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Anna625

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.02.2021

Der Sommer einer Jugend

Hard Land
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Sam hat über den Sommer einen Job im Kino angenommen. Er ist 15 Jahre alt, eher der ruhige Außenseiter und möchte für einige Wochen den Sorgen entkommen, die zuhause auf ihn warten, denn seine Mutter ist ...

Sam hat über den Sommer einen Job im Kino angenommen. Er ist 15 Jahre alt, eher der ruhige Außenseiter und möchte für einige Wochen den Sorgen entkommen, die zuhause auf ihn warten, denn seine Mutter ist schwerkrank. Und in diesem einen Sommer 1985 wird alles anders, als es zuvor je war. Bald schon freundet er sich mit seinen etwas älteren Arbeitskollegen an und verliebt sich zum ersten Mal. Sam macht in diesem Sommer viele wertvolle Erfahrungen und entdeckt die Welt um sich herum ganz neu, er bekommt die Chance endlich ein fast normales Teenager-Leben zu führen und wird dabei gleichzeitig ein Stück erwachsener.

Mein erstes Buch von Benedict Wells hat mich gleich auf den ersten Seiten in seinen Bann gezogen. Sam als Protagonist war mir sehr nahe, ich konnte mich stets gut in ihn hineinfühlen und finde zudem, dass er im Laufe des Buches eine großartige Entwicklung durchmacht. Auch die anderen Figuren, besonders Sams Arbeitskollegen, aber auch beispielsweise sein Vater sind alle sehr individuell skizziert und schön und authentisch ausgearbeitet.

Die Atmosphäre des Buches hat mir sehr gut gefallen, dieses Gefühl eines vergangenen Jahrzehnts, das da beim Lesen aufkommt, wird sehr greifbar.

Das Buch lässt sich toll lesen, der Schreibstil schwankt ebenso wie Sams Gefühlleben zwischen euphorisch und melancholisch. "Euphancholisch" eben.

Fazit: Eine wunderschöne, überzeugende Coming-of-Age-Geschichte mit sehr schöner Atmosphäre. Sicher nicht mein letzter Wells!

Veröffentlicht am 22.02.2021

... Nein. Einfach Nein.

Zwischen Du und Ich
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Achtung, enthält Spoiler!

Nike ist Jüdin. Als sich durch ihren Beruf bedingt die Möglichkeit ergibt, für ein Jahr nach Tel Aviv zu gehen, nutzt sie diese Chance, um dort Alija (also Einbürgerung) zu machen, ...

Achtung, enthält Spoiler!

Nike ist Jüdin. Als sich durch ihren Beruf bedingt die Möglichkeit ergibt, für ein Jahr nach Tel Aviv zu gehen, nutzt sie diese Chance, um dort Alija (also Einbürgerung) zu machen, und nebenbei mehr über die Geschichte ihrer Familie zu erfahren. Noam hingegen lebt in Tel Aviv und verfasst Kolumnen für eine Zeitung, bis einer seiner Texte nicht gedruckt werden soll und er sich mit seinem Vorgesetzten überwirft.


Was vielversprechend klingt und auch so beginnt, wird leider schnell zur herben Enttäuschung. Die Kapitel aus Nikes Sicht haben mir anfangs noch sehr gut gefallen, während die junge Frau den schwierigen Entschluss fasst, für ein Jahr alles hinter sich zu lassen und sich um die Papiere und eine Wohnung in Tel Aviv kümmert. Noam dagegen war mir von den ersten Seiten an unsympathisch, und das hat sich auch leider nicht mehr verbessert, eher im Gegenteil. Für ihn dreht sich alles um Sex und lockere Beziehungen, die Frau wird zum Objekt degradiert. Mit dem Aufeinenadertreffen der beiden Protagonisten (dass es dazu kommen muss, war ja von Anfang an offensichtlich) lässt dann auch Nikes Handlungsstrang stark nach. Es geht nun eigentlich kaum mehr ums Jüdisch-Sein, das rückt beinahe komplett in den Hintergrund.

