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Veröffentlicht am 26.10.2016

Nach 19 Jahren geht es endlich weiter!

Drachenreiter 2. Die Feder eines Greifs
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Kurzmeinung:
Eine schöne Kindergeschichte mit viel Abenteuer, Phantasie und starken Charakteren. Aber auch als junggebliebener, erwachsener Leser hat man Spaß an den Beschreibungen und tollen Zitaten, ...

Kurzmeinung:
Eine schöne Kindergeschichte mit viel Abenteuer, Phantasie und starken Charakteren. Aber auch als junggebliebener, erwachsener Leser hat man Spaß an den Beschreibungen und tollen Zitaten, die man gern zweimal liest. Allerdings ist die Naturschutzbotschaft etwas zu dominant. 


Meine Meinung
Sooo lange musste wir auf eine Fortsetzung von Drachenreiter warten. Und was soll ich sagen -das warten hat sich gelohnt.Schon nach den ersten Seiten bin ich in meine Kindheit zurückversetzt worden.
Ich habe jedes Wort genossen; Funke ist wirklich eine begnadete Autorin und kann mit ihrer Sprache verzaubern und einen in magische Welten entführen, die einem dann so real erscheinen, als würde man schon jahrelang selbst dort leben. So ist es auch dieses Mal.  Dazu noch die wunderschönen Illustrationen. Ich bin wirklich begeistert und habe jede Seite verschlungen.

In diesem Buch trifft man natürlich die alten Bekannten, die wir im ersten Band kennen und lieben gelernt haben. Allen voran natürlich den Drachenreiter Ben und seinen Drachen Lung, aber auch die mürrische Kobolddame Schwefelfell und den schlauen Homunkulus Fliegenbein. 
Aber in "Die Feder eines Greifs" lernen wir natürlich auch neue Freunde kennen, die wir dann genauso schnell ins Herz schließen.  


Beim Lesen des Buches spürt man Funkes Liebe zur Natur in jeder Seite. Sei es, in den wunderschönen Beschreibungen, den feinen Illustrationen, oder in der Auswahl nachdenklich stimmender Zitate. Oder eben im Ansprechen wichtiger Themen, wie dem Artenschutz. 
Das macht an diesem Buch unter anderem den Reiz auch für Erwachsene aus. Denn leider sind Themen wie die das Aussterben von Tierarten und ihre Bedrohung durch Wilderer aktuell wie nie zuvor. Auch Kritik generell an der allzu unbekümmerte Lebensweise der Menschen klingt an. Menschen, die nicht genug an die begrenzen Ressourcen unseres Planeten denken und das sensible Gleichgewicht des Ökosystems als selbstverständlich ansehen. 
Allerdings nimmt diese Naturschutzbotschaft im Laufe der Geschichte dann für meinen Geschmack etwas überhand und drängt sich zu dominant in den Vordergrund. Eine etwas subtilere Behandlung des Themas hätte in die allgemeinen Stimmung der Geschichte vielleicht besser hineingepasst. Und man kann dem Leser dann schon zutrauen, seine eigenen Schlüsse zu ziehen und die Botschaften zu erkennen.



Auch andere Themen spielen eine Rolle, die ich besonders für Kinder gut ausgewählt finde. Es geht um Mut, Abenteuer, Loyalität und um Freundschaft, die trotz aller Unterschiede bestehen kann. Da sind zum Beispiel der kleine, ängstliche Homunkulus Fliegenbein und die mutige, draufgängerische Ratte Lola. Am Anfang sehen sie nur ihre offensichtlichen Unterschiede, doch dann werden sie sehr gute Freunde und schauen auf das, was wirklich zählt, nämlich das Herz. 

Mit einem Freund im Dunkeln zu gehen,
ist besser als allein im Licht. 
Helen Keller (S. 228) 


Auch die Beziehung zwischen Ben und Lung wird viel thematisiert. Sie sind sich beide extrem wichtig und vermissen sich sehr, wenn sich nicht zusammen sind. Dennoch findet Bens Leben  in MIMAMEIDR bei den Wiesengrunds statt und Lung wird weit weg am "Saum des Himmels" als Anführer gebraucht. Für Ben ist das wirklich sehr schwer und das wird im Buch auch deutlich, aber kinngerecht dargestellt. 

"[...] Ben saß da und fragte sich, wie man dem eigenen Herz beibringen konnte, zu lieben und dafür nicht mit Schmerz zu bezahlen. War es am Ende doch besser, niemanden zu brauchen und zu vermissen?" (S.94) 


Das Buch hat mich vor allem durch seine schönen Worte, magischen Orte und liebevoll gestalteten Charaktere überzeugen können. Es gab viele kleine Details, an denen man sich als Leser erfreuen konnte, wie zum Beispiel das die Ratte Lola sich angeblich Fliegenbeins Namen nicht merken kann und jedes mal eine andere Variante von "Homunkulus" verwendet, wenn sie mit ihm spricht. Wie "Humpelkuss" oder "Homklopus". Und das wird dann durch die ganze Geschichte gezogen und keine Variante gleicht der anderen. Das sind so kleine, liebevolle Details, die mich zum Lächeln gebracht haben. 


