie unschuldig zum Opfer wird und keinerlei Möglichkeit hat, sich zu wehren und wie wenig Glauben ihr selbst ihre eigene Familie entgegenbringt.

Der Kontext der Handlung, eine geteilte Stadt, in der jeder permanent in Alarmbereitschaft ist und der Tod normaler Bestandteil des Alltags ist, ist kaum vorstellbar, aber wenn auch in Nordirland glücklicherweise nicht mehr Realität, doch an vielen anderen Orten die Lebenssituation vieler Menschen, die sich irgendwie damit arrangieren.

Man muss sich auf den Roman einlassen und einlesen, keine Geschichte, in der man sich direkt zurechtfindet, aber unter der Oberfläche mit vielen interessanten Aspekten, die zum Nachdenken anregen.

Veröffentlicht am 21.02.2020

Eindringlich - und anstrengend

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Schon der Titel verrät, dass es hier nicht um einen 08/15-Roman geht.
»Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, ...


Schon der Titel verrät, dass es hier nicht um einen 08/15-Roman geht.
»Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb. Er wurde von einem staatlichen Mordkommando erschossen, und der Tod dieses Mannes war mir herzlich egal.« So beginnt der Roman, der u.a. mit dem Man Booker Prize 2018 ausgezeichnet wurde.
Stilistisch ist der Roman eine echte Herausforderung. Ellenlange Sätze, Wortneuschöpfungen wie der ,,Vielleicht-Freund“ oder die Betitelung der Brüder und Schwestern mit ,,Ältere Schwester“ oder Bruder 1 sind originell, witzig, weisen aber auch auf eine gewollte Anonymisierung hin.
Inhaltlich geht es um eine junge Frau, die, vermutlich in Belfast in den 70er/80er Jahren, auf der richtigen Seite der Straße, auf der richtigen Seite des Meeres lebt, aber Probleme damit hat, sich ihrer Umgebung anzupassen. Als intellektuelle, lese- und sportbegeisterte junge Frau passt sie schlecht in die von ungeschriebenen Gesetzen und Zwängen bestimmte Gesellschaft.
Mit ihrem ,,Vielleicht-Freund“ führt sie eine gute Beziehung, ohne ihn allerdings jemals ihrer Familie vorzustellen, geschweige denn sich von ihm heimfahren zu lassen. Dafür wohnt er im falschen Viertel. Als die namenlose Erzählerin das Interesse des ,,Milchmanns“ auf sich zieht, eines einflussreichen Mannes, versucht sie zwar, dieses Interesse abzuweisen und Begegnungen mit ihm zu vermeiden. Allerdings vermag sie auch nichts gegen die schnell kursierenden Gerüchte, die ihr eine Affäre mit dem älteren, verheirateten Mann andichten.
Nur sehr mühsam schafft es die Ich-Erzählerin, ihren Weg hin zur Selbstbestimmung zu finden. Dieses Ringen spiegelt sich im Roman auch in relativer Handlungsarmut wider. Umso ausführlicher und eindringlicher dagegen legt die Ich-Erzählerin ihre Gedanken, Zweifel und Emotionen dar, gespickt mit schwarzen Humor und Absurditäten. So fühlt man sich zwar sprachlich gut unterhalten, wünscht sich des öfteren allerdings etwas mehr Handlung.
Auch ist mal stellenweise versucht, die Ich-Erzählerin zu schütteln und sie dazu zu bringen, sich ihrem ,,Vielleicht-Freund“ oder jemand anderem zu öffnen und ihren Kampf um Selbstbestimmung aktiver zu führen.

Veröffentlicht am 18.02.2020

Entlarvend. Fordernd. Außergewöhnlich.

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2018 ging der Man Booker Prize für Belletristik an „Milkman“, und Anna Burns war damit die erste Preisträgerin aus Nordirland. Die Handlung des Romans ist dortverortet, der zeitliche Rahmen nicht näher ...

2018 ging der Man Booker Prize für Belletristik an „Milkman“, und Anna Burns war damit die erste Preisträgerin aus Nordirland. Die Handlung des Romans ist dortverortet, der zeitliche Rahmen nicht näher bestimmt. Man weiß nur, dass sich die Ereignisse während des Bürgerkriegs, der „Troubles“, abgespielt haben, einer Zeit geprägt von Gewalt und Misstrauen.

