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Veröffentlicht am 07.02.2023

Meine Reise mit Prinzessin Therese 1888 auf dem Amazonas...

Die Forscherin. Prinzessin Therese und der Ruf des Amazonas
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Katharina Innig hat mit „Die Forscherin – Prinzessin Therese und der Ruf des Amazonas“ einen hervorragenden Debütroman vorgelegt.
Ich sollte vielleicht kurz gestehen, dass Reiseberichte aus vergangenen ...

Katharina Innig hat mit „Die Forscherin – Prinzessin Therese und der Ruf des Amazonas“ einen hervorragenden Debütroman vorgelegt.
Ich sollte vielleicht kurz gestehen, dass Reiseberichte aus vergangenen Jahrhunderten eigentlich nicht zu meinem bevorzugten Genre gehören – und von Prinzessin Therese (von Bayern) hatte ich als „Nordlicht“ auch bisher nichts gehört...
Aber was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Katharina Innig hat es innerhalb weniger Seiten geschafft, mich zu einer großen Verehrerin von Prinzessin Therese zu verwandeln, ich habe sie kennen und schätzen gelernt (lt. Wikipedia war sie „eine deutsche Ethnologin, Zoologin, Botanikerin und Reiseschriftstellerin. Sie engagierte sich sozial karitativ.“) und an ihrer Expedition auf dem Amazonas 1888 habe ich mit allen Sinnen teilgenommen... Aber das liegt an der ausgesprochen lebhaften und bildhaften Sprache, die die Autorin benutzt, ich konnte gemeinsam mit Therese die exotischen Düfte riechen („Es riecht nach Meer, nach Kaffee, nach Gewürzen, überreifen Bananen und nach dem Staub auf dem sonnendurchglühten Pflaster.“ S. 51), das Licht des Urwalds wahrnehmen („Der Nebel umschließt die Farne und Wurzeln, schleicht lautlos um die Stämme. Manchmal steht er zwischen den riesenhaften Bäumen wie eine wattige weiße Säule, dann tanzt er wie ein zartes Gespinst zwischen den Lianen und um die Sträucher S. 195). Dies nur eine klitzekleine Auswahl, ich habe mir sehr viele Sätze notiert…
Prinzessin Therese war ihrer Zeit weit voraus: anders als es ihr in die Wiege gelegt, verweigerte sie alle Heiratskandidaten, die ihr ihre Familie präsentierte und brachte sich ein großes naturwissenschaftliches Wissen im Selbststudium bei (Frauen waren zu jener Zeit weder an Gymnasien noch Universitäten zugelassen), außerdem sprach sie mindestens 12 Sprachen fließend.
Doch zurück zum Buch: es ist auf zwei Zeitebenen geschrieben, wir lernen Therese 1924 (als 74-jährige) in ihrem Haus in Lindau kennen, Sie hat Veronika, ihre damalige Reisebegleitung an den Amazonas, zu sich eingeladen, um gemeinsam mit ihr Ordnung in ihre Papiere, Unterlagen ,und Reiseandenken zu bringen. Dabei erinnert sich Therese an ihre Reise 1888 (als 38-jährige) zurück…
Gemeinsam mit drei Begleitern (einem Reisemarschall, ihrem treuen Diener Max und eben Veronika) trat sie diese Expedition an (im Nachwort erfahren wir, dass der Reisemarschall und der Diener Max historisch belegte Persönlichkeiten sind, Veronika ist der Fantasie der Autorin geschuldet). Alle drei werden aber authentisch und realistisch geschildert: der Reisemarschall ist ein Kompromiss zwischen Therese und ihrem Vater (Prinzregent Luitpold von Bayern), dass Therese überhaupt diese Reise antreten darf, aber „der sehr penible, sparsame und nicht besonders flexible Freiherr hat sehr wenig mit der impulsiven und bis an die Grenze zum Leichtsinn mutigen Prinzessin gemeinsam.“ (Nachwort, S. 360) Die Dialoge / Diskussionen / Auseinandersetzungen mit ihm haben mich wiederholt zum Schmunzeln gebracht. Max, der treue Diener, kennt Therese seit Kindesbeinen und stellt den „ruhigen Fels in der Brandung“ dar, Veronika verkörpert den damaligen (weiblichen) Zeitgeist, dies wird auch in dem 1924-er Teil deutlich.
Und so reisen wir mit den Augen Thereses durch den Dschungel am Amazonas, erleben Belem und Manaus, sehen verlassene und bewohnte indigene Dörfer, spüren exotische Dschungelnächte, verkraften Stürme, teilen (nicht immer!) ihre Liebe zu den seltenen Lebewesen, lehnen mit ihr gemeinsam die Arroganz der Kolonialmächte ab und sind entsetzt über das Machtgefühl der Kautschukbarone…
Wie schon erwähnt, rundet ein Nachwort von Frau Innig das Buch perfekt ab: wir erfahren, was historisch belegt und was Fiktion ist und es wird deutlich, wie intensiv die Autorin die Recherchearbeit betrieben hat – genau meine Kriterien für hervorragende historische Romane!
Ich werde Prinzessin Therese von Bayern und ihre Reise an den Amazonas bestimmt nicht vergessen und will es deshalb natürlich auch gern weiterempfehlen – ich habe es selbst schon zweimal verschenkt!

