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Veröffentlicht am 27.11.2022

Jede Menge Bücherliebe

Die Bücher, der Junge und die Nacht
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Leipzig, 1933: Buchbinder Jakob Steinfeld verliebt sich in die geheimnisvolle Juli, die hofft, bei ihm ein Manuskript binden lassen zu können. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse, und Juli verschwindet.
Leipzig, ...

Leipzig, 1933: Buchbinder Jakob Steinfeld verliebt sich in die geheimnisvolle Juli, die hofft, bei ihm ein Manuskript binden lassen zu können. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse, und Juli verschwindet.
Leipzig, 1943: Der Krieg ist in vollem Gange, als ein mysteriöser Fremder einen kleinen Jungen und ein Buch aus den brennenden Ruinen eines Hauses rettet. Der Junge wird ihn von nun an begleiten, und gemeinsam werden sie Jagd auf viele weitere Bücher machen.
Leipzig, 1970er: Robert Steinfeld, der Sohn Jakobs und ebenfalls ein großer Bücherfreund, begleitet eine Kollegin, die die Bibliothek der alten Verlegerfamilie Pallandt auflösen soll. Dabei finden sie Bücher, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.

Die Geschichte um die beiden Familien Steinfeld und Pallandt vereint jede Menge Bibliophilie, den Untergang des Graphischen Viertels während der Bombenangriffe im Dezember 1943 und die großartig erzählte Suche nach den Geheimnissen der Vergangenheit in sich. Wie immer ist es Meyer dabei ganz wunderbar gelungen, die beschriebenen Szenen in all ihren Details vor meinem inneren Auge auferstehen zu lassen. Die drei Zeitebenen ergänzen sich perfekt und erzeugen einen Spannungsbogen, der den ganzen Roman über aufrechterhalten wird. Die Figuren sind sympathisch und erlauben es sehr schnell, mit ihnen mitzufiebern, während im Hintergrund Krieg und Nationansozialismus schwelen. Das Besondere an Meyers Romanen ist für mich, dass sich in ihnen immer ein Hauch Phantastik verbirgt, dass sie bestens ohne großen Kitsch auskommen und nach spannenden Lesestunden, wenn man mühsam wieder aus ihnen auftaucht, zufrieden zurücklassen.

Große Leseempfehlung für alle Meyer-Fans und solche, die es noch werden wollen!

Veröffentlicht am 30.10.2022

Kolonialgeschichte meets Feminismus

Die Meerjungfrau von Black Conch
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Als David im Jahr 1976 in seinem Fischerboot vor der Küste der karibischen Insel Black Conch sitzt und plötzlich eine Meerfrau aus den Wellen auftaucht, um seinem Gitarrenspiel zu lauschen, kann er seinen ...

Als David im Jahr 1976 in seinem Fischerboot vor der Küste der karibischen Insel Black Conch sitzt und plötzlich eine Meerfrau aus den Wellen auftaucht, um seinem Gitarrenspiel zu lauschen, kann er seinen Augen zunächst kaum glauben. Dass es Wassermänner gibt, davon erzählen die alten Legenden und Sagen; aber Meerfrauen? In den folgenden Wochen und Monaten entspinnt sich eine zarte Freundschaft zwischen den beiden, doch dann findet in der Gegend ein großer Angelwettbewerb statt und Aycayia, die Meerfrau, vor Jahrhunderten von den Frauen ihres Dorfes verflucht und seitdem zu einem Leben halb als Mensch, halb als Fisch verdammt, gerät zwei Amerikanern an den Haken. Und sie, die seit Urzeiten Gefangene, wird machtlos von einer Knechtschaft in die nächste gezwungen.

Roh, holprig, dialektal geprägt, das ist die Sprache des Romans. Angelehnt an den Slang der Einheimischen ist der Schreibstil gerade anfangs eine Herausforderung für sich, stoßen sich die ständigen Wortwiederholungen und ungewohnten Begrifflichkeiten teilweise doch sehr mit unserer Standardsprache. Und doch trägt diese Übersetzung der dialektalen Sprache, so irritierend sie manchmal sein mag, wesentlich zur Atmosphäre des Romans bei und unterstreicht wie nebenbei die lange Liste an Kontrasten, die Monique Roffey in ihrem Roman aufzeigt. Denn der Roman ist ein ständiges Spiel der Gegensätze: Frau und Fisch (Mensch und Tier), Black-Conch-Englisch und Standardenglisch, das indigene Volk der Taíno und die Kolonialisten, Eingeborene und US-Touristen, Mythen und Realität. Und inmitten alldessen Aycayia, die einst ob ihrer Schönheit und verführenden Wirkung auf Männer von Frauen verflucht wurde, nur so den Grausamkeiten der Kolonialmächte entkam und sich nun, Jahrhunderte später, in der Badewanne eines Fischers wiederfindet.