Schießereien, Autobomben und Molotow-Cocktails, letztere gerne bis zu ihrem Einsatz in Milchkisten deponiert. Eine Zeit die Ängste schürt, Unsicherheit verbreitet. Nur nicht auffallen ist die Parole, die auch die achtzehnjährige Erzählerin verinnerlicht hat, denn gar zu schnell gerät man in das Visier, wird selbst zum Ziel, zum Täter oder zum Kollateralschaden. Kein einfaches Leben für die Heranwachsenden, die sich aus diesen ganzen Verwicklungen raushalten wollen.

„Milchmann“ ist keine einfache Lektüre. Es irritiert, dass sämtliche Personen namenlos sind und lediglich nach ihren Beziehungen zur Protagonisten bezeichnet werden. Irgendwer McIrgendwas, Schwager, Schwester und natürlich Milchmann. Letzterer ein unangenehmer Zeitgenosse, dessen obsessives Verhalten nicht nur die Erzählerin verunsichert. Ein Stalker, der immer dann auftaucht, wenn man es am wenigsten erwartet, permanent präsent ist. Latent bedrohlich.

Dieses Empfinden wird durch die verwendete Erzähltechnik verstärkt, die darauf verzichtet, eine durchgehende Handlung zu entwickeln, zu beschreiben und zu erklären. Es ist quasi ein innerer Monolog, dem wir hier folgen. Die Gedanken und Sichtweisen der Erzählerin, die uns Innen- und Außenwelt präsentiert. Nicht gradlinig sondern sprunghaft und willkürlich.

Entlarvend. Fordernd. Außergewöhnlich. Ein Roman, für den man ein gewisses Maß an Leseerfahrung mitbringen sollte.

Veröffentlicht am 16.02.2020

Der Himmel ist bunt

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"Milchmann" objektiv zu bewerten, fällt mir wahnsinnig schwer. Ginge es nach der reinen Lektüreerfahrung, würde ich es schlecht bewerten, denn es ist es ein unendlich anstrengendes und zähflüssiges ...

"Milchmann" objektiv zu bewerten, fällt mir wahnsinnig schwer. Ginge es nach der reinen Lektüreerfahrung, würde ich es schlecht bewerten, denn es ist es ein unendlich anstrengendes und zähflüssiges Buch. Ein Buch, das man mehrmals abbrechen möchte, es in die Ecke schleudern um es nie wieder zu öffnen. Und dann öffnet man es doch wieder und wird hineingezogen in eine Literatur voller Sprachgewalt und eine fiktionale Welt voller buchstäblicher Gewalt. "Milchmann" ist nämlich auch auf seine Art brilliant, gesellschaftskritisch, politisch, wagemutig, experimentell und unvergleichlich einzigartig. Ob es den renommierten Booker-Preis 2018 zurecht gewonnen hat? Ich kann es nicht beurteilen, da ich die Mitbewerber nicht gelesen habe. Die Auszeichnung hat aber sicher nicht nur politische Hintergründe.

Die Erzählweise ist speziell. Stellenweise entfaltet sie eine gewisse Sogwirkung, meistens ist sie aber ermüdend, lamentierend, enervierend. Der retrospektive innere Monolog der Ich-Erzählerin, der vorwiegend aus Litanei-artigen, teilweise halbseitigen Mammutsätzen und einer sperrigen Syntax besteht, verlangt dem Leser einiges ab, vor allem aber ein hohes Maß an Konzentration. Der Roman ist per se eine einzige Digression. Vom eigentlichen Thema, nämlich dem Stalking der Ich-Erzählerin durch den Milchmann, wird ständig abgeschweift, obwohl es am Anfang vorwiegend um das Thema geht - was gleichermaßen verwirrend ist.

Die Handlung ist denkbar dünn wie einfach: Eine 18-jährige Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, lebt in einer ungenannten Stadt (Belfast in den 1970er Jahren), in der Bespitzelung, Gewalt, ziviler Ungehorsam und Terror alltäglich sind. Sie ist das mittlere Kind und eine von sehr vielen Töchtern einer 11-köpfigen Familie , wobei ihr Vater - der an einer psychischen Krankheit litt - und einer ihrer Brüder bereits verstorben sind (Letzterer aufgrund eines Anschlags).
Die Ich-Erzählerin macht sich verdächtig, weil sie scheinbar subversive Verhaltensweisen an den Tag legt, wie im Gehen zu lesen. Das ist ihre Art des Eskapismus, genau wie ihre Lektürewahl, die moderne Literatur ausklammert und die des 19. Jahrhunderts bevorzugt. Dieses unkonforme, unpolitische Verhalten ruft den ominösen Milchmann auf den Plan, der die sie bis zu seinem gewaltsamen Tod stalken wird. Die Bedrohung, die von Milchmann ausgeht, ist vage, subtiles Stalking, immer in der Schwebe und Psychoterror pur.
Das Stalking wiederum führt zu einer verhängnisvollen Spirale der Verdächtigungen, zu einer Hexenjagd, in der die Ich-Erzählerin zur Zielscheibe wird. Anna Burns zeigt hier gewissermaßen eine verkehrte Welt auf: Ein Verhalten wie das der Ich-Erzählerin, obwohl harmlos, erregt unangenehme Aufmerksamkeit. Ein guter bzw. “normaler” und unpolitischer Mensch zu sein ist verdächtig und subversiv, Mord, Gewaltexzesse und Erfahrungen des sinnlosen Todes hingegen alltäglich und Teil des Straßenbildes.