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Veröffentlicht am 30.01.2023

Die Geister, die ich rief...

Ein Licht der Hoffnung
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„Ein Licht der Hoffnung“ von Marion Kummerow war mein erster Roman dieser Autorin (wobei mir eine Freundin schon „Eine Stadt der Hoffnung“ sehr empfohlen hatte) – aber bestimmt nicht mein letzter!
Zum ...

„Ein Licht der Hoffnung“ von Marion Kummerow war mein erster Roman dieser Autorin (wobei mir eine Freundin schon „Eine Stadt der Hoffnung“ sehr empfohlen hatte) – aber bestimmt nicht mein letzter!
Zum Inhalt: Margarete Rosenbaum arbeitet 1941 als Hausmädchen bei Familie Huber. Das Problem: Herr Huber ist ein hochrangiger Nationalsozialist, quasi mit Adolf Hitler auf Du und Du, seine beiden Söhne sind aktive SS-Angehörige – und Margarete ist Jüdin und Herr Huber hat ihr bereits die Deportation angedroht...
Bei einem Bombenangriff auf Berlin wird die Villa vollkommen zerstört, das Ehepaar Huber und ihre Tochter Annegret tödlich getroffen (die Söhne sind nicht anwesend). Margarete überlebt und im Bruchteil von Sekunden trifft sie eine Entscheidung: sie tauscht ihre Strickjacke mit dem gelben Stern mit Annegrets Jacke und nimmt deren Kennkarte an sich. Aber die überlebenden Söhne stellen eine Gefahr dar, deshalb flüchtet Margarete (als Annegret) zu ihrer Tante Heidi nach Leipzig. Dort wird sie zwar von Wilhelm – dem jüngeren Huber-Sohn – gefunden, aber er gibt ihren Identitätsraub nicht weiter... Trotzdem entschließt sich Margarete, zu einer Freundin ihrer Tante in das „freie Frankreich“, nach Toulouse zu fliehen. Sie „strandet“ jedoch leider in Paris – so mehr sei aber an dieser Stelle nicht verraten...
Die Autorin hat eine fesselnden, bildhaften Schreibstil, der mich sehr gut in die Geschichte eintauchen ließ, so konnte ich wiederholt gemeinsam mit Margarete durch Paris flanieren. Es finden immer wieder überraschende Wendungen statt, mit denen ich nicht gerechnet hatte – kurzum: es blieb stets spannend! Öfter habe ich mir Sorgen gemacht, dass Margarete „auffliegen“ könne und habe gemeinsam mit ihr gezittert...
Die historischen Ereignisse sind gründlich recherchiert, so dass wir uns z.B. auf der Romanebene mit den Ergebnissen der Wannsee-Konferenz auseinandersetzen (müssen), weil Marion Kummerow die nationalsozialistische Terminologie benutzt oder die Huber-Söhnen ihr nationalsozialistisches Gedankengut darstellen lässt – für unsere heutigen Augen / Ohren sehr abschreckend und ekelhaft, aber gerade deshalb immer wieder erwähnenswert (gegen das Vergessen!).
Aber Margarete wird auch vor schwierige Entscheidungsfragen gestellt: „Hatte der Mensch das Recht, sich selbst zum Richter über Leben und Tod zu erheben? Wer war sie, dass sie gegen das Gebot „Du sollst nicht töten“ verstieß? Stellte sie sich damit nicht auf die gleiche Stufe wie die Nazis?“ (S.249)
Diese Frage nimmt die Autorin in ihrem Nachwort (für mich bisher außergewöhnlich: als Brief an die Leser*innen formuliert) noch einmal auf: „Eines der moralischen Dilemmas, mit denen sich Margarete auseinandersetzen muss, ist die Frage, ob man Menschenleben gegeneinander aufwiegen kann. Da sie diejenige ist, die unterdrückt wird, glaubt sie natürlich, dass ihr Leben genauso wertvoll ist wie das von Annegret. Aber was ist, wenn sie entscheiden darf, wer stirbt und wer lebt? Kann ein Mensch dieses Recht überhaupt haben?“ (S. 274)
Ich schätze es sehr, wenn ich in Büchern – außer der Geschichte an sich, die mich gut unterhalten hat – Fragen finde, die mich zum Nachdenken anregen – und über die Zeit des Nationalsozialismus können wir ja eigentlich nie genug nachdenken... Deshalb gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für dieses Buch!
Kleine Anmerkung zum Schluss: und ja, ich denke, dass Margarete wohl noch weiterhin mit den Geistern leben muss, die sie gerufen hat, ...