Ihre Geschichte ist die einer jungen Frau auf der Suche nach Selbstbestimmung, eine Geschichte von Einsamkeit, vom Fremd-Sein und vom Nirgendwo-Hingehören. Eng verknüpft mit der Erinnerung an die tiefen Wunden, die einst der Kolonialismus Land und Leuten zugefügt hat, wird "Die Meerjungfrau von Black Conch" so zu einem Roman, der vor einer magisch anmutenden Kulisse und doch voller Ernst längst vergangene und zugleich bis heute nachwirkende Zeiten wachruft. Eine große Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 04.10.2022

Nimmt mit vom Anfang bis zum Ende

Verbrenn all meine Briefe
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Aex Schulmans erster Roman war ein Jahreshighlight für mich. Klar also, dass auch "Verbrenn all meine Briefe" hier einziehen musste - und das hat sich gelohnt.

In seinem Roman rekonstruiert der Autor ...

Aex Schulmans erster Roman war ein Jahreshighlight für mich. Klar also, dass auch "Verbrenn all meine Briefe" hier einziehen musste - und das hat sich gelohnt.

In seinem Roman rekonstruiert der Autor die Geschichte seiner Großmutter Karin, die mit Anfang 20 den seinerzeit erfolgreichen schwedischen Schriftsteller Sven Stolpe heiratet. Das, was sie anfänglich für bloße Exzentrik gehalten hat, wird bald zu extremer Reizbarkeit, Kontrollzwang und Unterdrückung, sodass Karin stets auf der Hut sein muss vor den Unberechenbarkeiten ihres eigenen Mannes. Kein Wunder, dass sich die zarten Gefühle, die sie dann mit 24 für einen anderen Mann entwickelt, wie der langersehnte Ausweg anfühlen. Der Roman berichtet von den Ereignissen, die sich 1932, dem Jahr des Kennenlernens von Karin und Olof, abspielten.

Die Tyrannei Svens und sein hohes physisches und psychisches Gewaltpotenzial sind dabei ständig spürbar, Karins zunehmende Verzweiflung und Angst davor, bei ihrem Mann zu bleiben, aber auch davor, was er tun wird, sollte er je hinter die geheime Beziehung kommen oder sollte sie ihn gar verlassen. Ihre Zerissenheit zwischen dieser Angst und der Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben, auf ein Entkommen hin zu einem Mann, der sie so viel besser behandelt, der auf und an ihrer Seite steht - all das wird im Roman unglaublich greifbar und geht gleich nochmal viel näher, wenn man sich bewusst macht, dass das nicht nur fiktiv und vom Autor erfunden, sondern seine ganz persönliche Familiengeschichte ist.

Der Roman ist keine leichte Kost und dessen sollte sich jede*r vor der Lektüre bewusst sein. Karins Geschichte geht nahe und nimmt mit, weil man sich die ganze Zeit über nichts sehnlicher für sie wünscht, als endlich aus dieser toxischen Beziehung und der explosiven Dreieckskonstellation entkommen zu können.
Für mich ist "Verbrenn all meine Briefe" ein Roman von überraschender Intensität und Tiefgründigkeit, den ich regelrecht verschlungen habe. Er ist hart, lohnt sich aber wirklich.

Veröffentlicht am 17.09.2022

Ein Roman, der nachhallt

Die Kriegerin
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"Die Kriegerin" hat etwas, dem ich mich beim Lesen kaum mehr entziehen konnte (und das, offen gesagt, auch gar nicht wollte). Vielleicht sind es die Verletztheit und das langsame, vorsichtige Sich-Öffnen ...

