Aufrüttelnder und mutmachender Roman gegen das Vergessen und gefährliche Passivität
Sulzburg, Südbaden, 1940:
Unfassbar und erschreckend gestaltet sich die Situation für die kleine Lily auf dem Marktplatz, die zusammen mit ihren Eltern und anderen Juden dort verharren muss, bis die Deportation ...
Sulzburg, Südbaden, 1940:
Unfassbar und erschreckend gestaltet sich die Situation für die kleine Lily auf dem Marktplatz, die zusammen mit ihren Eltern und anderen Juden dort verharren muss, bis die Deportation mit dem Zug zum Abschluss gebracht wird. Vor den Augen ehemaliger Nachbarn und Bekannter wird die Familie Blum schließlich mit den anderen Menschen abgeführt- keiner greift ein, alle schauen nur. Bis auf die kleine Agnes; Lilys beste Freundin, die beharrlich zum Zug läuft, um noch ein paar letzte Worte mit Lily sprechen zu können.
Es gelingt ihnen, eine Fotografie zu teilen, auf der beide abgebildet sind und sie schwören sich, das Foto, eines Tages wieder zusammenzuführen.
Doch seitdem hört und sieht Agnes nie wieder etwas von ihrer Freundin. Gerüchte besagen, Lily wäre nicht mehr am Leben…
Deutschland, 1965:
Agnes ist es gelungen, Karriere beim Radio zu machen. Doch insgeheim langweilen sie die Themen, die sich lediglich um Küche, Land und Leute drehen. Heiße politische Eisen darf sie dagegen nicht anfassen. Als ihr Chef an sie herantritt, mit einer unglaublichen Geschichte um eine Stadt in Frankreich, deren Einwohner während des Krieges über 1500 jüdische Flüchtlinge beherbergten und versteckten, ist Agnes sofort Feuer und Flamme und beginnt gleich mit den Recherchen. Sie muss strikte Geheimhaltung an den Tag legen, da für die Leitung im Sender kritische Berichterstattung ein rotes Tuch ist. Vor allem wegen des passiven Verhaltens, das viele Deutschen während des Holocaust spielten. Und selbst jetzt noch bekleiden hochrangige Täter von einst, hohe Posten im Land.
Dazu wird Agnes, als Frau, von vielen Kollegen sowieso nicht ernst genommen. Dabei ist sie Journalistin mit Leid und Seele.
So begibt sie sich im Auftrage ihres Chefs nach Dieulefit und trifft dort die Leiterin einer Schule, in der jüdische Kinder, während des Krieges, unterrichtet wurden.
Agnes fällt aus allen Wolken, als sie dort erfährt, dass Lily ebenfalls Schülerin in Beauvallon war. Doch wie kann das sein, wenn Gerüchte besagen, sie wäre bereits vor vielen Jahren im Internierungslager verstorben?
Erneut widmet sich Bettina Storks einem wichtigen und denkwürdigen Stück Geschichte in ihrem aktuellen Roman „Die Kinder von Beauvallon“. Bereits in ihrem historischen Roman „Das geheime Lächeln“, erwähnte die Autorin das Wunder von Dieulefit, von dem ich zuvor noch nie etwas erfahren hatte. Man muss sich einmal vorstellen, dass es, in einer Zeit der Verfolgung, Grausamkeit und Denunziation, ein ganzer Ort schaffte, jüdische Verfolgte in solch großer Zahl zu verstecken und alle hielten dicht!
Was für die Menschen in Dieulefit eine Selbstverständlichkeit war; sich seine Menschlichkeit zu bewahren, gelang andernorts leider so gut wie nie. Umso wichtiger ist es, diese Geschichte zu erzählen.
Dargeboten wird der Roman auf zwei Zeitebenen. Zum einen begleiten wir die kleine Lily während des Krieges, zum anderen dürfen wir der bereits erwachsenen Agnes über die Schulter schauen, der das große Vergessen und die Ignoranz der Kriegsgeneration ein Gräuel sind.
Doch selbst im Jahre 1965, ist es noch schwierig für eine Frau, sich in der Männerwelt zu behaupten. Man fühlt mit der jungen Frau mit und begreift ihre Frustration.
Lilys seelische Narben, ob ihrer Erlebnisse und ihres Verlustes sind natürlich ebenso nachvollziehbar.
Ich fand hier besonders erwähnenswert, wie Bettina Storks, ihren Romanheldinnen, mit sensibler Hand, ergreifende Dialoge auf den Leib geschrieben hat, die die Situation unter die Haut gehend schildert und greifbar macht.
Es ist ein Roman geworden, der aufrüttelt, berührt und noch lange später in dem Leser nachhallt. Aber vor allem ist es eine mutmachende Geschichte- eine Geschichte gegen das Schweigen und gefährliche Passivität.
Bettina Storks Schreibstil ist wie man es gewohnt ist eingängig, geht unter die Haut und viele eingestreute Zitate regen zusätzlich zum Nachdenken an.