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Veröffentlicht am 09.12.2022

Mitten hinein in die 1960-er Jahre...

Kinder des Aufbruchs
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Ich hatte von Claire Winter bereits den Vorgängerband dieses Buches („Kinder ihrer Zeit“) sehr gern gelesen und freute mich nun darauf, zu erfahren, wie es mit den Zwillingsschwestern Emma und Alice weitergehen ...

Ich hatte von Claire Winter bereits den Vorgängerband dieses Buches („Kinder ihrer Zeit“) sehr gern gelesen und freute mich nun darauf, zu erfahren, wie es mit den Zwillingsschwestern Emma und Alice weitergehen würde. Es ist zwar eine Fortsetzung, aber ich bin mir sicher, dass man „Kinder des Aufbruchs“ auch ohne Vorkenntnisse lesen kann, da die Autorin immer wieder kleine Rückspiegelungen vornimmt...
Und Claire Winter „schubst“ uns sofort in das Jahr 1967, in das quirlige und hochpolitische Berlin: Studenten sind nicht mehr gewillt, den „Muff von 1.000 Jahren unter den Talaren“ zu akzeptieren, sie stellen „das Establishment“ in Frage...In dieser schon aufgeheizten Stimmung besucht Shah Reza Pahlavi am 2.6.1967 Berlin (Wikipedia bezeichnet es als ein einschneidendes Ereignis in der bundesdeutschen Geschichte).
Emma und Alice leben jetzt mit ihren Ehemännern Julius und Max in West-Berlin (Alice und Max mit der gemeinsamen Tochter Lisa). Alice ist als Journalistin für eine Tageszeitung mitten im Geschehen, sie hat über die Unruhen während des Schah-Besuchs geschrieben und berichtet auch über den Tod von Benno Ohnesorg. Emma arbeitet weiterhin als Dolmetscherin und übersetzt häufiger auch vertrauliche Gespräche zwischen hochrangigen Politikern. Julius ist Professor und Max hat sich als Anwalt auf die Entschädigung von jüdischen Opfern des Nationalsozialismus spezialisiert.
Also: durch die Protagonisten erleben wir diese Zeit hautnah mit, manchmal hatte ich das Gefühl, selbst dabei zu sein...
Aber so richtig „rund“ läuft es gerade nicht im Privatleben unserer Hauptfiguren: Emma leidet stark unter den Folgen einer Fehlgeburt und fühlt sich von Julius nicht verstanden, Alice und Max leben eigentlich nur wegen ihrer gemeinsamen Tochter „pro forma“ als Familie zusammen, so richtig glücklich sind aber beide über das „Arrangement“ nicht... Als Alice dann ihre Jugendfreundin Irma in West-Berlin wieder trifft, regt sich sofort ihr Misstrauen: hat Irma bei der Stasi unterschrieben, um sie, Alice, auszuspionieren oder gar schlimmer: will sie Stasi sie erneut entführen? Aber Alice ist bereits längst im Visier der Stasi... Und wegen eines „Freundschaftsdienstes“ gerät Max in das Getriebe zwischen BND und Stasi... Aber auch Alice und Julius habe ihre – nicht ungefährlichen – Geheimnisse! Teilweise konnte ich das Buch vor lauter Spannung kaum aus der Hand legen und musste schnell „nur noch ein Kapitel“ weiterlesen... Mein Schönheitsschlaf hat erheblich gelitten…
Dies ist dem großartigen und mitreißenden Schreibstil der Autorin zu verdanken, ihrer authentischen Beschreibung der einzelnen Personen, deren Gedanken und Handlungen ich meist nachvollziehen konnte (klar, mit der „Gnade der späten Geburt“ ahnte ich an manchen Stellen das Ergebnis...). Aber fasziniert hat mich auch immer wieder, wie geschickt Frau Winter die historisch belegten Ereignisse mit ihren fiktiven Personen zusammenbringt: so werden z.B. Emma und Alice durch Zufall Augenzeuginnen des Attentats auf Rudi Dutschke im April 1968... Denn eine weitere hervorragende Leistung ist die umfang- und kenntnisreiche Recherchearbeit, die von der Autorin geleistet wurde. Ein Nachwort ergänzt das Buch perfekt.
Alles in Allem: ein fesselndes, mitreißendes und facettenreiches Buch, dass ich ohne irgendeine Einschränkung einfach weiterempfehlen muss – ich selbst habe es bereits als Weihnachtsgesteck eingeplant!