Aber mein persönliches Highlight der Funke Bücher sind ja die wunderschönen Illustrationen. Die verzaubern mich und lassen mich noch auf eine ganz andere Art in die Geschichte abtauchen. Auch hier gibt es wieder so viele schöne Details zu finden. Das wertet die ganze Geschichte gleich noch mal auf. 
Ich finde sowieso, es sollten viel mehr Bücher so schön illustriert werden. Da macht das Lesen gleich noch mehr Freude. 

"Die Feder eines Greifs" ist zwar die Fortsetzung von "Drachenreiter", lässt sich aber auch unabhängig davon lesen, da es in diesem Buch eine eigenständige Geschichte gibt und alle Charaktere gut eingeführt werden. 
Aber ganz ehrlich, wer noch nicht das erste Abenteuer von Ben und Lung gelesen hat, der sollte das so oder so schnellstens nachholen! ;) 

Fazit
Mit "Drachenreiter" bin ich aufgewachsen und habe die Geschichte als Kind geliebt. Umso mehr freut es mich, dass ich jetzt die Fortsetzung lesen durfte und noch mal Kind sein konnte.
Doch auch als Erwachsene hat dieses Buch seinen Reiz und hinter den schönen Worten klingen wichtige Themen wie Naturschutz und das Artensterben an, auch wenn sie im Laufe der Geschichte etwas überhand nehmen. 
Ich würde diese magische Geschichte voller Mut, Abenteuer und Freundschaft dennoch weiterempfehlen. Eine spannende Lektüre für Kinder und nostalgische Erwachsene, die gern in phantastischen Welten abtauchen. 

Veröffentlicht am 13.10.2016

Ein Buch, das bewegt und noch lange nachhallt.

Bis ans Ende der Geschichte
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Zum Buch:

4 Personen stehen bei diesem Buch im Vordergrund.
Da ist einmal die junge Sage, die aus einer jüdischen Familie stammt. Seit einem Unfall, bei dem ihre Mutter ums Leben kam, lebt sie sehr ...

Zum Buch:

4 Personen stehen bei diesem Buch im Vordergrund.
Da ist einmal die junge Sage, die aus einer jüdischen Familie stammt. Seit einem Unfall, bei dem ihre Mutter ums Leben kam, lebt sie sehr zurückgezogen und lässt sich kaum auf andere Menschen ein, versucht den Kontakt so weit es geht zu vermeiden. Sie arbeitet als Bäckerin, weil es ihr erlaubt, nachts alleine zu arbeiten und niemanden sehen zu müssen.
Sie trägt einiges an emotionalem Ballast mit sich herum, hat den Unfall und den Tod ihrer Mutter nicht verarbeitet, gibt sich selbst die Schuld. Sie denkt von sich selbst, sie sei es nicht wert, geliebt zu werden, dürfe nicht glücklich werden und lässt sich deswegen auf eine Affäre mit einem verheirateten Mann ein.

Dann gibt es noch den 90-jährigen Josef. Er lebt schon seit langer Zeit in den USA und war in seinem Städtchen eine Stütze der Gesellschaft. Er trainierte das Footballteam, unterrichtet an der Schule und zeigt auch sonst viel ehrenamtliches Engagement.
Er trifft Sage in der Trauergruppe und sie finden schnell einen Draht zueinander. Die sonst so verschlossene junge Frau kann sich ihm öffnen.
Doch dann stellt sich heraus, dass er Sage vielleicht doch nicht so zufällig getroffen hat. Josef beichtet Sage, dass er im zweiten Weltkrieg für die Nazis gekämpft hat. Und nicht nur das, er war sogar SS Soldat und Aufseher im KZ Auschwitz. Für Sage ein riesiger Schock, da ihre Großmutter Überlebende des Holocaust ist und selbst in diesem Konzentrationslager war.
Josef bittet Sage darum, ihr zu verzeihen und ihm "beim Sterben zu helfen", da er nicht länger mit seiner Schuld leben kann.

Minka ist Sages Großmutter. Sie verbringt eine unbeschwerte Kindheit in einem polnischen Dorf und hat Ambitionen Schriftstellerin zu werden und später mit ihrer besten Freundin in London zu wohnen. Doch dann bricht der zweite Weltkrieg aus und das Leben, wie sie es kannte, war vorbei. Zunächst gibt es viele Restriktionen für die Juden und diverse Regeln, an die sie sich zu halten haben. Doch sie haben noch die Hoffnung, das schon alles noch gut werde, wenn sie sich nur an die Regeln halten. Dann wird die jüdische Familie gezwungen ins Ghetto zu ziehen, wo sie unter schlimmsten Bedingungen mit 2 anderen Familien in einer kleinen Wohnung leben müssen. Es gibt von allem zu wenig: zu wenig Platz, Essen, Kleidung, Brennholz. Nur Arbeit gibt es genug.
Doch Minka kann sich auch an diese Umstände anpassen und schreibt weiter ihre Geschichte.
Bis die Umstände immer schlimmer werden, ihre Familie entsetzlich leiden muss und schließlich die Deportation erfolgt. Doch Minka schafft es irgendwie, nicht daran zu zerbrechen.