Anna Burns legt den Nordirlandkonflikt unters Messer ihrer Protagonistin, die ihn mit schmerzhafter Klarheit und Detailliertheit seziert. Das Sujet ist sicher für jeden Außenstehenden gewöhnungsbedürftig. Die Tatsache, dass man in ständiger Bedrohung lebt, nur weil man der falschen Religion angehört - ob man sie jetzt praktiziert oder nicht - ist harte Realität. In dieser Gesellschaft, in diesem Land, in dieser Stadt, in der die Ich-Erzählerin vor sich hin existiert, möchte niemand leben. Ich habe noch nie so oft das Wort "Autobombe" in einem einzigen Text gelesen.

Kann eine Geschichte funktionieren, in der niemand, der darin vorkommt, einen echten Namen hat? Ja, kann sie. Nach einer gewissen Lesezeit hat man sich daran gewöhnt und es fühlt sich völlig natürlich an. Namen werden zu Platzhaltern in einer Gesellschaft, in der in Schubladen gedacht wird: Irgendwer Mc Irgendwas, Vielleicht-Freund, Themenfrauen, Tablettenmädchen, Mittelschwester, Atomjunge, Milchmann. Dennoch: Als dann neben dem Milchmann auch noch der "Echte Milchmann" auftaucht, wird es langsam anstrengend, die Figuren voneinander zu unterscheiden. Die kleinen Schwestern der Ich-Erzählerin ("Mittelschwester"), drei an der Zahl und alle unter zehn Jahren alt, sind sowieso ein Kollektiv. Sie zeichnen sich alle durch Hochbegabung und nicht-altersentsprechende Intellektualität und Belesenheit aus.
Der Tenor der ganzen Anonymität: Alle sind austauschbar und besondere Merkmale gehören nicht in diese Gesellschaft, die nichts mehr scheut als Individualität. Namen verleihen Identität und Einzigartigkeit - etwas das hier nicht erwünscht ist.

Allerdings: Wo ist eigentlich der Humor? Ist es ein spezieller nordirischer Insider-Humor, den Außenstehende einfach nicht begreifen oder ein solcher, der in der Übersetzung verloren geht? Geschmunzelt habe ich vielleicht an einer oder zwei Stellen. Alles in allem aber ist das Buch ein zutiefst ernstes, wenig erfreuliches, oft deprimierendes.

Der Roman ist auch ein feministisches Manifest. Es geht mitunter darum, wie Frauen sich - weitgehend alleine - ihre Welt erschaffen und wie Männer versuchen, sie wieder einzureißen bzw. in ihren Grundfesten zu erschüttern. Männer (symbolisch: der Milchmann) bedrohen mit ihren Gewaltfantasien, ihrer Doktrin, ihrem Stalking und ihrem Machtstreben die komplexe (der Himmel ist bunt), differenzierte, vielfarbige, literarisch-künstlerische Existenz des Weiblichen (symbolisch: die Ich-Erzählerin).

"Milchmann" ist innovativ, ein literarisches Experiment, prädestiniert um zu polarisieren.
Dieses Buch ist eine Challenge, eine literarische Tour-de-Force, eine Bergbesteigung, ähnlich wie "Ulysses" von James Joyce. Man hat nach der Lektüre das Gefühl, einen literarischen Berg bestiegen zu haben, zufrieden, dass man den Aufstieg geschafft hat, aber auch froh ihn wieder verlassen zu dürfen.

“Milchmann” ist keine leichte Lektüre, sondern eine, die dem Leser ein hohes Maß an Konzentration und Bereitschaft für sprachliche Komplexität abverlangt. Wenn man sich aber darauf einlassen möchte, eröffnet das Buch manchem Leser vielleicht eine neue Sicht auf die Dinge, das Schöne hinter dem Grausamen und die vielen bunten Farben des Himmels, der alles andere als nur blau ist.

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