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Veröffentlicht am 03.12.2022

Die Bretter, die die Welt bedeuten...

Die Wintergarten-Frauen. Der Traum beginnt
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„Die Wintergarten-Frauen – Der Traum beginnt“ von Charlotte Roth ist der Auftaktband einer Trilogie. Ich habe schon mehrere Bücher von Charlotte Roth gelesen (z.B. „Als wir unsterblich waren“, „Als der ...

„Die Wintergarten-Frauen – Der Traum beginnt“ von Charlotte Roth ist der Auftaktband einer Trilogie. Ich habe schon mehrere Bücher von Charlotte Roth gelesen (z.B. „Als wir unsterblich waren“, „Als der Himmel uns gehörte“) und sie haben mir alle sehr gut gefallen.
Die 19-jährige Nina von Veltheim lebt für das Theater – aber sie möchte nicht Schauspielerin werden, sondern Regie führen. Deshalb beschließt ihre Familie auf Anregung von Ninas Zwillingsbruder Carlo, dass Nina die provinzielle Uckermark verlassen und in das quirlige Berlin ziehen sollte, nur dort könne sich ihr Traum erfüllen.
Aber das ist 1921 ein ziemlich zweischneidiges Schwert: größter Reichtum und bitterste Armut liegen ganz dicht beieinander. Und für Nina besonders bitter: an den Schalthebeln der (Theater-) Macht agieren Männer, die kaum jemand in ihren illustren Kreis hineinlassen wollen, schon gar nicht eine Frau und noch weniger: eine junge Frau ohne Erfahrung!
Die Ersparnisse ihrer Familie sind schnell verbraucht, aber Nina steht immer wieder wie „Phoenix aus der Asche“ auf und erfindet sich selbst neu, obwohl sie wiederholt – nein, eigentlich ist es die Regel – mit hungrigem Magen schlafen gehen muss…
Unterstützt wird sie dabei von Jenny, einer ehemaligen Tänzerin des Bolschoi-Balletts, die in einer Gastwirtschaft als „Schlangenfrau“ auftritt, um sich, ihren Lebensgefährten und ihren Sohn das Überleben mehr schlecht als recht zu sichern. Sonia, eine begabte junge Zeichnerin gehört ebenfalls zum Trio, aber auch sie eine „Hungerkünstlerin“. Die drei jungen Frauen machen sich auf, den „Wintergarten“ zu erobern…aber der Weg ist lang, steinig und dornenreich. Auch Anton möchte Nina unterstützen, aber das lässt sie lange Zeit nicht zu, sie will ihren Weg aus eigener Kraft schaffen.
Ob ein Engagement im Wintergarten zustande kommt? Das wird hier nicht verraten…
Der Schreibstil ist locker, flüssig und flott, wie ich es von Charlotte Roth gewohnt bin, man ist schnell Teil der Geschichte und leidet bei den Misserfolgen mit. Die Abschnitte / Kapitel sind mit dem jeweiligen Namen überschrieben, aus deren Sicht gerade erzählt wird. Die Personen sind authentisch und nachvollziehbar beschrieben, auch de „Nebendarsteller“ lernt man gut kennen (meine absolute Lieblingsfigur ist Oma Hulda) und denkt fast, man sei mit ihnen befreundet.
Es gefiel mir sehr gut, dass die Autorin immer „nebenbei“ wahre politische Ereignisse in die Handlung einarbeitet, so kann man viel besser verstehen, welche Auswirkungen die „große“ Politik auf die „kleinen“ Menschen hat.
Trotz der rasanten Ereignisse im Großen und im Kleinen habe ich dieses Buch eher als „langsam“ empfunden. Sicherlich ist dies der Voraussetzung einer Trilogie geschuldet, da haben die Autoren die Muße, ihre Protagonisten ausführlich vorzustellen – an manchen Stellen hätte ich mir persönlich jedoch mehr Zügigkeit gewünscht. Gewiss, dies ist „Jammern auf hohem Niveau“, denn natürlich habe ich das Buch gern gelesen, es hat mir wunderbare Lesestunden bereitet und ich bin ganz neugierig, wie es mit den „Wintergarten-Frauen“ weitergeht!