Leo ist Bundesagent des Büro für Human Rights and Special Prosecutions (HRSP), die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriegsverbrecher aus der NS Zeit zu verfolgen und ihre Abschiebung und Verurteilung zu erreichen, um Jahre nach dem Krieg endlich für Gerechtigkeit zu sorgen.
Als Sage sich an ihn wendet, um von Josef uns seinen Gräueltaten zu berichten, ist er zunächst nicht sicher, ob er ihr glauben kann. Doch schnell wird ihm klar, dass er es hier mit einem echten Fall zu tun hat. Und noch schneller zieht ihn die junge Frau mit der rauchigen Stimme in ihren Bann.

Das Buch ist, wie so oft bei Jodi Picoult, aus der Perspektiven der verschiedenen Personen geschrieben. Für jede Person wurde eine andere Schriftart verwendet, was die Unterscheidung erleichtert und trotz der Perspektivwechsel ein flüssiges Lesen erlaubt.




Meine Meinung:

So, ich hoffe, ich habe jetzt nicht schon zu viel gespoilert. Aber es fällt mir sehr schwer meine Meinung zu dem Buch auszudrücken, wenn die eigentliche Geschichte gar nicht bekannt ist. Und aus dem Klappentext wird das ja nicht so richtig ersichtlich.
Das ist auch schon gleich mein erster Kritikpunkt. Aber dazu später mehr.

Was mir bei den Picoult Büchern eigentlich immer besonders gut gefällt sind die interessanten Themen, die solide Recherche und die Perspektivwechsel. Oft behandelt Picoult schwierige, moralische Themen und sie macht es dem Leser nie leicht, ein Urteil zu fällen, weil man durch die Perspektivwechsel auch in die Gedanken- und Gefühlswelt der vermeintlich "Bösen" eintauchen kann und anfängt, ihre Motive zu verstehen.

Auch in diesem Buch gab es wieder ein schwieriges Thema, das sehr gut recherchiert wurde. Das hat mir gut gefallen. Durch den großartigen Schreibstil der Autorin, wird man auch direkt ins Geschehen gesogen und hat Ereignisse aus der NS-Zeit sowohl aus Sicht der Täter, als auch der Opfer geschildert bekommen. Allerdings gingen mir die Geschehnisse teilweise so nahe, das ich immer wieder pausieren musste. Das war andres als zum Beispiel bei Schindler's Liste, wo eine Distanz zu den Handlungen herrschte, die es dem Leser leichter machten, die schrecklichen Geschichten und Schicksale zu ertragen. Also bei "Bis ans Ende der Geschichte" sollte man definitiv Taschentücher bereit legen und sich bewusst sein, auf was man sich einlässt.

Auch die Perspektivwechsel haben mir am Anfang sehr gut gefallen. Erst lernen wir die zurückgezogen lebende Sage kennen, die Jüdin der heutigen Generation, die aus ganz anderen Gründen emotionalen Ballast mit sich herumtragen muss. Auf der anderen Seite Josef, den ehemaligen SS-Mann. Ich fand es unglaublich spannend, seine Geschichte zu erfahren, da das für mich mal einen anderen Blickwinkel auf die Geschichte bot. Wenn ich bisher Bücher über die NS- Zeit gelesen habe, dann eher mit dem Fokus auf die Opfer. Hier fand ich es interessant zu verfolgen, wie aus einem ganz normalen Jungen so ein Monster werden kann.

Ein sehr langer Mittelteil

Ein bisschen gestört hat mich allerdings der Mittelteil des Buches. Wie gesagt leben die Picoult Bücher für mich davon, dass ein Problem aus den Perspektiven der verschiedenen Beteiligten beschrieben wird. Das passiert am Anfang ja auch.
Doch der Mittelteil, der gut ein Drittel des Buches ausmacht, ist komplett von Sages Großmutter Minka erzählt. Sie erzählt von ihrer Vergangenheit erst im Ghetto, dann im KZ Auschwitz.
Und als ich mich erstmal darauf eingelassen habe, konnte ich auch anerkennen, das es sehr gut geschrieben war. Das war der Teil des Buches, der mir so nahe ging, das ich Pausen vom Lesen brauchte.
Aber, und jetzt kommt mein Kritikpunkt, ich fand den Teil zu lang, für die Schilderung nur einer Person. Wo sind die Schilderungen aus Josefs Blickwinkel? Wo die Gedanken von Sage dazu?
Außerdem muss ich sagen, dass ich von Klappentext her etwas anderes erwartet habe. Und zwar das, was ich am Anfang und am Ende auch bekommen habe: die Aufarbeitung und die Beschäftigung mit dem Thema in der heutigen Zeit, die Frage nach Schuld und Vergebung, nach Rache, nach Erinnern und Vergessen.
Klar kommt man da um die Schilderungen der Vergangenheit nicht herum. Aber das hätte ja auch in kürzeren Abschnitten geschehen können. Wie in dem Kapitel über Josefs Vergangenheit. Aber vielleicht wäre das Minks Geschichte nicht gerecht geworden. Und wie gesagt, wenn man sich erstmal darauf eingelassen hat, ist es auch wirklich bewegend. Aber vielleicht hätte man die ganze Geschichte dann auch anders "vermarkten" sollen. Also auch diesen Schwerpunkt nennen.

