Entschleunigung und Glückseligkeit für den Alltag
Auch einige Zeit nach der Lektüre des Romans fällt es mir noch immer schwer, meine Gedanken dazu zu sortieren. Vorweg: Für mich war der Roman großartig. Mit „Alte Sorten“ habe ich eine Geschichte über ...
Auch einige Zeit nach der Lektüre des Romans fällt es mir noch immer schwer, meine Gedanken dazu zu sortieren. Vorweg: Für mich war der Roman großartig. Mit „Alte Sorten“ habe ich eine Geschichte über eine Freundschaft zwischen zwei Frauen gelesen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Liss und Sally haben sich an einem Punkt in ihrem Leben gefunden, an dem sie die Hoffnung schon aufgegeben hatten. Beide gingen damit anders um – Liss war still und hat sich in Einsamkeit geflüchtet. Sally hingegen war laut und hat mit Wut auf alles und jeden reagiert. Beide Frauen waren in ihren Gedanken und Handlungen so authentisch, greifbar und einfach echt – ich mochte ihre Charaktere sofort. Mit Ecken und Kanten und einer Menge Fehler waren sie absolut liebenswürdig.
Mit viel Liebe zum Detail wurde im Roman eine Atmosphäre geschaffen, die in der heutigen Zeit entschleunigend und beruhigend gewirkt hat. Als Sally mit Liss auf dem Traktor saß, spürte ich als Leserin jedes Ruckeln unter dem Sitz. Ich spürte den Handlauf im Rücken, der gleichzeitig auch als Stütze dient. Ich roch die Wiesen, den Wald, spürte die Herbstsonne auf meiner Haut und sah die in Gold getauchte Landschaft bildlich vor mir. Auch als Sally mit den bloßen Händen Kartoffeln gegraben hat, habe ich die klumpige Erde an meinen Fingern gespürt, den modrigen Duft der Erde gerochen und dieses zufriedene Gefühl nach getaner Arbeit bekommen. Liss Hof, die urigen Dörfer, in denen die Zeit stillsteht, die Bewohner, die Weinberge – es war einfach wundervoll. Ewald Arenz hat es geschafft, diesem schlichten Alltagsleben einen Hauch von Romantik abzuverlangen. Ich jedenfalls kam ins Träumen und schweifte oft mit den Gedanken ab.
Die Geschichte der beiden Hauptpersonen und ihre Beziehung zueinander waren von sehr viel Respekt getragen. Zwischen Liss und Sally, die sich zufällig begegnen und daraufhin erst nebeneinander, dann gemeinsam leben, entwickelt sich eine einzigartige Freundschaft. Es hat sich wie ein Privileg angefühlt, als Leserin den Prozess begleiten zu dürfen. Liss hat mit wenigen Worten – dafür aber mit den richtigen – Sally auf einer Ebene angesprochen, zu der bisher niemand vorgedrungen war. Doch auch Sally mit ihrer ungestümen Art hat es geschafft, dass Liss durch mehrere Konfrontationen ihre Vergangenheit annimmt und nicht mehr nur abgestumpft in der Gegenwart lebt. Durchzogen war die Geschichte mit vielen inspirierenden Gedanken und Aussagen, fast schon Lebensweisheiten, die noch lange nachgehallt haben.
Dieses einmalige Zusammenspiel zwischen Unbefangenheit, Unaufdringlichkeit, dieser wunderschönen Atmosphäre, Ruhe und Gelassenheit macht „Alte Sorten“ für mich zu einem Roman, den man in der hektischen Zeit unbedingt gelesen haben muss. Man setzt sich mit dem Wesentlichen auseinander, mit Freundschaft, der Natur und den vielen anderen wunderbaren Beziehungen zwischen Menschen und hat einen großen Mehrwert davon.