Noam scheint sich nach dem Verlust seines Jobs weiterhin für nichts anderes als Bettgeschichten zu interessieren, und so wird er auch schnell auf Nike aufmerksam. Was dann folgt ist irgendwie unheimlich: auf einem öffentlichen Platz dicht an ihr vorbeigehen, um ihren Duft zu erhaschen, und ausgiebig das Instagram-Profil stalken zum Beispiel. Irgendwann schreibt er sie an, und wo bei mir als Frau allein in einem fremden Land alle Alarmglocken schrillen würden, beschließt Nike, sich mit ihm zu treffen. Und, Achtung, Spoiler, die beiden sind dann auch direkt mehr oder weniger zusammen, und Noam zieht halb bei ihr ein. Dass das alles nicht nur sehr leichtsinnig, sondern auch extrem unglaubwürdig ist, braucht eigentlich nicht mehr erwähnt zu werden. Der Rechtfertigungsversuch, der irgendwo im Laufe des Buches mittels Rückblick auf seine Kindheit unternommen wird, um Noams Verhalten zu erklären, ist zwar dramatisch, entschuldigt sein riesiges Ego, seine Grobheit und seinen Sexismus aber keineswegs. Eher liegt das in der Familie, denn auch Noams Onkel Asher scheint regelmäßig etwas mit diversen Frauen am Laufen zu haben und ist zudem sehr aufbrausend und gewaltbereit.

Das Ende des Buches lässt mich ratlos zurück, ich verstehe weder, was genau da passiert ist (trotz mehrmaligen Lesens, es erschließt sich mir einfach nicht), noch, inwieweit das jetzt ein "Ende" sein soll. Es wirft nur Fragen auf, und nebenbei wird die gesamte bisherige Entwicklung auf wenigen Seiten zunichte gemacht.


Fazit: Wie vielleicht schon zu erahnen kam ich mit dem Buch wirklich überhaupt nicht zurecht. Vom Schreibstil her ist es okay, aber auch nichts Besonderes, das rettet also leider auch nichts mehr. Das Frauenbild, das hier entworfen wird, geht in meinen Augen gar nicht. Das eigentliche Thema, Judentum und der internationale Austausch zwischen Menschen verschiedener Herkunft und zwischen verschiedenen Kulturen, steht nur in den ersten paar Kapiteln im Vordergund und gerät dann komplett in Vergessenheit. Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt bis zum Ende durchgequält habe, obwohl ich am liebsten alle paar Seiten abgebrochen hätte. Für mich ein totaler Flop.

Veröffentlicht am 20.02.2021

Die kanadische Nacht ist lang

Die kanadische Nacht
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Als er den Anruf erhält, dass sein Vater im Sterben liegt, macht sich der Sohn auf den Weg nach Kanada, wo der Vater seit langer Zeit im selbstgewählten Exil lebt. Jahrzehntelang hatten sie über gelegentliche ...

Als er den Anruf erhält, dass sein Vater im Sterben liegt, macht sich der Sohn auf den Weg nach Kanada, wo der Vater seit langer Zeit im selbstgewählten Exil lebt. Jahrzehntelang hatten sie über gelegentliche Emails hinaus keinerlei Kontakt, und so haben sie sich mit der Zeit auseinandergelebt. Während der mehrstündugen Autofahrt vom Flughafen aus bis zum Krankenhaus denkt der Sohn zurück an sein Leben und an das seines Vaters, aber auch an das eines Dichters und einer Malerin, über die er kürzlich ein Buch verfasst hat. Dieses wird nun jedoch wahrscheinlich nicht veröffentlicht, und so erscheint die Arbeit der letzen zwei Jahre vergeblich.

Ich hatte meine Schwierigkeiten mit dem Buch. Es enthält zweifellos viele interessante Gedanken zu Themen wie Leben und Tod, die oft auch schön ausgeführt werden. Insbesondere Hölderlin hat es dem Autor wohl angetan, ich habe bald aufgehört mitzuzählen, wie oft Vergleiche zum Leben dieses Dichters gezogen werden, wie oft er zitiert oder auf seine Werke und seine Philosophie angespielt wird. Beinahe war mir das schon etwas zu viel, aber es bietet auf jeden Fall auch einen schönen Wiedererkennungseffekt, falls man sich schonmal mit Hölderlin beschäftigt hat.

Insbesondere die erste Hälfte des Buches hat sich für mich phasenweise extrem in die Länge gezogen und ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass noch etwas geschieht. Aber ein Großteil des Buches beschäftigt sich tatsächlich lediglich mit Rückblicken auf die Leben der drei Männer. Das des Vaters fand ich dabei noch am interessantesten; warum die Lebensgeschichte des Dichters, von dem das Buch des Sohnes handelt, nacherzählt wurde, hat sich mir nicht gänzlich erschlossen. In der zweiten Hälfte des Buches wurde es dann etwas besser, die Fahrt des Sohnes, die Reise zu seinem sterbenden Vater und auch zu sich selbst neigt sich dem Ende zu.