Ein weiterer interessanter Aspekt dieses Buches ist die Geschichte in der Geschichte. Wie bereits erwähnt wollte Minka ja immer Autorin werden und hat schon als Mädchen angefangen, eine Geschichte zu schreiben. Und zwar über einen Upior, einen bluttrinkenden Untoten, anscheinend eine Figur aus polnischen Sagen. Sie hat schon früh begonnen, die Geschichte zu schreiben und schreibt sie weiter, als sie im Ghetto ist, schreibt weiter, auch als sie im KZ ist und so vielen "echten" Monstern begegnet, dass es für mehrere Leben reicht. Diese Upior-Geschichte" wird in vielen kleinen Abschnitten über das Buch verteilt erzählt und so kommt immer mal wieder vor einem neuen Kapitel ein "Upior- Abschnitt".
Ich muss sagen, dass mir Minkas Geschichte nicht so gut gefallen hat. Mir hat sich schon die Aussage dahinter erschlossen, die Übertragung der Monster Metapher auf die die SS Männer. Die Frage, ob man als Monster geboren wird, oder sich auch dagegen entscheiden kann. Die Frage, ob, wenn der Bruder ein Monster ist, einen das automatisch auch selbst zum Monster macht. Trotzdem habe ich sie im Lesefluss eher als störend empfunden.


Ein bewegendes Buch, das viel Stoff zum Nachdenken bietet.

Trotz der kleinen Kritikpunkte ist "Bis ans Ende der Geschichte" insgesamt ein wirklich bewegendes Buch, das viele Denkanstöße liefert und die Beschäftigung mit den schwierigen Themen Schuld, Vergebung, Gnade und Rache anregt.
Ich finde es unglaublich wichtig, sich mit der NS-Zeit zu beschäftigen und es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, was damals passiert ist.
Dieses Buch bietet auf jeden Fall spannende Einblicke sowohl auf jüdischer Seite, als auch auf Seiten der Nazis. Und Picoult zeigt auch auf, wie schwierig der Umgang mit dem Thema heute noch ist. Wie Überlebende immer noch stark unter der Vergangenheit leiden. Wie Traumata an die nächste Generation sozusagen "vererbt" werden können. Wie schwierig die Verfolgung der Täter ist. Und wie schwierig die moralischen Fragen zu beantworten sind.
Da ist dieser Mann, der, seit er in den USA lebt, nur Gutes getan hat, ein liebevoller Ehemann war und sich für seine Gemeinde engagiert hat. Und dann ist da seine schreckliche Vergangenheit und immer noch die Einstellung, dass alle Juden gleich sind und die Gnade einer beliebigen Jüdin ausreicht, um Vergebung an Taten ganz anderer jüdischer Menschen zu bekommen.
Und das, um nur ein Beispiel zu nennen.

Fürs Lesen dieses Buches solltet ihr auf jeden Fall genug Zeit einplanen. Nicht nur, weil es einem so nahe gehen kann, dass man immer wieder Pausen machen muss, in denen man das Buch zur Seite legt. Sondern auch, weil so viele bedeutungsvolle Sätze in diesem Buch sind, über die man erstmal in Ruhe nachdenken muss. Ich hab mir auch einige Zitate rausgeschrieben, die ich nicht vergessen möchte.

Ein Buch, das bewegt, erinnert und noch lange nachhallt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Kindliche Idylle vs Rassismus und Vorurteil

Wer die Nachtigall stört ...
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Kurzmeinung
Bei diesem Pulitzer-Preis-Gewinner hatte ich etwas anderes erwartet, etwas schweres, hochliterarisches. Stattdessen überraschte mich eine atmosphärische Geschichte aus dem Leben zweier Kinder ...

Kurzmeinung
Bei diesem Pulitzer-Preis-Gewinner hatte ich etwas anderes erwartet, etwas schweres, hochliterarisches. Stattdessen überraschte mich eine atmosphärische Geschichte aus dem Leben zweier Kinder in den Südstaaten der 1930er. Es liest sich sehr leicht; dennoch werden einige schwierige Themen behandelt.


Zum Buch
Die Geschichte wird aus Sicht der aufgeweckten Jean Louise, genannt Scout, erzählt. Sie lebt mit ihrem älteren Bruder Jem und ihrem Vater Atticus Finch in der fiktiven Kleinstadt Maycomb Alabama . Zunächst taucht man ein in die Atmosphäre der Südstaaten der 1930er und erlebt durch Souts Augen eine unbeschwerte Kindheit dieser Zeit. Es sind Sommerferien und die Kinder spielen den ganzen Tag draußen, können sich frei in der Nachbarschaft bewegen und jeder kennt jeden in dieser Kleinstadt- Idylle. Bald bekommt das Geschwisterpaar Verstärkung in Form des Nachbarjungen Dill und zu dritt verbringen sie einen unbeschwerten Sommer. Viel Raum nehmen dabei auch die Spekulationen über den mysteriösen Nachbarn Arthur (Boo) Radley ein. Dieser soll irgendwie gestört sein und nie das Haus seines Vaters verlassen. Der ältere Je schmückt die Gerüchte mit gruseligen Details für die beiden Jüngeren es entwickelt sich so manche Mutprobe, sich zum Beispiel Boos Haus zu nähren.
Im Laufe der Geschichte lernen die Geschwister jedoch die menschliche Seite an Boo kennen, der ihnen kleine Geschenke in einem Astloch in einem Baum hinterlegt, den sie auf ihrem Schulweg passieren.