"Die Kriegerin" hat etwas, dem ich mich beim Lesen kaum mehr entziehen konnte (und das, offen gesagt, auch gar nicht wollte). Vielleicht sind es die Verletztheit und das langsame, vorsichtige Sich-Öffnen der beiden Protagonistinnen, vielleicht die Schönheit der klaren Sprache, vielleicht das Gefühl, dass das alte Leben eigentlich doch nur ein Provisorium ist, ein Übergang, in dem man irgendwie steckengeblieben ist und sich jetzt fragt, warum eigentlich, und ob es da nicht noch mehr gibt, ob es da nicht noch Dinge zu entdecken gibt in den Weiten der Welt, am Ende vielleicht sogar sich selbst tief verborgen unter der alles erstickenden Decke der Vergangenheit, die erst Schicht um Schicht abgetragen werden muss wie die Kruste längst verschorfter Wunden, bevor darunter etwas Neues zum Vorschein kommen kann.

Als Lisbeth klar wird, dass sie die erdrückende Last der Mutterschaft und ihrer Neurodermitis nicht länger ertragen kann, flüchtet sie überstürzt an die Ostsee, den einzigen Ort, der ihr in ihrer Kindheit Linderung verschaffen konnte. Dort begegnet sie der Kriegerin, die sie vor Jahren während der Grundausbildung bei der Bundeswehr kennengelernt hat. Auch die Kriegerin ist auf der Flucht, doch wovor, das bleibt lange im Verborgenen. Klar ist, dass beide Frauen tief traumatisiert sind und schon vor langem einen Schutzpanzer umgelegt haben, und dass dieser inwischen so sehr Teil ihrer selbst geworden ist, dass er kaum mehr durchdrungen, geschweige denn abgestreift werden kann. Und obwohl dieser Panzer ihr Inneres vor der Außenwelt verbirgt, kann er die Frauen selbst nicht dauerhaft vor dem Einsturz des fragilen Konstrukts schützen, zu dem ihr Leben geworden ist.

Veröffentlicht am 16.09.2022

Große Erzählkunst

Schlangen im Garten
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Nach dem Tod von Johanne gerät die Welt ihres Mannes Adam und ihrer Kinder Steve, Linne und Micha aus den Fugen. Doch Zeit für Trauer gibt es kaum, hält man sich an die Regeln der Gesellschaft. Dass Familie ...

Nach dem Tod von Johanne gerät die Welt ihres Mannes Adam und ihrer Kinder Steve, Linne und Micha aus den Fugen. Doch Zeit für Trauer gibt es kaum, hält man sich an die Regeln der Gesellschaft. Dass Familie Mohn Johanne so schnell nicht vergessen und den Alltag wiederaufnehmen kann, weckt den Argwohn von Nachbarn und Traueramt - es besteht der Verdacht, dass die Trauer "verschleppt" wurde, wie eine Erkältung oder eine Grippe.

Wie schon Stefanie vor Schultes Debüt "Junge mit schwarzem Hahn" lebt auch ihr zweiter Roman von einer fantastischen, einnehmenden Sprache und ungewöhnlichen Bildern. So etwa ist es für Familie Mohn selbstverständlich, ungelesene und in Schnipsel gerissene Seiten aus Johannes Tagebüchern zum Abendessen zu verzehren, um der Verstorbenen nahe zu sein. Das ist ihr ganz eigener Umgang mit einer Trauer, die sich anfühlt wie ein riesiger Klumpen im Bauch und gegen die nichts anzukommen vermag.

Mit bemerkenwerter Präzision und Feinfühligkeit gelingt es der Autorin, Realität mit einer an Traumbilder erinnernden Phantastik zu verflechten. Eigensinnig und doch von verzaubernder Schönheit sowohl in Sprache als auch in zahlreichen der so entstehenden Szenen schafft sie einen Annäherungsversuch an die Themen Verlust und Trauer, der seinesgleichen sucht. Nicht alles daran ist immer nachvollziehbar und greifbar, aber das ist okay, denn auch die Trauer selbst ist etwas, was oftmals weit über unser Begreifen-Können hinausgeht.
"Schlangen im Garten" ist ungewöhnlich, ist bunt in seinen Bildern, poetisch in seiner Sprache. Es ist absurd und skurril und manchmal schwer zu durchdringen, aber es ist auch erfrischend in seiner Herangehensweise, einfühlsam und wärmend.
Ganz große Leseempfehlung!