Cover-Bild Guten Morgen, Genosse Elefant
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20,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Lübbe Audio
  • Themenbereich: Biografien, Literatur, Literaturwissenschaft
  • Genre: Romane & Erzählungen / Erzählende Literatur
  • Ersterscheinung: 31.08.2018
  • ISBN: 9783785759189
Christopher Wilson

Guten Morgen, Genosse Elefant

Matthias Koeberlin (Sprecher)

»Mein Name ist Juri Zipit. Ich bin zwölfeinhalb Jahre alt und lebe in einer Personalwohnung im Hauptstadtzoo gleich gegenüber vom Seelöwenteich hinter der Bisonweide, direkt neben dem Elefantengehege. Mein Vater ist Zoodirektor. Ich möchte Ihnen erzählen, wie ich einmal ein paar Wochen im Zentrum der Macht verbracht habe. Es waren höchst vertrauliche Angelegenheiten und dubiose Ereignisse, die zu düsteren Geschehnissen führten. Geheimnisse versteckt in der Geschichte. Ich baue auf Ihr Schweigen. Außerdem will ich Sie beschützen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit. Also, psssst.«

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.08.2020

Beklemmend und anklagend

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Zuerst dachte ich es handelt sich um eine Beschreibung der stalinistischen Ära aus der Perspektive eines „tumben Tors“, eines Kindes das unschuldig mitten ins Machtzentrum Sowjetrusslands der fünfziger ...

Zuerst dachte ich es handelt sich um eine Beschreibung der stalinistischen Ära aus der Perspektive eines „tumben Tors“, eines Kindes das unschuldig mitten ins Machtzentrum Sowjetrusslands der fünfziger Jahre geworfen wird. Aber es ist viel mehr als das. Das Buch zeigt die ganze Schonungslosigkeit eines menschenverachtenden Regimes auf, in der sich die Potentaten gegenseitig verraten und zerfleischen, eines Regimes das selbst vor Kindern nicht halt macht. Sie werden gefoltert, verstümmelt, in den Kerker geworfen. Ein Regime dem Menschenleben nichts gelten, ganze Berufs- und Völkergruppen werden in den Gulag gesperrt oder hingerichtet, Hungersnot wird mit einem Achselzucken abgetan, solange der eigene Tisch reich gedeckt ist und der Wodka fließt.
Einziger Lichtblick: der stählerne Vater des Vaterlandes, die Sonne der Sowjetvölker, der Gärtner menschlichen Glücks, der Architekt der Freude, überlebt all seine Schlaganfälle und wird aber von „Bruhah“ (Beria) heimlich auf die Straße geworfen, wo er unter Pennern und Alkoholikern seine letzten Tage fristet, von einstiger Macht und Rache träumend. Wer liegt aber einbalsamiert im Sarg? Es ist einer der Doppelgänger Stalins, die nur ihres Aussehens wegen ein Leben im Verborgenen führen müssen und bei diversen öffentlichen Auftritten Stalins in Erscheinung treten. Bruhah (Beria) der sadistische Leiter des sowjetischen Geheimdienstes lässt es sich nicht nehmen, Juri, den etwas einfältig wirkenden aber hoch intelligenten Jungen persönlich die Nase zu brechen, einen Finger abzuschneiden, ihn in einer Zelle in der Lubjanka ohne Nahrung und Wasser fast verrotten zu lassen. Kleine Genugtuung: wenige Monate nach Stalins Tod wird Beria auch verhaftet und der Prozess gemacht. Onkel Kruschka im Buch ist in Wahrheit Stalins Nachfolger, Nikita Chruschtschow, der die von Beria begonnene Entstalinisierung massiv vorantrieb.
Auch die anderen im Buch genannten Potentaten gab es wirklich, gehörten zu Stalins Dunstkreis und haben Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.
Der einzige der Machthaber, der Juri vor Beria in Schutz nimmt nach Stalins Tod, ist Bulgirow, im echten Leben Nikolai Bulganin, späterer Ministerpräsident der UdSSR.
Der Titel des Buches ergibt sich aus einem Vergleich den Juri zwischen Stalin und Genossen Schango zieht, dem boshaften Elefant des Moskauer Zoos. „Wie der andere Genosse Elefant ist er jemand, der sich an seiner Rache freut“ (S. 238).
Das Titelbild ist zweideutig: ist es nur der rote Sowjetstern oder ist es auch gleichzeitig eine abgewandelte Halsgeige, das mittelalterliche Folterinstrument? Das Buch hinterlässt einen bitteren Geschmack. Juri überlebt. Aber wie? Er steht nun ganz alleine da. Er weiß nun, dass seine Mutter tot ist. In der Lubjanka lag er eine Zeitlang in einer Zelle, in der Nachbarzelle lag sein Vater. Sie verständigten sich durch Klopfzeichen, bis der Vater eines Tages zu schwach war, noch zu klopfen. Juri aber glaubt, sein Vater wurde fort gebracht und nun hofft er und wartet auf seine Rückkehr. Eine Rückkehr die immer unwahrscheinlicher wird.
Die Sprache ist zauberhaft: naiv, humorvoll aber durch ihre Bildhaftigkeit und unerwarteten Redewendungen stimmt sie uns nachdenklich, lässt uns oft erst im Nachhinein das ganze Ausmaß der erzählten Begebenheiten gewahr werden.
Doch trotz der Bitterkeit, das Buch ist faszinierend, es ist schön, es ist bittersüß. Und es ist vor allem sehr lesenswert, auch wenn man sich mit der Geschichte des stalinistischen Russland nicht auskennt.

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