Fazit: Ich schätze die philosophischen Überlegungen, die der Sohn anstellt, während er durch die kanadische Nacht reist. Mir hatte das Buch aber zu viele Längen und ich hatte mir irgendwie mehr erhofft.

Veröffentlicht am 18.02.2021

Ich hätte mir etwas mehr Tiefe gewünscht

Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019
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Zwölf Schicksale, die sich zu einer großen Geschichte verbinden. Zwölf Frauen, alle haben afrikanische Wurzeln, und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Da wäre zum Beispiel Amma, die offen zu ...

Zwölf Schicksale, die sich zu einer großen Geschichte verbinden. Zwölf Frauen, alle haben afrikanische Wurzeln, und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Da wäre zum Beispiel Amma, die offen zu ihrer Homosexualität steht und diese nun auch in einem Theaterstück im London National Theater inszeniert; Megan, die zu Morgan wird; Penelope, die sich ein Leben lang gefragt hat, wer wohl ihre Eltern sind; Dominique, deren Partnerin sie ihrer persönlichen Freiheit beraubt. Die Art und Weise, wie es Evaristo gelingt, die Leben all dieser Figuren miteinander zu verknüpfen, ist faszinierend - die Tochter einer Frau ist zugleich die Schülerin der anderen, von dieser wiederum lassen sich die Fäden weiterverfolgen zu ihrer Mutter und ihrer Putzfrau, usw.

Jeder der Frauen ist ein Kapitel gewidmet, im Zentrum steht jeweils das, was sie ausmacht, das Problem, mit dem sie in ihrem Leben zu kämpfen hat, das, was sie von der Masse abhebt und zum Individuum macht. Oft haben die Frauen Erfahrung mit Diskriminierung gemacht, mit Ausgrenzung und Anfeindung aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Sexualität, ihrer Genderidentität. Und genau dies sind auch die Themen, die im Mittelpunk des Romans stehen. Es geht um Herkunft, Schwarz-Sein, Homosexualität, Zugehörigkeit und die Suche nach demjenigen, der man ist und als der man sich fühlt. Und zugleich geht es auch einfach um Geldsorgen, das Erwachsen-Werden und um Freunschaft. Kurz - es geht ums Leben.

Der Schreibstil ist dabei ein wirklich außergewöhnlicher. Bis auf Kommata wird vollständi auf Interpunktion verzichtet, stattdessen arbeitet Evaristo mit Zeilenumbrüchen und Absätzen, bei normalem Erzähltext ebenso wie bei wörtlicher Rede. Das mag am Anfang seltsam und vielleicht auch störend wirken, man gewöhnt sich jedoch schon nach wenigen Seiten daran und merkt es kaum mehr, auch den Lesefluss stört es nicht weiter. Manchmal eröffnet es im Gegenteil auch ganz neue Perspektiven auf einen Satz, wenn der Zeilenumbruch anders gesetzt wird, als man es vielleicht erwarten würde.

Meine Kritik besteht insbesondere darin, dass mich nicht alle Figuren gleichermaßen berühren konnten. Zwei oder drei haben mir sehr, sehr gut gefallen, die meisten anderen waren aber trotz der Undurchschnittlichkeit ihrer Leben und ihres Charakters eher durchschnittlich überzeugend. Ich denke, das Buch will einfach etwas zu viel. Es gibt zu viele Themen und zu viele Figuren für zu wenig Seiten. Denn ja, das Buch hat zwar über 500 Seiten, aber auf die einzelnen Frauen kommen dann im Schnitt gerademal etwa 40 Seiten, und das ist zu wenig, um ihnen wirklich gerechtwerden zu können. Zu oft, wenn ich mir noch etwas mehr Tiefe gewünscht hätte, hat das Buch kaum die Oberfläche durchdrungen. An einigen Stellen ergeben sich Längen, die man hätte aussparen können, um dafür an anderer Stelle einen detaillierteren Einblick zu geben.