Die kindliche Idylle der Finch- Geschwister wird jedoch je Erschüttert, als ihr Vater, Rechtsanwalt, die Verteidigung des schwarzen Farmarbeiters Tom Robinson übernimmt. Dieser soll eine weiße junge Frau geschlagen und vergewaltigt haben.
In Maycomb herrscht immer noch starker Rassismus und die weißen Bevölkerung ist schockiert darüber, dass "einer der Ihren" einen "Neger" vertritt. Und so setzt Atticus seinen Ruf und sein Ansehen aufs Spiel, und sogar sein Leben. Denn die aufgebrachten Farmer wollen nicht auf das Urteil des Gerichts warten und an Tom Selbstjustiz üben. Atticus, des so etwas schon geahnt hatte, ist zwar zur Stelle und versucht, die Männer zu beschwichtigen. Letztendlich ist es aber Scout, die mit ihrer kindlichen Unschuld die aufgeheizte Situation beruhigen kann.
Auch Scout und Jem bekommen den Unmut ihrer Mitschüler zu spüren und müssen sich mit schweren moralischen Fragen auseinandersetzen. Ihr Vater ist dabei immer Vorbild und Leitfigur in moralischen Fragen. Er ist immer bereit, den Kindern sein Verhalten zu erklären und zu begründen.

Schließlich findet die Gerichtsverhandlung statt und es kommt zu so manch überraschenden Wendung. Atticus' Schlussplädoyer ist ein Appell and die Menschlichkeit und er fordert Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen. Doch die Kleinstadt ist noch nicht bereit für diese Einsicht.

Meine Meinung
Wie gesagt, hatte ich etwas anderes erwartet. Von dem Pulitzer Preis- Gewinner war ich immer etwas eingeschüchtert. Als ich mich jetzt aber an die Lektüre gewagt habe, hat mich die sommerliche Kleinstadt-Atmosphäre gleich gefangen genommen und die aufgeweckte Scout habe ich sofort ins Herz geschlossen.
Bis zur Hälfte des Buches ungefähr ist die Geschichte ausgefüllt von den Erzählungen über die Abenteuer und den Alltag der Kinder. Das ist nicht übermäßig spannend und auch nicht von großem moralischen Anspruch oder Ähnlichem. Aber es ließt sich sehr flüssig und die Autorin nimmt sich viel Zeit, die einzelnen Charaktere vorzustellen und dem Leser ein Gefühl für die Menschen und die Stimmung in der Kleinstadt Maycomb zu geben.
Die Schilderung der ganzen Rassen- Problematik und der Gerichtsverhandlung ist absolut gelungen, besonders, da man die Geschehnisse ja durch die Augen der kleinen Scout sieht. Und oft ist es ihre kindliche Unschuld und ihre naiven Fragen, die einem die Absurdität der Vorurteile der Erwachsenen besonders offensichtlich erscheinen lassen.

Anfangs musste ich ein bisschen schlucken, als immer wieder Begriffe wie "Neger" oder "Nigger" vorkamen. Doch nach einer Weile konnte ich diese Ausdrucksweise als zu der Atmosphäre und der Zeit gehörig akzeptieren und im Gesamtbild ist es ja auch durchaus stimmig. Dennoch erfordert es natürlich zunächst einmal ein Umdenken, wenn man als Leser so vollkommen anders sozialisiert wurde.

Mein Highlight aus dem Buch ist Atticus Finch. Ein wundervoller Charakter, der versucht, allen gerecht zu werden und seine moralischen Werte über sein Ansehen und das seiner Familie stellt. Er ist dabei ein liebevoller Vater, der sich immer Zeit nimmt, die Fragen seiner Kinder zu beantworten und sie ihre eigenen Schlüsse ziehen zu lassen. Er hat hohe Ansprüche an sich und an seine Kinder, ist aber gleichzeitig voller Verständnis und Respekt für sie und die anderen Bewohner der Stadt, die diese Ansprüche nicht erfüllen und ihn und auch andere schlecht behandeln. Es ist diese Größe, die mich so beeindruckt hat. Er lehrt seine Kinder Besonnenheit, und das man erst in die Haut des anderen schlüpfen und darin herumwandern muss, bevor man sein Verhalten beurteilen darf.
Viele seiner Aussagen habe ich mir herausgeschrieben, um sie nicht zu vergessen, weil aus ihnen so viel Weisheit spricht. So zum Beispiel:


Scout: Atticus, du musst dich irren. Atticus: Wieso? Scout: Weil die meisten Leute denken, dass du dich irrst. Atticus: Sind berechtigt so zu denken und können verlangen, dass wir ihre Meinung akzeptieren. Aber bevor ich mit anderen leben kann, muss ich mit mir selbst leben. Das einzige, das sich keinem Mehrheitsbeschluss beugen darf, ist das menschliche Gewissen.


Fazit
Insgesamt kann man die vorherrschende Stimmung und Werte in Alabama der 1930er sehr gut nachempfinden und völlig in die Kleinstadtatmosphäre eintauchen. Man kann seine eigenen Einstellungen hinterfragen und sie an den hohen Standards von Atticus messen.
Das Problem der Vorurteile ist ja in irgendeiner Form leider immer noch aktuell und wird es wahrscheinlich auch noch eine weile bleiben.
Daher kann ich dieses Buch wirklich uneingeschränkt empfehlen, wobei es gleichzeitig auch eine schön geschriebene Geschichte ist und sich toll lesen lässt.
Es ist eine Geschichte, die man mit seinen Kindern lesen kann und bietet sicherlich auch dort viel Stoff für Diskussionen, ob in der Familie oder als Lektüre in der Schule.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Was ist schon normal?