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Veröffentlicht am 14.11.2022

Im Jahr 2000 wiederentdeckte Feldpostbriefe - hat es Konsequenzen?

Feldpost
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Ich habe schon mehrere Romane von Mechtild Borrmann gelesen und war jedes Mal beeindruckt und berührt, ihre Bücher regen zum Nachdenken an und „hallen“ noch lange nach. So ging es mir auch mit „Feldpost“.
Aber ...

Ich habe schon mehrere Romane von Mechtild Borrmann gelesen und war jedes Mal beeindruckt und berührt, ihre Bücher regen zum Nachdenken an und „hallen“ noch lange nach. So ging es mir auch mit „Feldpost“.
Aber wie soll man etwas über ein Buch schreiben, dass einige überraschende Wendungen enthält, die keineswegs verraten werden sollten?
Also zitiere ich die Autorin selbst mit ihren letzten Sätzen des Prologs: „Beginnen wir also im Jahr 2000, genauer, im Dezember 2000 in Kassel. Beginnen wir mit dem Anfang vom Ende.“ (S.8):
Die junge Anwältin Cara erhält in einem Café ein ungewöhnliches Geschenk: eine ihr unbekannte ältere Frau lässt nach einem kurzen Gespräch bei ihr am Tisch eine Tasche stehen. Die herbeigerufene Bedienung erklärt, dass die Dame gesagt habe, dass Cara die Tasche mitnehmen solle. Die Tasche enthält einen Aktenkoffer mit etlichen Feldpostbriefen, einigen Fotos und den Vertrag eines Hauskaufes aus dem Jahr 1937. Die Briefe sind alle an Adele Kühn adressiert und stellen sich als Liebesbriefe heraus.
Cara beginnt zu recherchieren...und bald hat sie den Absender der Briefe ausfindig gemacht...
Protagonisten sind zwei befreundete Familien: die Kuhns mit ihren Kinder Albert und Adele, Familie Martens mit Richard und Dietlind. Richard Martens ist der Absender der Briefe.
In verschiedenen Handlungssträngen lernen wir die Familien, besonders Adele, Albert und Richard kennen, mehrheitlich Adele und Richard, aber auch die Eltern Kuhn, Katharina und Gerhard. Die Kapitel sind mit dem Namen und Jahreszahl überschrieben und schildern die Sichtweise /Blickwinkel des jeweils Betroffenen. Wir beginnen im Jahr 1935 und begleiten sie bis nach Kriegsende 1945.
Das Buch hatte eine enorme Sogwirkung auf mich, einmal angefangen, konnte ich es kaum aus der Hand legen, zwei Nächte habe ich viel zu lange gelesen!
In kurzen, einfachen und knappen Sätzen versteht es die Autorin viel von Stimmungen, Eindrücken und Emotionen wiederzugeben, so dass sofort alles für mich sehr lebendig war und das „Kopfkino“ beginnen konnte. In einer sehr angstbesetzten Kontrollsituation lesen wir z.B.: „Die Minuten dehnten sich, vagabundierten durch den Zug, ließen sich Zeit.“ (S. 208) Aber das Buch hat auch viel an Spannung zu bieten, an einigen Stellen drängen sich Fragen auf, die nicht sofort beantwortet werden – tja, da hilft nur: weiterlesen! Aber ich kann beruhigen: am Ende ist kein Faden mehr lose, alles gut verschnürt.
Nein, es ist keineswegs ein „Wohlfühl-Buch“ (aber wer Frau Borrmann kennt, erwartet dies auch nicht!), es ist bedrückend, erschreckend – aber meisterhaft geschrieben. Es ist ein realistischer Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und die damit verbundene menschenverachtende Willkür. Aber man entdeckt auch „stille Helden“, Menschen, die anderen geholfen haben.
Ich finde, mit diesem Buch ist Mechtild Borrmann mal wieder ein ganz großer literarischer „Wurf“ gelungen, dieses Buch kann ich ohne irgendeine Einschränkung allen geschichtsinteressierten LeserInnen wärmstens empfehlen

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