Fazit: Das Buch ist durchaus interessant, es ist gut geschrieben, geschickt konstruiert und spricht viele wichtige Themen an. Mich konnte es dennoch nicht ganz überzeugen, ich hatte etwas mehr erwartet. Vielleicht hätte etwas weniger Breite und dafür mehr Tiefe dem Roman gutgetan.

Veröffentlicht am 17.02.2021

Nicht was man betrachtet ist wichtig, sondern was man sieht

Die Mitternachtsbibliothek
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In Noras Leben ist nichts mehr so, wie sie es mal wollte. Hinter ihr liegen zahlreiche Entscheidungen, die sie im Nachhinein bereut: etwa, dass sie das Schwimmen aufgegeben hat, obwohl sie großes Potenzial ...

In Noras Leben ist nichts mehr so, wie sie es mal wollte. Hinter ihr liegen zahlreiche Entscheidungen, die sie im Nachhinein bereut: etwa, dass sie das Schwimmen aufgegeben hat, obwohl sie großes Potenzial hatte. Oder, dass sie aus der Band ihres Bruders ausgetreten ist; dass sie doch nicht Gletscherforscherin geworden ist und dass sie eine Einladung zum Kaffeetrinken ausgeschlagen hat. Schon lange hat Nora mit Depressionen zu kämpfen. Als sie dann auch noch ihren Job verliert und ihr Kater stirbt, weiß Nora: Sie kann das nicht mehr. Sie beschließt, sich umzubringen, indem sie eine Überdosis Tabletten schluckt - und erwacht plötzlich in einer endlosen Bibliothek wieder. Dort trifft sie auf ihre ehemalige Schulbibliothekarin, die ihr eröffnet, jedes der Bücher berge ein alternatives Leben, ein Paralleluniversum, in dem Nora gelandet wäre, wenn sie einzelne Entscheidungen anders getroffen hätte. Nora hat nun die Möglichkeit, in diese Leben hineinzuschlüpfen, so lange, bis sie das Leben findet, das sie sich tief im Inneren wünscht.

Der Gedanke hinter dem Buch gefällt mir ausgesprochen gut - wer hat sich noch nie gefragt, was gewesen wäre, wenn man sich bei dieser einen Sache anders entschieden hätte? Ob man damit auf Dauer nicht glücklicher geworden wäre? Wie das das Leben beeinflusst hätte, wem man dann alles begegnet wäre und wem nicht, wo man dann wohl gerade wäre etc. Schon kleinste Entscheidungen können das Leben enorm beeinflussen. Wäre der Tag gleich verlaufen, wenn ich morgens 10 Minuten früher oder später aus dem Haus gegangen wäre? Wie spannend es wäre, all das herausfinden zu können!

Dennoch hat mich vor allem eines gestört: Nora bekommt zwar die Möglichkeit, einen Einblick in all diese Leben zu erhalten, aber oft sind es nur Kleinigkeiten, die am Ende dazu führen, dass sie sich gegen das jeweilige Leben entscheidet. Sobald sie auf etwas stößt, dass nicht perfekt ist, landet sie wieder in der Mitternachtsbibliothek. Muss denn wirklich alles perfekt sein, damit ein Leben "richtig" für uns ist? Kommt es wirklich darauf an, dass wir mit jedem noch so kleinen Aspekt vollkommen glücklich und zufrieden sind? Diese Botschaft hat mich dann doch ein wenig irritiert.

Gegen Ende des Buches geht dann auch plötzlich alles ganz schnell - die Ausführlichkeit, mit der Haig zuvor die verschiedenen Leben beschrieben hat, geht plötzlich verloren und es wirkt auf mich so, als habe er das Ganze nun möglichst schnell zu Ende bringen wollen. Es wird plötzlich hektisch und chaotisch und das Buch endet recht abrupt.

Aber ich will mich nicht nur beschweren, über weite Strecken hat mir das Buch trotz allem gut gefallen, es bietet auf jeden Fall viel Stoff zum Nachdenken. Da Nora in ihrem Ursprungsleben Philosophie studiert hat, finden auch einige Philosophen wie insbesondere Thoreau, aber auch Russell, Platon oder Aristoteles Eingang in die Geschichte. Das Buch lässt sich sehr angenehm und zügig lesen und ist trotz der zugrundeliegenden Thematik Depression und Selbstmord sehr humorvoll geschrieben.

Insgesamt ein schönes Buch, das mich aber nicht vollkommen überzeugen konnte.