Veronika beschließt zu sterben
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Kurzmeinung:
Dieses Buch hat mir wirklich bewegt und zum Nachdenken angeregt. In wunderschöner Sprache hinterfragt Coelho, was eigentlich "normal" ist und zeigt die alltäglichen Zwänge der Gesellschaft ...

Kurzmeinung:
Dieses Buch hat mir wirklich bewegt und zum Nachdenken angeregt. In wunderschöner Sprache hinterfragt Coelho, was eigentlich "normal" ist und zeigt die alltäglichen Zwänge der Gesellschaft auf. Sehr eindrücklich werden das Leben und Leiden der Charaktere beschrieben. Das Bucht ist voller schöner Zitate, die mich noch lange verfolgt haben und werden.


Klappentext:
Die Geschichte einer unglücklichen jungen Frau, die sterben will und erst angesichts des Todes entdeckt, wie schön das Leben sein kann, wenn man darum kämpft und etwas riskiert. Ein wunderbares Buch über die Prise ›Verrücktheit‹, die es braucht, um den eigenen Lebenstraum Wirklichkeit werden zu lassen, und eine große Liebeserklärung an das Glück in jedem von uns



S.17 "Veronika hatte beschlossen, an diesem schönen in Ljubljana zu sterben, während bolivianische Musiker auf dem Platz spielten, ein junger Mann unter ihrem Fenster vorbeiging, und sie war glücklich über das, was ihre Augen sahen und ihre Ohren hörten. Noch glücklicher war sie, dass sie dies nicht noch weitere dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre sehen musste, denn es würde sich abnutzen und zur Tragödie eines Lebens werden, in dem sich alles wiederholte und ein Tag dem anderen
gleicht."


Zum Buch:

Gleich zum Anfang des Buches lernen wir Veronika kennen, die nicht mehr so richtig Lust auf das Leben hat und keine Perspektive für sich sieht. Sie beschließt daher sich das Leben zu nehmen.



S.13 "Ihr Leben verlief gleichförmig, und wenn die Jugend erst einmal vorbei war, würde es nur noch abwärts gehen, sie würde altern, krank werden, Freunde verlieren. Letztlich würde Weiterleben nichts bringen, vermutlich nur mehr Leid."

So nimmt Veronika eine Überdosis Pillen und legt sich hin, um auf den Tod zu warten. Der Selbstmordversuch misslingt allerdings und sie erwacht in der Psychiatrie "Villette". Dort teilen die Ärzte ihr mit, dass ihr Herz durch die Pillen stark geschädigt wurde und sie in den nächsten Tagen sterben wird.
So ist die Protagonisten nun gezwungen, sich mit dieser skurrilen Situation zu arrangieren und lernt das Leben in Vilette und seine Bewohner kennen.


S. 21 "Wie sollte man in einer Welt, in der man um jeden Preis versucht zu überleben, Menschen beurteilen, die zu sterben beschließen?"

Und in dieser ungewöhnlichen Umgebung und im Austausch mit den vermeintlich "Verrückten" lernt sie, dass es im Leben so viel mehr gibt, als sich an Regeln zu halten und sich den Normen entsprechend zu verhalten. Sie lernt sich selbst (wieder) kennen und entdeckt ihre alten Wünsche und Träume. Losgelöst von den Zwängen der Gesellschaft hinterfragt sie, was denn "normales" Verhalten ist und wem es eigentlich zusteht, sie zu bewerten.


S.181 "Jeder Mensch ist einmalig und einzigartig, mit seinen Eigenschaften, Trieben, Begierden und Abenteuern. Doch die Gesellschaft zwingt ihm ein kollektives Verhaltensmuster auf..."

Sie kann frei und ungezwungen einfach sie selbst sein, ohne das sie von jemandem beurteilt wird -und findet dadurch zu sich selbst und ins Leben zurück.


S. 46 "Hier drinnen können alle sagen, was sie denken, tun, was sie wollen, ohne auf Kritik zu stoßen."
S. 73 "Als ich die Tabletten genommen habe, wollte ich jemanden umbringen, den ich hasste. Ich wusste nicht, dass es in mir auch Veronikas gab, die ich lieben könnte."


Natürlich ist das kein leichter Weg und Veronika hadert immer wieder mit ihrem Schicksal. Es findet in ihr eine Entwicklung statt, die man als Leser auch gut nachvollziehen kann.



Meine Meinung:
Was für ein schönes Buch. Es hat mich wirklich sehr bewegt. Wie ihr eventuell schon gemerkt habt, habe ich mir sehr viele schöne Zitate rausgeschrieben, die mich sehr zum Nachdenken angeregt haben. (Deswegen habe ich für das Lesen dieses eigentlich recht kurzen Buches auch so lange gebraucht...)

Die Charaktere sind komplex und anders, als andere Charaktere, die man sonst so aus Büchern kennt. Es war bei mir nicht so, dass ich die Charaktere besonders mochte, oder ihnen besonders nahe war. Trotzdem konnten sie mich berühren und mir (und Veronika) ihre Lektionen erteilen.
Man lernt die Villette- Bewohner kennen, ihre Geschichten, wie sie aus dem "Leben draußen" nach Vilette gekommen sind. Die Geschichten sind alle sehr unterschiedlich und immer sprechen die Personen sehr reflektiert über ihre Reise, so dass man als Leser viele tiefe Einblicke und Erkenntnisse gewinnen kann.


S.42 "Ich hoffe allerdings, dass diese Substanz mir nur das Problem meiner chronischen Depression löst. Ansonsten möchte ich weiterhin verrückt sein, mein Leben so leben, wie ich es mir erträume, und nicht so, wie die anderen es von mir erwarten."

Es geht um Liebe, Freundschaft, persönliches Leid und um Ängste, den Ansprüchen der Gesellschaft und den Erwartungen an eine aufgedrängte Rolle nicht erfüllen zu können.
Man wird als Leser gezwungen, seine eigenen Ansichten über "normales Verhalten" zu überdenken und wird mit seinen eigenen Vorurteilen gegen psychisch Kranke konfrontiert. Stigmatisierung spielt eine große Rolle.

Mir hat das Buch gut gefallen, gerade weil es mich teilweise aus meiner Komfortzone gedrängt hat und ich mir schwierige Fragen stellen musste.
Und auch das ich über mein eigenes Leben nachdenken musste, warum ich es lebenswert finde, und das ich die alltäglichen Freuden zumindest für eine Zeit nicht mehr als so selbstverständlich annehme, hat mir gefallen.
Ich finde, die Lektüre dieses Buches ist auf jeden Fall eine Bereicherung.



Verfilmung:
Manche von euch kennen vielleicht auch den Film. Der hat mir auch sehr gut gefallen und hat viele Szenen aus dem Buch gut umgesetzt. Allerdings wurde auch einiges geändert und vor allem das Ende ist deutlich anders. Aber sowohl Buch als auch Film sind als eigenständige Werke zu empfehlen.
Ich habe den Film vorher gesehen und war beim Lesen dementsprechend manchmal etwas überrascht. Im Film nimmt zum Beispiel die Liebesgeschichte zwischen Veronika und einem schizophrenen Insasse viel mehr Raum ein.
Das Buch konnte mit der wunderschönen Sprache und den vielen tollen Zitaten wirklich überzeugen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Eindrückliches Psychogramm einer Familie

Was ich euch nicht erzählte
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Kurzmeinung:
Ein spannender Familienroman, der sehr eindrücklich das Psychogramm einer auf den ersten Blick ganz normalen Familie zeichnet. Doch jedes Familienmitglied hat seine kleinen Geheimnisse und ...

Kurzmeinung:
Ein spannender Familienroman, der sehr eindrücklich das Psychogramm einer auf den ersten Blick ganz normalen Familie zeichnet. Doch jedes Familienmitglied hat seine kleinen Geheimnisse und so komm es nach jahrelangem Anstauen von kleinen Missverständnissen und Lügen zur Katastrophe. Erzählt in einer klaren Sprache und sehr beklemmender Atmosphäre.


Klappentext:

"Lydia ist tot." Der erste Satz, ein Schlag, eine Katastrophe. Am Morgen des 3. Mai 1977 erscheint sie nicht zum Frühstück. Am folgenden Tag findet die Polizei Lydias Leiche. Mord oder Selbstmord?
Die Lieblingstochter von James und Marilyn Lee war ein ruhiges, strebsames und intelligentes Mädchen. Für den älteren Bruder Nathan steht fest, dass der gutaussehende Jack an Lydias Tod Schuld hat. Marilyn, die ehrgeizige Mutter, geht manisch auf Spurensuche. James, Sohn chinesischer Einwanderer, bricht vor Trauer um die Tochter das Herz. Allein die stille Hannah ahnt etwas von den Problemen der großen Schwester. Was bedeutet es, sein Leben in die Hand zu nehmen? Welche Kraft hat all das Ungesagte, das Menschen oft in einem privaten Abgrund gefangen hält? Nur der Leser erfährt am Ende, was sich in jener Nacht wirklich ereignet hat.

Zum Buch:
Zu Beginn des Buches verschwindet also die "Lieblingstochter" der Familie: Lydia. Nach einiger Zeit der Suche wird bald die Leiche der 16-jährigen gefunden. Diese schockierenden Ereignisse reißen die Familie aus ihrem Trott und jahrelang angestaute Geheimnisse kommen langsam ans Licht.

Das Buch wird abwechselnd aus Sicht der verschiedenen Familienmitglieder geschrieben. Da gibt es zum einen die Mutter Marilyn, die ihre großen Karrierewünsche für die Familie aufgab.
"Ich hätte das schaffen können" Das hypothetische Plusquamperfekt, die Zeit der verpassten Chancen. (Marilyn, S.99)
Den Vater James, der als Immigrant aus China sein Leben lang mit Vorurteilen zu kämpfen hatte und nie richtig seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat. Dann gibt es noch den ältesten Sohn, Nathaniel, der nie die Erwartungen seinen Vaters erfüllen konnte. Und Hannah, die Jüngste und meist von allen Übersehene.
Diese auf den ersten Blick idyllische und völlig typische Familie hat aber viele Geheimnisse, die nach und nach ans Licht kommen. Jeder glaubt, den anderen zu kennen, und tut es doch nicht. Sie sind eine Familie, und doch ist jeder auf seine Art einsam, weil sich die Familienmitglieder zu wenig sagen, zu wenig zuhören und zu viel verschweigen, aus Angst, sich zu offenbaren und damit auch verletzlich zu machen. Ein Buch das zeigt, das man nie wirklich wissen kann, was in einem anderen Menschen vorgeht. Auch wenn man ihn noch so gut zu kennen glaubt.

Das Buch spricht viele wichtige Themen an: Es geht um Immigration und Vorurteile, um Emanzipation, um Erwartungen der Eltern an ihre Kinder, um Mobbing, Einsamkeit und Kommunikation in der Familie.
So kommt nach und nach zum Vorschein, wie sehr Lydia unter dem Druck gelitten hat, die Erwartungen ihrer Mutter zu erfüllen, die all ihre Wünsche und Träume auf ihre älteste Tochter projiziert hat.
Und auch Nath kann die Erwartungen seinen Vaters nicht erfüllen. James erkennt sich selbst sehr stark in seinem Sohn und hätte sich doch eigentlich so viel Anderes, aus seiner Sicht Besseres für ihn gewünscht. James kann die Probleme seines Sohnes nachvollziehen, hatte er doch selbst mit Vorurteilen und Mobbing zu kämpfen. Und doch kann er nicht über seinen Schatten springen und ihm zeigen, dass er ihn versteht -oder noch viel wichtiger, dass er ihn liebt. Der Vater hat letztendlich auch Schuldgefühle gegenüber dem Sohn, die eine echte Nähe unmöglich machen.

Meinung:
Für mich ingesamt ein sehr gutes Buch. Die Charaktere sind sehr plastisch und echt, die Gefühle und Beziehungen gut beobachtet und feinfühlig beschrieben. Die Geschichte wird in einer klaren Sprache erzählt, die einen schnell ins Geschehen finden lässt.
Die Erzählung ist gespickt mit kleinen Beobachtungen und Erinnerungen, die das Geschehen nah und echt wirken lassen. So zum Beispiel, als James sich mitten im Streit mit Marilyn daran erinnert, wie sie beide bei einer zärtlichen Berührung gleichzeitig Gänsehaut bekommen haben, und James dieser engen Verbindung nachtrauert.

Der Aufbau ist meistens klar, doch die erwähnten Perspektivwechsel passieren oft recht abrupt und mitten in einem Absatz, so dass für mich manchmal nicht ganz klar war, aus wessen Sicht wir das Geschehen gerade geschildert bekommen. Da muss man wirklich aufmerksam lesen. Aber das lohnt sich auf jeden Fall, denn neben den Perspektivwechseln gibt es auch immer wieder Zeitsprünge und so erfahren wir Stück für Stück mehr über die Familie Lee.
Die Zeitsprünge fand ich auch in sofern spannend, da zu anderen Zeiten eben andere Konventionen geherrscht haben, und man sich mit einem anderen Gesellschaftsbild konfrontiert sieht. So ist etwas, was uns heute selbstverständlich erscheint -zB das beide Elternteile arbeiten gehen- damals noch ein Tabu. Unter diesem Aspekt bekommen die Gedanken, Wünsche und Handlungen der jeweiligen Charaktere eine neue Bedeutung.

Die Geschichte ist dabei die ganze Zeit plausibel und nachvollziehbar. Der Leser bemerkt voll Bedauern, wie all die kleinen Missverständnisse und Zurückweisungen sich über ein Leben addieren und schließlich in einer Katastrophe münden. Dabei ist man als Leser so nah am Geschehen, dass man von einer starken Beklommenheit erfasst wird.
An vielen Stellen habe ich gedacht "Hätten man diese Kleinigkeit anders gemacht oder hätte sie hier einmal genauer zugehört, dann wäre möglicherweise alles anders gelaufen." Und gerade dieses Realistische, diese Nähe, die Kleinigkeiten sind es, die in mir so eine bedrückende Stimmung erzeugt haben.


Man liebte so sehr und erhoffte so viel, und am Ende hatte man nichts. (S.240)

Leider ist der Schluss für mich ein bisschen aus diesem stimmigen Gesamtkonzept herausgefallen und hat mit dieser toll heraufbeschworenen Stimmung gebrochen. Für mich war es unglaubwürdig und nicht ganz stimmig, wie sich dann auf einmal doch alle Familienmitglieder versöhnen und sich verstehen wollten. Ich hätte mir gewünscht, dass mich die Autorin mit diesem beklemmenden Gefühl zurücklässt. So hatte ich das Gefühl, dass auf Krampf eine Art "Happy End" gesucht wurde.
Insgesamt aber ein eindringlicher und einfühlsam geschriebener Familienroman, den ich sehr empfehlen kann. Das Buch lässt einen über seine eigenen Beziehungen nachdenken und es gibt viele eindringliche Zitate, die mich noch eine Weile begleitet haben.


So wie die Erinnerung an geliebte Menschen, die man verloren hat, sich immer weiter glätten, vereinfachen und ihre Vielschichtigkeit verlieren (S.263)